Sebastian Voigt (ed.): Since the Boom. Continuity and Change in the Western Industrialized World after 1970 (= German and European Studies), Toronto: University of Toronto Press 2021, VI + 272 S., ISBN 978-1-4875-0783-1, USD 75,00
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Kurz vor dem weltweiten Finanzcrash im September 2008, und damit zu einem Zeitpunkt als der jüngste Globalisierungsschub seinen Höhepunkt erreicht hatte, schlossen Anselm Doering-Manteuffel und Lutz Raphael ihre Arbeit an dem schmalen Buch "Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970" [1] ab. Ihr Anspruch, damit einen neuen konzeptionellen Rahmen für die zeitgeschichtliche Forschung zu liefern, löste eine breite Debatte innerhalb der deutschen Geschichtswissenschaft aus und regte umfangreiche empirische Studien an. [2]
Mehr als zehn Jahre später erscheint nun der von Sebastian Voigt herausgegebenen Sammelband "Since the Boom. Continuity and Change in the Western Industrialized World after 1970". Mit diesem Sammelband, der auf eine von dem Institut für Zeitgeschichte München-Berlin und dem Deutschen Historischen Institut Washington organisierte Tagung zurückgeht, die im Jahr 2016 in München stattfand, verfolgt Voigt ein doppeltes Ziel. Zum einen strebt er an, die im Hinblick auf Westeuropa und die Bundesrepublik entwickelten Überlegungen mit der in der US-amerikanischen Geschichtswissenschaft geführten Debatte über die Umbrüche der 1970er zu verknüpfen. Zum anderen beabsichtigt er, die Tragfähigkeit des konzeptionellen Rahmens für die westlichen Industriegesellschaften anhand von empirischen Fallstudien zu überprüfen, vor allem im Hinblick auf das Verhältnis von Kontinuität und Wandel.
In seiner Einleitung umreißt Voigt noch einmal die zentrale "Nach dem Boom"-Hypothese, ohne jedoch die Ergebnisse der nachfolgenden empirischen Studien zu berücksichtigen. Seit den 1970ern sei es zu grundlegenden sozioökonomischen Veränderungen gekommen, die sich als "sozialer Wandel von revolutionärer Qualität" sowie als "Strukturbruch" (8) fassen ließen. Maßgeblich seien drei voneinander unabhängige, sich jedoch wechselseitig verstärkenden Neuerungen: die durch den Mikrochip ermöglichte Digitalisierung der Arbeitswelt, die Ablösung der keynesianistischen durch die monetaristische Wirtschaftspolitik sowie die Entstehung eines durch individuelle Kreativität und unternehmerische Freiheit geprägten Menschenbildes. Zusammen hätten diese Neuerungen, nach einer längeren Übergangszeit, dem "digitalen Finanzmarkt-Kapitalismus" (6) zum Durchbruch verholfen.
Diesem konzeptionellen Ansatz stellt Voigt die Ergebnisse der US-amerikanischen Forschung gegenüber. Unter anderem setzt er sich mit Philip Jenkins' "Decade of Nightmares", Daniel T. Rodgers' "The Age of Fracture" sowie dem von Niall Ferguson und Charles S. Maier herausgegebenen Sammelband "The Shock of the Global" auseinander. [3] Zwar verweist Voigt darauf, dass auch für diese Untersuchungen die 1970er der Ausgangspunkt für weitreichende gesellschaftliche Veränderungen seien, vom Rückzug des Staates bis hin zum Aufkommen einer diffusen Angst. Einen übergreifenden theoretischen Rahmen erkennt er jedoch nicht.
Der doppelten Zielsetzung des Sammelbandes entsprechend umfasst der Hauptteil insgesamt neun empirische Fallstudien, die sich mit den historischen Veränderungen in den USA, Großbritannien, Frankreich, den Niederlanden und Westdeutschland auseinandersetzen. Jenseits der Vielzahl der behandelten Themen und der wenig aussagekräftigen Unterteilung in die Abschnitte "Ambiguities", "Adaptions" und "(Dis-)Continuities" (v-vi) lassen sich mit dem Wandel der Arbeitswelt und der Dekade der 1970er zwei thematische Schwerpunkte ausmachen.
