Ruth J. Salter: Saints, Cure-Seekers and Miraculous Healing in Twelfth-Century England (= Health and Healing in the Middle Ages; Vol. 1), Woodbridge / Rochester, NY: Boydell & Brewer 2021, XIII + 248 S., 1 Kt., ISBN 978-1-914049-00-2, GBP 70,00
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An der Aktualität medizinhistorischer Arbeiten ist in Zeiten des Spannungsfeldes von "Medizin versus 'Jesus is my Face Mask'" nicht zu zweifeln. Dass Heilige und Heilung dabei zusammengehören und die von Heiligen bewirkten Wunder in den Mirakelberichten immer wieder Erwähnung finden, ist der Quellengattung immanent. Aktuell ist auch der methodische Zugang zu Wunderheilungen, wie die Autorin ihn nutzt. Sie legt ein Buch vor, das neben der qualitativen Quelleninterpretation auch eine quantitative Auswertung im Bereich der Medizingeschichte vornimmt. Im Fokus stehen dabei Wunderheilungen aus sieben Viten (Swithin von Winchester, Dunstan von Canterbury, Æthelthryth, Wilhelm von Norwich, Ebba die Jüngere sowie Jakobus der Ältere), die allesamt im England des 12. Jahrhunderts verfasst wurden. Die Schreine aller erwähnten Heiligen wurden von Gläubigen auf der Suche nach Genesung besucht.
Salter ist vor allem an der Erfahrung derer interessiert, die Heilung suchten. Welche Beschwerden konnten die Heiligen lindern oder heilen? Wie fügten sich Wunderheilungen in die allgemeine medizinische Praxis ein? Welche Kenntnisse hatten die Klostergemeinschaften, die die Schreine der Heiligen beherbergten, über die Medizin? Woher kamen die Kranken? Wer waren sie und was sagt ihre hagiographische Präsenz über die allgemeine Praxis von Heilung aus? Sechs Kapitel umfasst die Arbeit.
Das erste Kapitel macht den Leser mit den vorherrschenden Paradigmen der hochmittelalterlichen Medizin vertraut. Die wichtigsten medizinischen Schulen der Zeit, Salerno und Montpellier, seien auch in England bekannt gewesen, praktische Anweisungen auch volkssprachlich übersetzt worden. Eine kurze Übersicht über das Beziehungsgeflecht von Humoralpathologie, den Behandlungsmöglichkeiten der Dyskrasie, den nicht-natürlichen Dingen und der Christus-Medicus Idee liefern einiges an Orientierung. Auch die Ambivalenz zwischen der praktizierten Klostermedizin und Bernhard von Clairvauxs Ablehnung medizinischer Behandlung findet Erwähnung.
Die Untersuchung monastischer Buchsammlungen, die medizinische Literatur enthielten, soll die medizinische Bildung in den Klöstern belegen. Durch Verlust sind einige Bestände lediglich fragmentarisch erhalten, doch finden sich neben Kräuterbüchern, Bestiarien, Lapidarien und den Werken Isidors von Sevilla auch in den Klöstern selbst entstandene Buchproduktionen, die teilweise praktische Behandlungshinweise tradieren. Bekannt seien, so Salter, den Mönchen die Krankenfürsorge durch die Regula S. Benedicti gewesen. Erwähnt werden medizinische Bäder, Aderlass und die Bettruhe. Sie zeigt auf, dass das Hospitalwesen zwischen innermonastischen und außerhalb der Klöster liegenden infirmaria und darin jeweils zwischen Leprosenhäusern, Kurzzeitpflege und Langzeitpflege unterschied. Hospitäler versorgten dabei Pilger und Kranke unter dem christlichen Leitgedanken.
Die statistische Auswertung im zweiten Kapitel betrifft die Krankheiten selbst. Die am häufigsten behandelten Beschwerden waren Lähmungen aller Art - wozu auch Bewegungseinschränkungen zählen -, Augenleiden/Blindheit, Tumore und allgemeine Krankheiten. Sie schlagen mit mehr als 50% aller Fälle zu Buche. Mentale Krankheiten wurden mit posttraumatischen Erkrankungen verwoben, wenn sie als Folge einer cranialen Verletzung auftraten. Lediglich zwei Geburten kommen vor.
Das Geschlechterverhältnis stellt sich so dar, dass Männer von Lähmung häufiger betroffen waren als Frauen, bei denen wiederum die Blindheit überwog. Alle oralen und dentalen Krankheiten betrafen Männer, vier von insgesamt sechs Fällen kamen dabei aus dem monastischen Umfeld, was die Autorin auf die klösterliche Ernährung zurückführt. Mediziner werden in den Hagiographien als unfähig oder das Leiden verschlimmernd dargestellt. Erwähnungen einer unwirksamen Augensalbe in der Hagiographie werden paneuropäische Rezepturen gegenübergestellt und gemutmaßt, welche von diesen Rezepten wohl verwendet wurden. Nicht-pflanzliche Heilmittel, wie Edelsteine und Amulette, fanden bei der Geburtshilfe Erwähnung.
