Christoph Kühberger (Hg.): Ethnographie und Geschichtsdidaktik (= Geschichte unterrichten), Frankfurt/M.: Wochenschau-Verlag 2021, 236 S., 14 s/w-Abb., ISBN 978-3-7344-1171-7, EUR 32,00
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"Ethnographie umgibt eine Aura von Fremdheit, Exotik und Abenteuer. Doch diese seltsam koloniale Romantik mit Tropenhelm und Schmetterlingskescher hat so gar nichts mehr mit der wissenschaftlichen Haltung zu tun, die ethnographische Untersuchungen im 21. Jahrhundert prägt." [1] So lauten die ersten beiden Sätze des hier rezensierten Bandes. Ist es gewöhnlich so, dass erste Sätze für das gesamte Werk prägend und vor allem für die Lesemotivation der Rezipientinnen und Rezipienten entscheidend sind [2], müssen die Lesenden irritiert stutzen. Der Herausgeber gibt mehrfach Fehldarstellungen des geschichtsdidaktischen Forschungsstandes wieder und unterstellt den Leserinnen und Lesern pauschal eine solche Naivität und Rückständigkeit, dass sich die Frage aufdrängt, ob dies einfach nur marktschreierische Verkaufsstrategie ist. Denn ethnographische Methoden (dichte Beschreibung, teilnehmende Beobachtung und so weiter) sind seit jeher in unterschiedlichen Fachdidaktiken (gerade bei empirischen Studien in Schulen) fest verankert und regelmäßig Herangehensweise in Dissertationsprojekten. [3] Störend ist darüber hinaus sowohl im Vorwort als auch im ersten Beitrag des Herausgebers die mangelnde Problematisierung und kritische Reflexion von als Kampfbegriff nutzbaren Worten wie 'Kultur' und Ähnliches. Immerhin, das vorweg, löst der Band sein Versprechen, einen "bunten Status-Quo von geschichtsdidaktisch orientierten ethnographischen Untersuchungen zu präsentieren" (8) ein und mit Fug und Recht kann behauptet werden: Viel Schönes dabei!
Besonders positiv hervorzuheben sind hier die innovativen und spannenden Beiträge von Patrick Mielke ("Ethnographische Erkundungen der diskursiven Handlungsmacht von Schülerinnen und Schülern im Geschichtsunterricht", 102-116) und Manuel Köster ("Explorative Feldbeobachtung als ethnographischer Zugang zu den historischen Orientierungen und Sinnbildungsprozessen von Live-Action Rollenspielenden", 161-179). Mielke, der selbst studierter Ethnologe und Kulturanthropologe ist, erkundete in seiner Dissertation, auf welcher der Aufsatz beruht, in 55 aufgezeichneten Geschichtsunterrichtsdoppelstunden, Einzel- und Gruppeninterviews sowie Feldnotizen, Beobachtungsprotokollen und Materialanalysen Deutungsmuster von Lernenden über die Rolle Deutschlands als Kolonialmacht. Als wäre dies und der empirische Beweis, dass in der Schule der deutsche Kolonialismus immer noch kleingeredet wird, noch nicht genug, liefert der Text immer wieder höchst anschauliche Interviewausschnitte, die nachvollziehbar, rassismuskritisch und differenziert interpretiert werden. Bei Manuel Köster sind zwar die Feldforschungen (also das Mitspielen des Autors auf einer solchen mittelalterlichen Convention) anschaulich und geben ein gutes Beispiel, wie Geschichtsdidaktikerinnen und Geschichtsdidaktiker sich mit ethnologischen Methoden dem Feld der Public History nähern können, besonders zielführend liest sich aber vor allem die finale Theoriediskussion, in der er Jörg van Nordens Konzept des 'entrückten Erzählens' nutzt (176) und damit herausarbeitet, welche anderen Funktionen (beispielsweise neben der Rüsenschen Orientierung) das historische Sinnbilden hier haben kann. "Urlaub vom Alltag" (176) durch ästhetische Dimensionen von Geschichtskultur, wie von Köster beschrieben, ist definitiv ein Ansatz, dem es sich lohnen würde, nachzugehen.
Neben den hier hervorgehobenen Beiträgen gibt es außerdem einige sehr zielführende Interpretationsleistungen in den Beiträgen von Katalin Eszter Morgan (zur Faktenverliebtheit von Lehrenden bei der Nutzung von Oral History zur Shoah) und Henning Hues (zur Überwältigung von Schülerinnen und Schülern im post-Apartheid Afrika durch Urteilsvorgaben durch Lehrende) auf die im Rahmen einer knappen Rezension nicht en détail eingegangen werden kann, die aber durchaus lesenswert sind.