Vor allem die eher mikrogeschichtlichen Zugänge erweisen sich als aufschlussreich, darunter der Artikel "The Clandestine Crisis: Migrant Labour in an Age of Deindustrialization" (103) von Michael Kozakowski. Gerade Arbeitsmigranten sei durch den Übergang von der Industrie- zur Dienstleistungsökonomie, der im Frankreich der 1970er einsetzte, der Zugang zu regulären Arbeitsverhältnissen erschwert worden. Hervorzuheben ist zudem der Beitrag "Decent Work in the Home? Household Workers and the Crisis of Social Reproduction since the 1970s" (78) von Eileen Boris, der sich den neuen Hierarchien zuwendet, die sich in den USA zwischen berufstätigen Frauen aus der weißen Mittelschicht und den von ihnen beschäftigten eingewanderten Haushaltshilfen herausbildeten. Weiterführend ist schließlich der Artikel "Crisis or Opportunity? Amway and an Unfamiliar Story of Economic Growth in the 1970s" (35) von Jessica Burch. Darin zeichnet sie nach, wie die sich im Zuge der allgemeinen Wirtschaftskrise ausbreitende Arbeitslosigkeit in den USA zu einem Boom der selbständigen Tätigkeit im Direktvertrieb führte.
Gemeinsam ist diesen drei Beiträgen, dass sie sich ausgehend von sozialen Randfiguren den in den 1970ern einsetzenden gesamtgesellschaftlichen Umbrüchen annähern. Vielversprechend wäre es gewesen, von hier aus den Bogen zu wesentlichen Merkmalen der neuen Arbeitswelt des frühen 21. Jahrhunderts zu spannen. Dass dies nicht in überzeugender Weise gelingt, hängt auch mit der zeitlichen Engführung auf die 1970er zusammen, die sowohl die Einleitung als auch die Mehrzahl der Beiträge bestimmt, und die zu einer Überbetonung der Kontinuitäten führt. Gerade hier fällt der Sammelband hinter den konzeptionellen Entwurf von Doering-Manteuffel und Raphael zurück. Gegenüber der älteren in Dekaden fortschreitenden Zeitgeschichtsschreibung strebten sie ausdrücklich eine "Problemgeschichte der Gegenwart" [4] an. Ausgehend von dem kurz zuvor erfolgten Durchbruch des "digitalen Finanzmarktkapitalismus" beabsichtigten sie, dessen Anfänge bis in die 1970er zurückzuverfolgen. Wieso ein Sammelband über die "Nach dem Boom"-Hypothese sein Hauptgewicht auf ein einzelnes Jahrzehnt legen sollte, erschließt sich deswegen nicht. Ob es einen "Strukturbruch" und einen "sozialen Wandel von revolutionärer Qualität" [5] gegeben hat, lässt sich erst beurteilen, wenn der gesamte zwischen 1970 und 2000 liegende Zeitraum in den Blick genommen wird.
Ein weiterer Kritikpunkt betrifft die räumliche Schwerpunktsetzung auf die "Western Industrialized World". Welche Bedeutung der Beziehung zwischen den USA und Westeuropa für die soziökonomischen Umbrüche zukommt, wird nicht näher ausgeführt. Auch die sprunghaft zunehmenden wirtschaftlichen Verflechtungen mit anderen Gegenden der Welt bleiben zumeist außerhalb des Blickfeldes. Zwar weist Andreas Wirsching in seinem Beitrag "Deindustrialization and the Globalization Discourse in France since 1980" (189) darauf hin, dass sich die Deindustrialisierung in Westeuropa zeitgleich mit einem Industrialisierungsschub in Asien vollzog. Doch wie diese Prozesse aufeinander bezogen waren, und welche langfristigen Folgen mit der Verlagerung der Industrieproduktion nach China, Indien und Südkorea verbunden sind, wird in dem Sammelband nicht weiter thematisiert.
Der letzte Einwand führt in das Erscheinungsjahr des Buches "Nach dem Boom" zurück. Gerade wenn an dem Anspruch einer Problemgeschichte der Gegenwart festgehalten wird, stellt sich die Frage, ob unsere heutige Gegenwart noch mit der des Sommers 2008 übereinstimmt. Angesichts der tiefen Krisen der letzten Jahre wäre es wünschenswert gewesen, wenn diese Frage zumindest aufgeworfen worden wäre.
Anmerkungen:
[1] Vgl. Anselm Doering-Manteuffel / Lutz Raphael: Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970, Göttingen 2008.
[2] Vgl. Lutz Raphael: Jenseits von Kohle und Stahl. Eine Gesellschaftsgeschichte Westeuropas nach dem Boom, Berlin 2019.
[3] Vgl. Philip Jenkins: Decade of Nightmares. The End of the Sixties and the Making of Eighties America, Oxford 2006; Daniel T. Rodgers: Age of Fracture, Cambridge 2011; Niall Ferguson / Charles S. Maier / Erez Manela / Daniel J. Sargent: The Shock of the Global. The 1970s in Perspective, Cambridge 2010.
[4] Doering-Mateuffel / Raphael, Nach dem Boom, 7.
[5] Ebd., 11.
Arndt Neumann