Michael Goll: Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft und das NS-Erbe. Mit einem Vorwort von Marlis Tepe (= Beiträge zur Geschichte der GEW), Weinheim: Verlagsgruppe Beltz 2021, 420 S., ISBN 978-3-7799-6485-8, EUR 39,95
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Immer öfter lassen Ministerien, Unternehmen und Verbände ihre Geschichte aufarbeiten, nun auch die GEW: Im November 2016 beschloss der Hauptvorstand der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft "renommierte, unabhängige Historiker*innen" zur Erforschung der eigenen Vergangenheit zu engagieren. Die damalige Vorsitzende Marlis Tepe betonte in diesem Zusammenhang, "dass die Geschichte der GEW bis heute nicht systematisch aufgearbeitet worden ist" [1]. Der Auslöser für diese Initiative waren verschiedene interne Kontroversen - etwa über das Verhältnis des ersten Bundesvorsitzenden Max Traeger zum Nationalsozialismus, über die "Gleichschaltung" des Hamburger Lehrerverbands im Jahr 1933 und über die Unvereinbarkeitsbeschlüsse gegenüber Kommunistinnen und Kommunisten in den 1970er Jahren. GEW-Hauptvorstand und Hamburger Landesverband initiierten daraufhin vier kleinere Forschungsvorhaben zu besagten Themen, deren Ergebnisse mittlerweile alle in der Reihe "Beiträge zur Geschichte der GEW" veröffentlicht wurden [2].
Des Weiteren vergab der Hauptvorstand ein umfangreicheres, dreijähriges Forschungsprojekt an die Universität Leipzig, das der Historiker Jörn-Michael Goll unter der Leitung von Detlev Brunner durchführte. Nun liegt die Studie vor. Im Zentrum seiner Untersuchung steht der Umgang der GEW mit ihrem NS-Erbe. Anders als die Industriegewerkschaften gehörten deren Vorgängerorganisationen in der Weimarer Republik nur zum Teil der sozialistischen Arbeiterbewegung an. Oftmals handelte es sich um eher liberale oder konservative Berufsverbände. Sie alle wurden 1933 "gleichgeschaltet" und gingen schließlich in den Nationalsozialistischen Lehrerbund (NSLB) über. 97 Prozent der Lehrerinnen und Lehrer waren dort Mitglied, etwa dreißig Prozent gehörten auch der NSDAP an. "Wie gingen die nach 1945 neu gegründeten Bildungsgewerkschaften mit diesem 'Erbe' um? Welche Rolle spielte der Nationalsozialismus in den Debatten der GEW?" So beschreibt Tepe in ihrem Vorwort die Fragen, die die GEW dem Historiker mit auf dem Weg gab. "Stellte sie sich der Problematik, dass sich unter den eigenen Mitgliedern und Funktionären und Funktionärinnen ehemalige Nazis befanden, setzte sie sich gar für deren Rehabilitierung ein? Ab wann begann eine kritische Auseinandersetzung mit diesen Themen innerhalb der Gewerkschaft?" (7).
