Sébastien Cazalas: Jean Juvénal des Ursins, prélat engagé (1388-1473). Étude des épîtres politiques (= Bibliothèque du XVe siècle; 85), Paris: Editions Honoré Champion 2020, 728 S., ISBN 978-2-7453-5409-9, EUR 85,00
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Anne-Brigitte Spitzbarth: Ambassades et ambassadeurs de Philippe le Bon, troisième duc Valois de Bourgogne (1419-1467), Turnhout: Brepols 2013
Anne Curry: Agincourt, Oxford: Oxford University Press 2015
Joanna Bellis: The Hundred Years War in Literature. 1337-1600, Woodbridge / Rochester, NY: Boydell & Brewer 2016
Nur den sich näher mit der Geschichte des 15. Jahrhunderts Beschäftigenden dürfte der Name Juvénal des Ursins geläufig sein, dann aber gleich mehrfach: Da ist einmal Jean II - von ihm handelt der anzuzeigende Band -, der, über Jahrzehnte Bischof von Beauvais, Laon und Erzbischof von Reims, als Exponent des parlamentarischen Gallikanismus und gleichsam nationalkirchliches Gewissen von König und Reich auf den Plan trat. Schon sein Vater war Parlamentspräsident in Poitiers und Toulouse gewesen; zu seiner zahlreichen, für die 'Société politique' der Zeit bedeutsamen Nachkommenschaft gehörten neben besagtem Jean II etwa die Brüder Jacques, gleichfalls Vorsteher (u.a.) von Reims und vielfach im Königsdienst tätig, sowie der seit 1445 als Kanzler amtierende Guillaume. Dessen Ernennung nahm Johann zum Anlass für einen Traktat, der mit seinen mahnend-adhortativen wie persuasiv-appellativen Grundtönungen als exemplarisch auch für seine sonstigen Schriften gelten kann.
Cazalas bezeichnet sie, dem Autor folgend, als 'épîtres' (18), doch hat sich dafür auch, so etwa nach dem Herausgeber Peter Shervey Lewis (1931-2014), der Begriff 'Écrits politiques' eingebürgert. Oft anlässlich von Stände- und Klerusversammlungen verfasst - sein letztes Werk schrieb der Achtzigjährige mit Blick auf die États généraux zu Tours (1468) - prangerten sie unverdrossen und unverblümt Miß- und Übelstände in Königreich und Kirche an, ohne dabei vor dem Hof und der Person des Monarchen Halt zu machen. Geschadet hat solcher Tadel Jean und dessen Familie offensichtlich nicht, trug er ihn doch 'systemimmanent' als hochrangiger Repräsentant seines Stands, der 'noblesse de robe' oder chevalerie ès lois (389), vor, an dessen unverbrüchlicher Loyalität zu König und gallikanischer Kirche kein Zweifel bestehen konnte: "Jean Juvénal est le grand écrivain ... des agents royaux, des commis de prince, des batisseurs de l'État. Ils sont pour lui une nouvelle forme de la chevalerie; il en formule la charte éthique et le code de conduite" (23).
Hier will also ein engagierter, lebenserfahrener Autor die Welt nicht mit dem Schwert, sondern der Feder durch seinen Aufruf zum viriliter age (345ff.) bessern. Der Nachweis, ob die Opera irgendwelche Wirkungen zeitigten, ist schwer zu führen, allein an der erfolgreichen Abwehr mehrfacher römischer Attacken auf die Magna Charta aller Gallikaner, die Pragmatische Sanktion von Bourges (1438), und aus seiner Zurückweisung jeglicher Ansprüche Englands an das Königreich dürfte Johann schon seinen Anteil gehabt haben, wie auch spätere Überlieferungen seiner Schriften bzw. Rekurse darauf verdeutlichen. Gesichert ist indes andererseits, dass er und sein Clan, wenn es um eigene Würden und Pfründen ging, sich ebenso wenig wie König und Hof um die von ihm selbst proklamierten Prinzipien scherten; das Geschacher etwa um die Kirchen von Laon und Reims 1444/49 spricht eine eindeutige Sprache.
