Carsten Gansel (Hg.): Deutschland Russland. Topographien einer literarischen Beziehungsgeschichte, Berlin: Verbrecher Verlag 2020, 613 S., ISBN 978-3-95732-457-3, EUR 39,00
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Zum Jubiläumsdatum der Oktoberrevolution fand im Deutschen Literaturarchiv Marbach/Neckar eine von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderte internationale Tagung "1917-2017 / Deutschland ~ Russland. Topographien einer literarischen Beziehungsgeschichte" statt; veranstaltet wurde sie von Caroline Roeder (Ludwigsburg/Berlin) und Carsten Gansel (Gießen). Die von einer Literaturwissenschaftlerin und einem Literaturwissenschaftler verantwortete Tagung war interdisziplinär angelegt, es sollten für die Jahre 2017 literatur- und kulturwissenschaftliche Forschungsfragen aufgeworfen werden, deren Beantwortung europäische und weltpolitische Bedeutung versprach. Nun liegt der Konferenzband vor, der nicht nur immerhin 14 der während der Tagung präsentierten 18 Vorträge versammelt, sondern als Zugaben drei weitere Beiträge und fünf Gespräche mit Zeitzeuginnen und Zeitzeugen bereithält.
Ein so umfassender Band, der einerseits die Ergebnisse der Tagung sichern soll, andererseits auch die Gelegenheit ihrer Weiterführung und Ergänzung gibt, leidet naturgemäß immer ein wenig an der Vielfalt der Themen und Disziplinen, an fachspezifischen oder philologischen Besonderheiten, auch an Schreibgewohnheiten und stilistischen Gestaltungsspielräumen oder positiv gesagt: am Diktum der Wissenschaftsfreiheit, die jeder und jedem in der Zunft unabdingbar ist. Noch schwieriger wird es, wenn das Tagungs- und Publikationsprojekt im Grundsatz als vielfältig - international, interdisziplinär (literatur-, kultur- und geschichtswissenschaftlich), europäisch, weltumfassend - inseriert ist. Und so lässt sich das Gesamtprojekt - bei aller Wichtigkeit und Bedeutung jedes einzelnen Beitrags - nur mit Mühe als eine stringente literatur- und kulturwissenschaftliche Betrachtung der "Topographien einer literarischen Beziehungsgeschichte" lesen. Dem Band fehlt es an einem verbindenden Element, an einem Gerüst, das die "Topographien" hätten sein können, wenn sie denn konsequent betrachtet worden wären. Doch weder Karl Schlögels (2003) noch Sigrid Weigels (2004) wegweisende Überlegungen zu Räumen, Landschaften, Tatorten und Schauplätzen der Geschichte werden auch nur angedeutet; nicht einmal in Andreas Degens detailreichem und überaus informiertem Beitrag über die Moskau-Reisen von Hans Henny Jahnn, Wolfgang Koeppen und Leo Weismantel 1956/1957 (297-339) finden sie einen Ort.
Von den 17 Beiträgen gehören 12 - in einem weiteren Sinn - in den Bereich der Literaturwissenschaft. Dabei handelt es sich sowohl um weitgefasste Überblicksdarstellungen wie etwa Jürgen Lehmanns Expertise von "Zwei Jahrhunderte[n] russische[r] Literatur in Deutschland" (17-44), der den Band wegen seines weiten Blicks mit Recht eröffnet, als auch um Einzelbetrachtungen literarischer Texte unter einem ganz bestimmten Aspekt wie etwa Heinrich Kaulens Überlegungen zu "Walter Benjamins 'Moskauer Tagebuch' zwischen revolutionärer Utopie und historischer Desillusionierung" (45-60) oder Carsten Gansels Beschreibung seiner Neueditionen von "Gerhard Sawatzkys 'Wir selbst' (1938/2020)" (201-234) und "Heinrich Gerlachs 'Odyssee in Rot' (1966/2017)" sowie der entsprechenden Analyse "Zur Gründung des Bundes Deutscher Offiziere (BDO) und zu Aspekten seiner Bewertung nach 1949" (269-296).
Zu diesen literaturwissenschaftlichen Betrachtungen treten mit dem Beitrag über die "Russlanddeutschen Intellektuellen zwischen 1917 und 1941" von Tatiana Yudina (163-177) und dem Aufsatz über die deutschen Emigranten beim sowjetischen Rundfunk von Hans Sarkowicz (235-267) zwei kulturwissenschaftliche Studien, wobei dem interdisziplinären und kulturwissenschaftlichen Anspruch an das Gesamtunternehmen auch Beiträge zu Theater, Film und bildender Kunst gut zu Gesicht gestanden hätten. Matthias Braun stellt die Zusammenarbeit der Geheimdienste von DDR und Sowjetunion ins Zentrum (341-358), Hauke Ritz wirft einen geopolitischen Blick auf die Reform des "Petersburger Dialogs" (427-443) und die autobiografisch-poetisch angelegte Reflexion von Jochen Laabs beschreibt das eigene Kennen- und Liebenlernen der sowjetischen und russischen Literatur (445-464).
