Eric Weiß: Gewerkschaftsarbeit im Vereinigungsprozess. Die Industriegewerkschaft Chemie-Papier-Keramik in der Transformationszeit 1990-1994 (= Schriftenreihe der Johannes-Sassenbach-Gesellschaft; Bd. 6), Berlin: BeBra Verlag 2018, 96 S., 15 s/w-Abb., ISBN 978-3-95410-227-3, EUR 20,00
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Die deutsche und europäische Geschichte nach 1989/90 war lange Zeit eine Domäne der klassischen Politik- und Diplomatiegeschichte, in der große Staatsmänner die Geschichte schrieben. Die tiefgreifenden gesellschaftlichen Auswirkungen des Zusammenbruchs des Kommunismus und die Gestaltung des Übergangs blieben dagegen der sozialwissenschaftlichen Transformationsforschung vorbehalten. Erst in der jüngsten Zeit wagen sich auch Historikerinnen und Historiker, angeregt durch die Studien von Anselm Doering-Manteuffel und Lutz Raphael zur Phase "nach dem Boom" (1970-2000) sowie Philipp Ther zur Transformation des neoliberalen Europas, auf dieses Terrain vor.
Dadurch ergibt sich zugleich die Chance für die lange Zeit ein randständiges Dasein fristende Gewerkschaftsgeschichte, die den Blick auf einen zentralen gesellschaftlichen Akteur lenkt, der eine ganz wesentliche Rolle für die soziale Abfederung der Massenentlassungen infolge der rasanten De-Industrialisierung in Ostdeutschland spielte. Wie verorteten sich die Gewerkschaften im politischen Kräftefeld der Transformation? Wie nahmen sie die spezifischen Probleme Ostdeutschlands wahr und wie agierten sie in der von Verlustängsten und Strukturbrüchen geprägten ostdeutschen Region? Diese und weitere Fragen prägen die aktuellen Diskussionen um gewerkschaftliche Handlungs(spiel)räume nach 1989/90. Einen willkommenen Beitrag hierzu leistet das Buch von Eric Weiß, der sich mit der Industriegewerkschaft Chemie-Papier-Keramik (IG CPK) beschäftigt, die unter den DGB-Gewerkschaften häufig als konservativer Gegenpol zur IG Metall gilt. Leider versäumt es die Studie, dieses bislang unhinterfragt gebliebene Narrativ der Zeitgenossen zu dekonstruieren, vielmehr bestätigt Weiß dieses noch. Das hängt mit der Quellenbasis der Arbeit zusammen. Archivbestände werden nur partiell ausgewertet, dagegen werden Mitglieder- und Funktionärszeitschriften sowie der Pressedienst der Gewerkschaft ausgiebig zitiert. Warum der Autor auf die ebenfalls gedruckt vorliegenden Protokolle der Gewerkschaftskongresse und Geschäftsberichte verzichtet, ist allerdings unverständlich, zumal diese Quellen noch am ehesten Einblicke in innergewerkschaftliche Diskussionen und Konflikte gewähren, während die Zeitschriften und der Pressedienst stärker dem Ziel dienen, gewerkschaftliche Positionen von der Zentrale an die Basis sowie eine breitere Öffentlichkeit zu kommunizieren und die Einheitlichkeit des gewerkschaftlichen Handelns sicherzustellen.