Davon ist bei Cazalas weniger zu lesen, der durchgängig ein positives Bild seines 'Helden' zeichnet und darum auch scharfe Kritik an Lewis äußert, habe dieser doch Johanns Werk in Permanenz bemäkelt, abgewertet, ja ins Lächerliche gezogen und ihm obendrein jeglichen Einfluss abgesprochen (26; vgl. aber 156 "le meilleur connaisseur de l'êveque"). Zugegeben, Lewis' oft ironisch-distanzierte, eigenwillig-'englische' Diktion mag nicht jedermanns Sache sein, aber für alle mit dem Oeuvre Johanns Befassten hat er zumindest seine (auch von Cazalas anerkannte) Bedeutung als dessen Editor (Écrits politiques, t. I-III, 1978-1992). Und wer Vergnügen an launig-skurriler Wissenschaft mit Niveau hat, wird z.B. seine 'Essays in Later Medieval French History' (1985) mit Gewinn zur Kenntnis nehmen. Es hat ja auch seinen Grund, dass der Oxforder Gelehrte nicht zuletzt wegen seiner Studien zu Jean Juvénal, die durchaus die Mediokrität eines dafür den Realitäten umso näheren Bischofs deutlich aufzeigen, sich besten Rufs bei französischen Spätmittelalterspezialisten wie Philippe Contamine und Bernard Guenée erfreute, der 1977 zur französischen Fassung seines opus magnum 'Later Medieval France' (1968) ein sehr substanzielles Vorwort beisteuerte, und dass er von der Pariser 'Académie des Inscriptions et Belles-Lettres' als Mitglied assoziiert wurde.
Seine besagten zahlreichen Studien, aber auch die anderer Gelehrter wie Jacques Krynen, Albert Rigaudière oder Alain Demurger - letzterer noch 2020 mit einer kurzen biographischen Skizze der Familie im Ausstellungskatalog 'Troyes 1420. Un roi pour deux couronnes' - setzen obendrein ein Fragezeichen hinter Cazalas' Behauptung, Johanns Werk sei etwas in Vergessenheit geraten und bleibe wieder zu entdecken (9). Als Beispiel für die vom Verfasser zudem in der Regel unbeachtete nichtfrankophone Literatur sei nur e.g. auf deutsche Beiträge von Naegle und Paravicini (2015/16) und die Darstellung des Rezensenten im Rahmen seiner Monographie 'Die Franzosen, Frankreich und das Basler Konzil, 1431-1449' verwiesen (Bd. 1, 1990, 393-414). Wobei übrigens Basel für Johann wie für die Gallikaner insgesamt von besonderem Belang war, weil die für sie in der großen Tradition konziliarer Gesetzgebung stehenden Dekrete der Synode mit in die Pragmatique einflossen, die somit für sie im festen Grund autoritativen Kirchenrechts ruhte.
Abzuwarten bleibt die angekündigte, zum Zeitpunkt der Besprechung noch nicht erschienene Übersetzung der wohl Jean II Juvénal des Ursins zuzuschreibenden Chronique du règne de Charles VI durch Cazalas und Joël Blanchard, da deren Einleitung, wie es hier heißt, "nouveaux éléments quant à l'attribution du texte et à ses liens avec les Épîtres" enthalten soll (12). Gleiches gilt für einen Sammelband, den der Verfasser u.a. zusammen mit seiner französischen Literatur des Mittelalters lehrenden Doktormutter Florence Bouchet herausgibt: 'Le pouvoir des lettres sous le règne de Charles VII (1422-1461)' - ob darin die Schriften in den größeren Zusammenhang von Krise und Wiederaufstieg des sich unter Karl zur Königsnation formierenden Frankreich gestellt werden? (Schon hier wertet Cazalas sie als Beitrag zum 'roman national' [161, vgl. 657], was gewisse Zweifel an der These ihrer Wirkungslosigkeit weckt.)