Eine tabellarische Auswertung der Terminologien als prädiskursive Analyse setzt sich mit den unterschiedlichen Bezeichnungen von Augenerkrankungen, Blindheit, Tumoren, Schwellungen und Wucherungen auseinander. Salter kommt zu dem Schluss, dass Wunderheilungen nicht etwa eine Alternativmedizin für die Kranken darstellte, sondern dass die Beziehung zwischen der Medizin, dem Geistigen und dem Wunderbaren komplexer war.
Das dritte Kapitel befasst sich mit der zentralen Rolle der hilfesuchenden Individuen in den Hagiographien und unternimmt eine Kategorisierung. Der Großteil (92%) bestand aus Laien, vereinzelt tauchen auch Mönche und Kleriker auf. Die Zahl der erwähnten Frauen ist selten höher als die der Männer. Eine Häufung von Fällen jüngerer Menschen und Kindern findet sich bei Ebba der Jüngeren. Vor allem der soziale Status der Betroffenen bleibt meist unklar. Wurde er genannt, waren Arme dabei häufiger von Blindheit und Bewegungseinschränkungen betroffen. Allgemeine Krankheiten wie Fieber manifestierten sich häufiger bei Menschen mit höherem Status. Wurden Berufe genannt, dann sind es häufig Diener, aber auch ein Musiker und ein Nadelverkäufer kommen vor.
Woher kamen all die Menschen, und welche Distanzen legten sie zurück? Das vierte Kapitel wendet sich der Reiseerfahrung der Betroffenen zu, die sich häufig nicht ermitteln lässt. Von den Engländern reisten die meisten 5 Meilen (= 8,5 km) oder weniger. Einige kamen aus Frankreich, Deutschland, der Normandie, Schottland und Wales. 208 Betroffene reisten, um von ihrer Krankheit geheilt zu werden, 27 kamen, um nach einer erfolgten Heilung ein Gelübde zu erfüllen. Das lässt den Rückschluss zu, dass die Wirkmächtigkeit der sieben Zentren eher auf das lokale Umfeld beschränkt war.
Im fünften Kapitel werden die Reiserouten der Pilger thematisiert. Die Autorin schlägt vor, Kranke könnten auf ihrem Weg Hospitäler genutzt haben. Wie die Landschaft und das Wetter die Reisenden beeinträchtigt haben könnten, wird von der Autorin ebenfalls diskutiert. Möglicherweise seien Reisende auch auf Wegbeschreibungen von Anwohnern angewiesen gewesen. Eine lateinische Terminologie der verwendeten Worte für "reisen" bildet den Kern des Kapitels.
Was erwartete die Ankommenden am Heiligtum? In den meisten Fällen vollzogen sich die Wunderheilungen direkt am Schrein oder in dessen Umgebung, wie Salter im sechsten Kapitel ausführt. Manche der Kranken blieben in der Nähe der Klöster oder gingen engere soziale Bindungen mit ihnen ein. Offen bleibt, wie sich die Krankenlogistik zwischen den Hospitälern und den Schreinen gestaltete. Abseits der Kirche, so die Autorin, hatten die Kranken wohl keinen Zutritt zu anderen Arealen der Klöster.
Ob hagiographische Mirakelberichte innerhalb der Geschichtswissenschaften die Funktion einer mittelalterlichen Patientendokumentation übernehmen und dort als faktische Datenlage dienen können, bleibt fraglich. Den Auswertungen sind oft entkontextualisierte Erzählungen als Beiwerk angefügt, die sicher interessant zu lesen sind, aber zu Spekulationen verleiteten, die sich in Konjunktiven verlieren. Es ist literarisches Tasten im Nebel der Wahrscheinlichkeiten, wenn die in den Quellen beschriebenen Augenbeschwerden und die Lichtempfindlichkeit eines Abtes, der eine Augensalbe ohne Erfolg angewandt hatte, die Autorin dazu veranlassen, Rezepturen aus dem Pantegni Konstantins, dem Old English Herbarium und Hildegard von Bingens Physika aufzulisten, um in der Folge zu konstatieren, dass eine dieser Salben unter Umständen diejenige gewesen sein könnte, die dem Abt nicht die erhoffte Linderung gebracht habe. Auch aus dem Argument, dass Weinraute noch heute phytologisch verwendet und auf der Haut ein Brennen verursachen würde, lässt sich nicht ableiten, ob es sich bei den in der Quelle beschriebenen Beschwerden um Symptome oder Nebenwirkungen handelte. Auch die Frage, ob die zu den Schreinen Pilgernden Überfällen ausgesetzt gewesen seien, ist bereits zu Beginn des Unterkapitels beantwortet, geben die Quellen dazu doch keine Auskunft. Die Ausführungen, wie sich die Lage dazu in Nordspanien verhielt, vermag wenig Erhellendes zur Problematik der Reisesicherheit in England beizutragen. Und dass ein junges Mädchen von seiner Tante mit einer Münze für eine Opferkerze ausgestattet wurde, macht es nicht zum potentiellen Opfer - auch wenn die Autorin anführt, es sei schwer zu glauben, dass ein junges und allein reisendes Mädchen nicht von Dieben oder Schlimmerem bedroht gewesen sei. Was die Autorin glaubt, sollte aber für ihre Fragestellung keine Rolle spielen. Die deutschsprachige Forschung zur mittelalterlichen Medizingeschichte zu diesem Thema blieb von der Autorin gänzlich unberücksichtigt.
Monja Schünemann