Gleichwohl kann Eric Weiß der Verzicht auf umfangreiche Quellenrecherchen nicht angelastet werden. Einerseits wurden zentrale Bestände erst nach der Fertigstellung der Studie umfänglich erschlossen (z.B. die Akten der Treuhandanstalt im Bundesarchiv), andererseits basiert die Studie auf der Staatsexamensarbeit des Verfassers, für die zeitliche und materielle Ressourcen nur begrenzt zur Verfügung stehen. Es wäre allerdings hilfreich gewesen, wenn der Autor eine gründliche Quellenkritik vorgenommen hätte. Dies hätte auch seinen Blick dafür schärfen können, dass die von ihm benutzten Quellen im Wesentlichen die Position des westdeutschen Hauptvorstandes bzw. des Vorsitzenden Hermann Rappe widergeben, während innergewerkschaftliche Prozesse und ostdeutsche Akteure keine Berücksichtigung finden. Überdies hätte eine stärkere Berücksichtigung aktueller geschichtswissenschaftlicher Debatten über die Transformationszeit der Arbeit gutgetan, um diese im Forschungsfeld zu verorten. Stattdessen greift Weiß auf den zeitgenössischen engen Transformationsbegriff zurück, wie er sich aus Artikel 25 des Einigungsvertrages ergibt. Dieser bezieht sich ausschließlich auf die Umwandlung der ostdeutschen Wirtschaft und die dabei zentrale Rolle der Treuhandanstalt. Ein eigener Forschungsansatz wird nicht entwickelt. Insgesamt trägt das Buch damit letztlich eher dokumentarischen als analytischen Charakter.
Berücksichtigt man diese Einschränkungen, liest sich das Buch aber mit großem Gewinn, denn es bietet einen konzisen Überblick über wichtige gewerkschaftliche Handlungsfelder in den Jahren von 1990 bis 1994. In zwei nicht nummerierten Großkapiteln werden der Prozess der Vereinigung mit der ostdeutschen IG Chemie-Glas-Keramik, die Entwicklung der Tarifpolitik und die Beziehungen der IG CPK zur Treuhandanstalt dargestellt. Vorangestellt ist den Kapiteln neben der Einleitung ein knapper Überblick über die Geschichte der west- und ostdeutschen Chemiegewerkschaften. Abgerundet wird der Band durch ein 2018 geführtes Interview Rudolf Heims mit Hermann Rappe. Dass Weiß von den Deutungen Rappes kaum abweicht, überrascht angesichts seiner Materialgrundlage nicht. Sowohl Weiß als auch Rappe betonen die Bedeutung der in den 1970er Jahren zur Gewerkschaftsräson gewordenen strategischen Industriepolitik mit ihrem stark sozialpartnerschaftlich orientierten Ansatz. Zudem gehörte Rappe zu den ersten im Gewerkschaftslager, die sich noch 1989 offen für eine Wiedervereinigung zu westdeutschen Konditionen aussprachen und ihre Politik gegenüber der ostdeutschen Schwester-Gewerkschaft von Anfang an daran ausrichteten. Schon Mitte Januar 1990 eröffnete das erste Beratungsbüro der IG CPK in Leipzig. Trotz seines zur Schau gestellten Antikommunismus schuf Rappe zugleich Partizipationsmöglichkeiten für ostdeutsche Gewerkschaftsfunktionäre, solange diese von Stasi-Verstrickungen frei waren und sich deutlich von ihrer SED- und FDGB-Vergangenheit distanzierten. Ebenso zielgerichtet ging Rappe den Erhalt des mitteldeutschen Chemiedreiecks (Leuna-Buna-Bitterfeld) an, dessen Gelingen trotz des schmerzhaften Arbeitsplatzabbaus noch heute als großer Erfolg der IG CPK gilt. Dabei konnte sich Rappe nicht zuletzt auf seine guten Kontakte zu Bundeskanzler Helmut Kohl stützen. Der Industriepolitik untergeordnet wurde auch die Tarifpolitik, indem etwa vergleichsweise kurze Laufzeiten vereinbart und Angleichungsstufen sowie Kündigungsverbote ausgeschlossen wurden.
Die Ergebnisse der Bandes, die der Autor im Schlussteil zu einer weitgehenden Erfolgsgeschichte zusammenbindet, überraschen angesichts des verwendeten Quellenmaterials nicht; sie werden von Weiß aber erstmals konzise kompiliert und bieten damit sowohl eine nützliche Grundlagenlektüre als auch eine hervorragende Basis für tieferbohrende aktengestützte Forschungen. Ein Gespür für (westdeutsche) gewerkschaftliche (Erfolgs-)Narrative, die hier etwas zu unreflektiert fortgeschrieben werden, müssen die Leserinnen und Leser allerdings mitbringen.
Christian Rau