Etwas aus dem Band fallend und von geringem Erkenntniswert für die Geschichtsdidaktik ist der Beitrag von Andrea Bramberger, was aber vor allem daran liegt, dass das hier vorgestellte Projekt einer Bildungsinitiative (Petrol) zu gender awareness ausführlich und sehr kunstpädagogisch- und psychotherapieaffin dargelegt wird und nur ein letzter kleiner Schlenker am Ende des Textes noch versucht, den Zusammenhang zur Geschichtsdidaktik herzustellen. Interdisziplinarität hat leider nicht immer einen Mehrwert.
Im Rahmen des bunten Angebots, das der Band machen will, fällt positiv auf, dass der Beitrag von Kristina Karl und Christoph Kühberger "Die Ritterburg im Kindergarten. Ethnographische Annäherungen an den Umgang mit einem geschichtskulturellen Produkt" (180-211) dem historischen Denken einmal nicht in schulischen Kontexten, sondern in einem Kindergarten nachgeht. Leider bleiben die Beobachtungen der Spielsituationen der Kinder - angeboten wurde eine Spielzeugritterburg mit Figuren und Zubehör (184) - auf teilweise sehr allgemeinpädagogischem oder psychologischem Niveau und werden zu wenig geschichtsdidaktisch rückgebunden (Spielrepertoire der Kinder, wer spielt mit wem, Gruppenbildungsprozesse und so weiter). Irritierenderweise werden en masse genderstereotype Aussagen getätigt, ohne dass sie angemessen kritisch reflektiert werden: "Mädchen spielen häufiger mit Prinzessinnen und stellen Familien (Vater-Mutter-Kind), Wohn- und Alltagssituationen nach [...]". "Die gleichaltrigen Buben konzentrieren sich hingegen stärker auf die Waffen und die Pferde. Die Buben inszenieren dabei häufiger Angriffe und Kämpfe" (205). Sollten diese Beobachtungen Teil einer größeren Studie sein (was der Umfang und der betriebene Aufwand nahelegen), wäre die Reflektion des angebotenen Spielzeugs, des Settings und letztlich der Beobachtungen dringend geboten.
Eine solche (selbst-)kritische beziehungsweise die Studiendurchführenden betreffende Reflexion der ethnographischen Forschung findet sich beispielsweise bei Sebastian Barsch "Was steht da? Übersetzen von Quellen als Prozess historischer Sinnbildung - Feldforschung in einem Förderzentrum" (117-135), der sich dem Konzept der leichten Sprache mit Schülerinnen und Schülern eines Förderzentrums annähert. Die Feldnotizen eines Studierenden, der die Verständigung unter Schülerinnen und Schülern in Türkisch nicht als Ressource und Verstehens-hilfe bei der Textarbeit durch Übersetzungsleistungen erkennt (127), nimmt Barsch zum Anlass, das Augenmerk auf die Rolle der Beobachterinnen und Beobachter zu legen. "Denn es wurde deutlich, dass eigene Vorannahmen und Prägungen [...] die Feldnotizen massiv beeinflussen" (133). Er schlussfolgert: "Die Subjektivität der Erhebenden hat für die Interpretation der Daten den gleichen Stellenwert wie die dem Feld zugeordneten Daten selbst" (133).
Für selbst empirisch forschende (und angehende) Geschichtsdidaktikerinnen und Geschichtsdidaktiker, aber auch für Lehrende, die Aktionsforschung in ihren Lerngruppen betreiben wollen, bietet der Band einige sehr brauchbare methodische Hinweise, interessante Beispiele sowie eine gute Sammlung weiterführender Literatur.
Anmerkungen:
[1] Wie viel Häme auf solch kolonialistische Vorstellungswelten zu Recht folgt, sah man an der Outfitwahl von Melania Trump bei ihrem Besuch in Kenia im Jahr 2018, als diese in ebenso einem 'Tropendress' auftrat. Umso mehr verstört die getroffene Wortwahl. Unwillkürlich müssen Lesende sich fragen: Was genau am Kolonialismus war romantisch? Sklaverei? Justizmorde? Misshandlungen? Vergewaltigungen? Illegale Landnahmen? Die Liste ließe sich weiterführen.
[2] Peter-André Alt: Jemand musste Josef K. verleumdet haben. Erste Sätze der Weltliteratur und was sie uns verraten, München 2020.
[3] Ein Blick in einschlägige und übrigens durchaus auch in schon lange Zeit zurückliegende Dissertationsschriften reicht aus, um dies nachzuweisen; beispielsweise ging schon im Jahr 2003 Michele Barricelli in "Schüler erzählen Geschichte. Narrative Kompetenz im Geschichtsunterricht", veröffentlicht in Schwalbach am Taunus 2005, so vor. Aber, und gegebenenfalls ist dies die Interpretation, der Kühberger folgt, waren die vielen verschiedenen Aufzeichnungen und Transkriptionen und so weiter von Unterricht durchaus üblich, wurden aber meist nicht als ethnographische Verfahren bezeichnet. Vergleiche hierzu Sebastian Barsch im vorliegenden Band, 132.
Christina Brüning