Zur Beantwortung dieser Fragen hat Goll sein Buch in drei Hauptkapitel unterteilt. Im ersten Teil wirft er einen Blick auf die Lehrerschaft in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus. Er zeichnet nach, wie die NS-Bewegung nach der Weltwirtschaftskrise auch unter Lehrkräften Zulauf erfuhr und wie sich die "Gleichschaltungsmaßnahmen" im Frühjahr 1933 auswirkten. Trotz des hohen Anteils von NSLB-Mitgliedern bezweifelt Goll, dass diese formalen Merkmale allein eine umfassende ideologische Nähe der Lehrerschaft zum neuen Regime belegen: "Ob die Lehrerschaft von dem 'revolutionären Pathos' wirklich ergriffen wurde", den die neuen Machthaber zur Schau stellten, "darf bezweifelt werden" (76). Entscheidend zur Beurteilung seien vielmehr die jeweils individuellen Motive. So verweist er auf Beweggründe wie die Angst, persönliche Nachteile zu erfahren oder gar die Anstellung zu verlieren. Der Beitritt zum NSLB habe für viele daher "nichts weiter als ein notwendiges Übel" dargestellt (97). Zudem geht Goll davon aus, dass die NS-Schulpolitik "auf viele Lehrkräfte letztlich enttäuschend gewirkt hat" (175). Dies habe aber keineswegs zu aktiver Opposition geführt. Vielmehr habe sich die große Mehrheit der Lehrkräfte passiv gegenüber dem NS-Staat verhalten, viele seien sogar begeisterte Anhänger geworden. "Nur die allerwenigsten Lehrer traten dem NS-Regime unmissverständlich entgegen, lehnten sich erkennbar auf und sahen sich aus eigenem Verantwortungs- und Schuldbewusstsein dazu veranlasst, persönliche Konsequenzen zu ziehen und aktiv zu handeln, auch wenn ihre eigene Existenz und die ihrer Familien dadurch bedroht sein konnten" (161). Mit den Porträts solcher Akteure schließt das Kapitel. Zu nennen sind hier etwa Fritz Ausländer und Adolf Reichwein, die ihre Widerstandstätigkeit mit dem Leben bezahlen mussten, oder der Linkssozialist Heinrich Rodenstein, der die NS-Zeit im Exil verbrachte und dort in Kontakt zur französischen Résistance stand.
Politisch unbelastete Pädagogen wie Rodenstein oder Fritz Thiele, der letzte Geschäftsführer des Deutschen Lehrervereins vor der "Gleichschaltung", stehen im Zentrum des zweiten Hauptkapitels, in dem Goll die Gründungsphase der GEW nachzeichnet. Schon wenige Monate nach Kriegsende hätten sie begonnen, organisatorische Fäden aus der Weimarer Zeit wiederaufzunehmen, Netzwerke zu reaktivieren und auf regionaler Ebene neue Strukturen aufzubauen. Goll bemerkt, "dass der Blick der Gründungsväter der späteren GEW in der Regel strikt nach vorne gerichtet war" (230). Die NS-Zeit habe für sie kaum eine Rolle gespielt - im Gegenteil: Aus den Protokollen und Berichten der ersten Versammlungen ließen sich Selbstkritik und Reflexion nur selten herauslesen. Vielmehr wurden "die 'dunklen Jahre' von 1933 bis 1945 auch sprachlich abstrahiert" (237). Nach Gründung der GEW verfolgte die Führungsriege dann den Anspruch, diese zur größten Lehrergewerkschaft Westdeutschlands zu entwickeln. Hierzu sei man auch bereit gewesen, nicht nur mit politisch schwer belasteten Lehrkräften zusammenzuarbeiten - sondern sich sogar für deren Rehabilitation einzusetzen, wie Goll exemplarisch anhand des Verbands badischer Lehrer und Lehrerinnen aufzeigt. Dieser ambivalente Umgang mit dem NS-Erbe wird auch in den Bemühungen der GEW deutlich, Vermögen und Sachwerte aus der Weimarer Zeit zurückzuerlangen. Dies geschah durchaus auch in Fällen, "die aus heutiger Sicht moralisch und/oder juristisch zweifelhaft erscheinen" (291) - etwa, weil es sich um Immobilien handelte, die der NSLB nach 1933 erworben oder errichtet hatte.