Grundsätzlich aber bleibt zu betonen, dass der Autor mit seiner Arbeit, die auf einer 2016 verteidigten Toulouser Thèse beruht, vorrangig auf andere als die bislang erörterten Sachverhalte und insbesondere den letzterwähnten Punkt zielt. "La nécessité de restituer Jean Juvénal aux études littéraires" (20) steht vielmehr im Zentrum, d.h. "Notre approche se veut donc résolument littéraire" (23). So präsentiert er denn zunächst die vielen Quellen der Schriften und geht detailliert der extensiven wie auch akkumulativen Art und Weise ihrer Insertion in die Texte nach. En passant gelingen ihm dabei erstmalige Identifizierungen (z.B. 181); auffällig ist der häufige Rekurs auf den Policraticus des Johann von Salisbury und - wenig erstaunlich ob seines anti-englischen Impetus - auf den Traité contre les Anglais seines eine Generation zuvor wirkenden Landsmanns Jean de Montreuil (97f., 156ff.). Mit seiner Quellenaufbereitung will Jean Instrumente für gute Regierungsarbeit an die Hand geben; religiöse Intentionen spielen dabei, im Gegensatz etwa zu den politischen Predigten des ihm ansonst nahestehenden Theologen Jean Gerson, eine allenfalls sekundäre Rolle.
Kundig vergleicht Cazalas des Weiteren wichtige Stilmittel wie etwa allegorische Formen und Figuren, die sich ja auch bei anderen Autoren der Zeit etwa von Philippe de Mézières über Christine de Pizan bis hin zu eben Jean Gerson finden. Zwar kommen im bei weitem umfangreichsten zweiten und dritten Teil des über 700seitigen Werks unter den Leitthemen Ethik, Ökonomie und Politik zwangsläufig verstärkt auch historische Ereignisse zur Sprache, bei Jean jedoch nur, sofern sie einen nutzbringenden unmittelbaren Gegenwartsbezug haben. Primär geht es hier vielmehr um deren literarische Präsentation, um dabei anfallende Adaptationen rhetorischer Traditionen aus Antike und Mittelalter, um Metaphorik und Bilderwelten bei der Schilderung von Krieg, Elend, Steuerauspressung u.ä.m., jedoch auch unter positiven Vorzeichen wie etwa im Fall des als guter Gärtner den "jardin de France" bestellenden "roi régisseur, ordonnateur, administrateur" (391ff.). In der Politik - der 'corps politique' bietet Jean natürlich reichstes Material für seine bis in Alliterationen und Assonanzen hinein auf 'Flash'-Effekte bedachte Kunst bildhafter Formulierung - steht das Wort im Vordergrund, die "Parole qui, par l'imagination, reconstruit un royaume en ruines". Ob geschicktes Zitieren von Quellen oder positive Mythenkonstruktion, stets kommt es ihm auf das ymaginacion kreierende Wort an, durch das er eine "reformation de la France" initiieren will (662).
Solch literarischer Ansatz (der hier übrigens sprachlich-stilistisch sehr klar dargelegt wird, was heutzutage bei literaturwissenschaftlichen Arbeiten keineswegs mehr die Regel ist) trägt zweifellos zu vertieftem Verständnis von Struktur und Eigenheiten nicht nur seiner Schriften bei, wie ein Blick in den kurz zuvor erschienenen und in dieser Zeitschrift besprochenen Sammelband mit Beiträgen, u a. von Cazalas, zu Philippe de Mézières bestätigt [1]. Allerdings reicht der - vom Verfasser auch nicht intendierte - genuin geschichtliche Erkenntnisgewinn seines Buchs für den 'traditionellen' Allgemeinhistoriker kaum über den von Lewis und Kollegen gesetzten Standard hinaus.
Anmerkung:
[1] Joël Blanchard (éd.): Philippe de Mézières. Rhetorique et politique, Genf 2019 (= Cahiers d'Humanisme et Renaissance; 157). Rezension von Ralf Lützelschwab, in: sehepunkte 21 (2021), Nr. 3 [15.3.2021], URL: http://www.sehepunkte.de/2021/03/34518.html.
Heribert Müller