Schlussendlich freut sich die Leserin über die fünf - interessanten und klug geführten - Gespräche mit den sechs Zeitzeuginnen und -zeugen und den weiteren methodischen Zugang der Oral History, empfindet hier aber auch eine gewisse Anstrengung ob der strukturellen, inhaltlichen und methodischen Vielgestaltigkeit. Denn neben all diese - zugegeben - sehr charmante Melange äußerst heterogener Texte kommt die zusätzliche Schwierigkeit der unterschiedlichen Umfänge der Beiträge noch hinzu: Das Spektrum bei den wissenschaftlichen Texten reicht von 16 bis 52 Seiten, bei den Gesprächen ragt aus den üblichen 12- bis 13-seitigen das undatierte zwischen Carsten Gansel und Anton Hiersche mit 70 (!) Seiten weit heraus.
Allein dieser kurze Auszug aus dem Portfolio des Tagungs-/Buchprojekts provoziert die Erinnerung an eins der wichtigsten Forschungsprojekte der Gegenwart: Als Karl Eimermacher und Astrid Volpert in den Jahren 2005 und 2006 drei prächtige, jeweils die 1000-Seiten-Marke weit überschreitende Forschungsbände des "Wuppertal-/Bochumer Projekts über Russen und Deutsche" herausgegeben hatten, gingen alle Fachexpertinnen und -experten davon aus, dass die Beziehungsgeschichte "Russland Deutschland" nun geschrieben sei. Denn am 1982 in Wuppertal gegründeten "Kopelew-Projekt" waren hunderte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler beider Länder an der Auffindung, Sichtung und Auswertung des Materials beteiligt gewesen, dabei fanden allein die Arbeiten von über 100 Fachwissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern Eingang in die drei Bände zum 20. Jahrhundert. [1] Wenn sich nun gut zehn Jahre später eine von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderte internationale Tagung der Fragestellungen des "Kopelew-Projekts" noch einmal widmet, könnte man entweder eine überraschend aufgetretene Forschungslücke oder einen neuen methodischen oder theoretischen Ansatz ("Topographien") vermuten, den es nun anlässlich des 2017er-Jubiläums zu erproben gälte. Dies war jedoch offensichtlich nicht der Fall. Und weniger noch: An keiner einzigen Stelle des Sammelbands "Deutschland Russland", in keiner einzigen Endnote wird auch nur einer der drei gewichtigen Bände überhaupt erwähnt. Es stellt sich die Frage, ob sie den Beitragenden tatsächlich unbekannt geblieben sein könnten oder ob hier jeder Autor auf ewig sein eigener Entdecker bleiben will?!
Dass die große Heterogenität des Unternehmens in einen - aufs Ganze gesehen - schönen Tagungsband münden konnte, ist sicherlich auch dem zuverlässigen Lektorat von Mike Porath geschuldet (dem der Herausgeber dafür explizit dankt). Das Buch ist ungewöhnlich gut lektoriert, auf seinen 613 Seiten sind nur wenige Schnitzer zu finden. Und dabei lässt sich durchaus eine gewisse Großzügigkeit gegenüber sprachlichen Eigenheiten finden, sodass Stil und Charme der (ersten) Muttersprache niemals verlorengehen, sondern der Argumentationslinie zusätzlichen Ausdruck verleihen - so etwa in Elena Seiferts Studie zur "Russlanddeutsche[n] Literatur und Gulag-Erfahrungen" (179-199). Einzig die Entscheidung für die nicht sehr lesefreundlichen Endnoten - statt Fußnoten am Ende einer jeden Seite - mindert ein wenig die Lesefreude, doch dies mag schlicht den Vorgaben des Verbrecher Verlags geschuldet sein.
Anmerkung:
[1] Karl Eimermacher / Astrid Volpert (Hgg.): Verführungen der Gewalt. Russen und Deutsche im Ersten und Zweiten Weltkrieg, München 2005; Karl Eimermacher / Astrid Volpert (Hgg.): Stürmische Aufbrüche und enttäuschte Hoffnungen. Russen und Deutsche in der Zwischenkriegszeit, München 2006; Karl Eimermacher / Astrid Volpert (Hgg.): Tauwetter, Eiszeit und gelenkte Dialoge. Russen und Deutsche nach 1945, München 2006.
Silke Flegel