Bis in die 1970er Jahre reicht schließlich der dritte Abschnitt von Golls Buch. Hier zeigt er auf, dass es einige Zeit dauerte, bis sich die GEW zaghaft in den gesellschaftlichen Diskurs um die NS-Zeit einschaltete. Als Wegmarken bezeichnet er etwa das Engagement Georg Eckerts für eine Reform des Geschichtsunterrichts und Heinrich Rodensteins Bemühungen, Beziehungen zur israelischen Lehrergewerkschaft aufzubauen. Doch selbst die 68er-Protestbewegung und der zeitgleich stattfindende Generationenwandel innerhalb der Bildungsgewerkschaft hätten "keinen radikalen Kurswechsel im Umgang mit der NS-Vergangenheit" bewirkt. Man müsse eher von "evolutionären Anpassungsprozessen" sprechen (378). Eine umfassendere und selbstkritische Auseinandersetzung hätte erst in jenen Jahren eingesetzt, in der "Achtundsechziger" wie Dieter Wunder in die Führungsebene der GEW wechselten - und damit zu einer Zeit, die Golls Studie leider nicht mehr abdeckt. Völlig zurecht verweist er darauf, dass eine Untersuchung lohnend erscheint, "wie sich der Umgang der GEW mit ihrem NS-Erbe in jüngerer Zeit weiterentwickelt hat" (388).
Wenn es an Golls Buch etwas zu kritisieren gibt, dann die Tatsache, dass sich der Autor sehr lange mit der Vorgeschichte aufhält - also mit der Weimarer Republik, der NS-Zeit und den anschließenden Entnazifizierungsverfahren. Zweifellos ist diese Zeit wichtig zum Verständnis, auch ist dieser erste Teil des Buches überaus informiert geschrieben und liest sich gut. Doch basiert er weitestgehend auf der Sekundärliteratur. Der quellengesättigte Teil, der sich mit dem NS-Erbe beschäftigt und für den der Autor die Bestände der GEW im Archiv der sozialen Demokratie in Bonn ausgewertet hat, beginnt hingegen recht spät. So widmet sich Goll erst nach etwa 220 Seiten (von ca. 390 Seiten Textkorpus) der Gründung der GEW.
Doch das soll nicht darüber hinwegtäuschen, dass Jörn-Michael Goll insgesamt einen fundierten Überblick über das Verhältnis der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft zur nationalsozialistischen Vergangenheit verfasst hat. Er stellt die komplexen und widersprüchlichen Entwicklungen gut und differenziert dar. Ferner argumentiert er abgewogen, verweist auf regionale Unterschiede und lässt sich nicht zu unzulässigen Pauschalisierungen hinreißen. Gerade angesichts der Hitzigkeit, mit der innerhalb der GEW über die NS-Geschichte diskutiert wird, ist sein unaufgeregter Ton mehr als wohltuend.
Anmerkungen:
[1] GEW arbeitet ihre Geschichte auf, 15.11.2016; www.gew.de/aktuelles/detailseite/neuigkeiten/gew-arbeitet-ihre-geschichte-auf/ [08.07.2021].
[2] Vgl. Hans-Peter de Lorent: Max Traeger. Biografie des ersten Vorsitzenden der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (1887-1960), Weinheim 2017; Marcel Bois: Volksschullehrer zwischen Anpassung und Opposition. Die "Gleichschaltung" der Gesellschaft der Freunde des vaterländischen Schul- und Erziehungswesens in Hamburg (1933-1937), Weinheim 2020; Alexandra Jaeger: Abgrenzungen und Ausschlüsse. Die Unvereinbarkeitsbeschlüsse in der GEW Hamburg in den 1970er Jahren, Weinheim 2020, und Marcel Bois: Von den Grenzen der Toleranz. Die Unvereinbarkeitsbeschlüsse der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft gegen Kommunistinnen und Kommunisten in den eigenen Reihen (1974-1980), Weinheim 2021. De Lorents Trager-Biografie heizte die Kontroverse innerhalb der GEW aber nur noch an, kurz darauf erschien als Erwiderung: Micha Brumlik / Benjamin Ortmeyer (Hgg.): Max Traeger - kein Vorbild. Person, Funktion und Handeln im NS-Lehrerbund und die Geschichte der GEW, Weinheim 2017.
Marcel Bois