Norbert Otto Eke (Hg.): Vormärz-Handbuch, Bielefeld: Aisthesis Verlag 2020, 1054 S., ISBN 978-3-8498-1550-9, EUR 128,00
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Günther Rüther: Die Unmächtigen. Schriftsteller und Intellektuelle seit 1945, Göttingen: Wallstein 2016
Patrizia Carmassi / Eva Schlotheuber / Almut Breitenbach (Hgg.): Schriftkultur und religiöse Zentren im norddeutschen Raum, Wiesbaden: Harrassowitz 2014
Carsten Gansel (Hg.): Deutschland Russland. Topographien einer literarischen Beziehungsgeschichte, Berlin: Verbrecher Verlag 2020
Bernhart Jähnig (Hg.): Literatur im Preußenland von der ausgehenden Ordenszeit bis ins 20. Jahrhundert, Osnabrück: fibre Verlag 2012
Barry Murnane / Ritchie Robertson / Christoph Schmitt-Maaß u.a. (Hgg.): Essen, töten, heilen. Praktiken literaturkritischen Schreibens im 18. Jahrhundert, Göttingen: Wallstein 2019
"Gesprächsangebote" machen "und weitere Forschungen anstoßen" soll das "Vormärz-Handbuch", erklärt der Herausgeber im Auftrag des "Forum Vormärz Forschung", Norbert Otto Eke (16). Diesen Zielen wird das monumentale Werk, dessen Titel angesichts des Umfangs an Selbstironie grenzt, definitiv gerecht. Der Inhalt geht weit über eine einfache Zusammenfassung des aktuellen Forschungsstandes hinaus, indem kaum weniger Fragen aufgeworfen als beantwortet werden. Dass das "Forum Vormärz Forschung" eine literaturwissenschaftliche Gesellschaft ist, fällt erst in der zweiten Hälfte des Handbuchs verstärkt ins Auge, so selbstverständlich wird hier ein interdisziplinärer Ansatz verwirklicht. Dahinter stehen über 100 Autorinnen und Autoren, die meisten habilitierte Hochschullehrerinnen und Hochschullehrer. Das Ergebnis ist eine kulturwissenschaftliche Tour de Force, die als Wissensquelle und vor allem als Anregung für neue Studien Angehörigen der verschiedensten geisteswissenschaftlichen Richtungen in Zukunft große Dienste leisten dürfte.
Der extrem breite Ansatz zeigt sich bereits in der Gliederung: Ein "Historischer Abriss" über "das Zeitalter der Revolution(en)" steht am Anfang, es folgen "übergreifende Fragestellungen" und "interdisziplinäre Implikationen". Erst dann tragen ein großer Abschnitt über "Literaturverhältnisse, Literaturkonzepte und literarische Gattungen" sowie biografische Skizzen zu ausgewählten Autorinnen und Autoren dem literaturwissenschaftlichen Ursprung des Werkes Rechnung, ohne dabei aber den interdisziplinären Ansatz aus den Augen zu verlieren.
Die Fülle der Themen lässt sich hier nur andeuten: Vom Wiener Kongress über politische Bewegungen bis hin zur Verstädterung, sozialen Frage und dem Personal der "Achtundvierziger" geht der "historische Abriss"; die "übergreifenden Fragestellungen" widmen sich Klassik und Romantik, Öffentlichkeit, Nationalismus, Militär, Europa, Religion, Vereinen, Burschenschaften und Arbeiterbildungsvereinen. Die "interdisziplinären Implikationen" behandeln Musik, Oper, Philosophie, Literaturmarkt und internationalen Kulturtransfer; dann werden literarische Gattungen vom Journalismus über das Drama bis hin zur "Dorfgeschichte" behandelt und schließlich bekannte Autorinnen und Autoren wie Georg Büchner oder Annette von Droste-Hülshoff ebenso vorgestellt wie wenig bekannte, etwa Therese Huber oder Fanny Lewald.
Diese thematische Bandbreite macht klar, dass das Buch nicht groß versucht, die Epoche "auf einen Nenner zu bringen", dahingehenden Bestrebungen attestiert Norbert Otto Eke zurecht eine gewisse "Hilflosigkeit" (15). Wenn eine bestimmte Vorstellung vom "Wesen" der Epoche zu Grunde gelegt wird, dann am ehesten die Interpretation vom Vormärz als "Labor-Zeit" im Sinne von Peter Stein (10), gekennzeichnet "durch Spannungen und Widersprüche auf unterschiedlichen Ebenen", so Johanna Canaris (622). Dem trägt die disparate Mischung der Themen Rechnung.
Der Vormärz wird aber als kulturwissenschaftliche Epoche nicht nur nicht auf griffige Formeln gebracht, sondern sogar generell in Frage gestellt. Viele mit diesem Begriff verbundene Entwicklungen decken sich keineswegs mit den Eckdaten 1815 und 1848: Hans Fenske etwa verortet den Frühliberalismus bereits in den 1790er-Jahren, anstatt in der Zeit nach 1815 (57); Dieter Ziegler widerlegt die Vorstellung von einer zeitlichen Verschränkung von Frühindustrialisierung und Vormärz (94); Michael Wettengel zeigt auf, dass die Entstehung von politischen Parteien nicht nur im Vormärz, sondern auch davor (im 18. Jahrhundert) oder danach (in den 1860-Jahren) verortet werden kann (248). Sigrid Thielking verneint den Zäsurcharakter der Revolution 1848/49 für die Literaturgeschichte (179) und Florian Vaßen für die Entwicklung von Theater und Drama (513). Steen Bo Frandsen erklärt, dass "die dänisch-nordische Tradition" den Begriff Vormärz als Epochenbezeichnung gar nicht kenne (414). Das gleiche gilt für die Musikwissenschaft, wie Irmlind Capelle erläutert. Dort werde vielmehr von Romantik und Biedermeier gesprochen (309).
Neben diesen übergreifenden Fragen nach der Relevanz oder Existenz der Epoche wirft das Werk zahllose weitere Detailfragen auf. Wenn die Darstellung einen roten Faden hat, dann sind es die überall auftauchenden Forschungsdesiderate: Birgit Bublies-Godau vermisst eine "eingehende Rekonstruktion und Darlegung der Geschichte der modernen Demokratie in Deutschland" (74), Christian Jansen "systematische Studien zur nationalistischen Bewegung in deutschen Einzelstaaten" (202), Norbert Otto Eke eine "Lesegeschichte des Exils" (295), Laurenz Lütteken "Untersuchungen über Repertoirewege" im europäischen Opernbetrieb des Vormärz (325), Marta Famula mahnt die "Erforschung der Ästhetik nach Hegel in ihrer vielschichtigen Ausprägung" an (507) - um willkürlich ein paar Beispiele aus den verschiedenen Abschnitten herauszugreifen. Das Vormärz-Handbuch zeugt demnach nicht nur von der Fülle der bereits geleisteten Forschungsarbeit, sondern zeigt erst recht auf, wie viel noch zu untersuchen bleibt. Wer glaubt, diese Epoche sei bereits umfassend bearbeitet, wird hier eines Besseren belehrt.
Einem solchen Werk Lücken vorzuhalten, erscheint nahezu albern. Als Historiker hätte man sich vielleicht eine vertiefende Darstellung zur Historiographie in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts oder biographische Skizzen zu Vertretern des Fachs wie Droysen oder Ranke gewünscht, die unter anderem in Christian Kleins Aufsatz zur "Biografie" en passant auftauchen. Bei einer geschichtswissenschaftlichen Grundausrichtung hätten manche Forschungsdebatten vertieft werden können bzw. müssen. Siemanns Neubewertung von Metternich bleibt weitgehend unbeachtet und der "historische Abriss" der traditionellen, negativen Sicht von Metternichs Politik verhaftet. Klaus Ries etwa greift das alte Bild vom Deutschen Bund als "Bollwerk gegen verfassungspolitischen Wandel" auf (27) und kritisiert, dass Deutschland durch die "permanente, konservativ-reaktionäre Kontrolle der liberal-demokratischen Bewegung" um "Jahrzehnte zurückgeworfen" worden sei (28). Hans-Werner Hahn postuliert, Metternich habe alles daran gesetzt, "im ganzen Deutschen Bund die politische Repression zu verschärfen" (45). Sabine Freitag schreibt unter Berufung auf die Kurzfassung der Siemannschen Metternichbiografie von 2016, die "restaurativen Bestrebungen" des österreichischen Staatsmanns hätten "zwar auf eine gesamteuropäische Friedenssicherung" abgezielt, seien aber mit einer "massiven Unterdrückungspolitik" verbunden gewesen (129f.). Siemann würde dies wohl umgekehrt formulieren.
Angehende Historikerinnen und Historiker werden daher neben dem Vormärz-Handbuch weiterhin speziellere Überblicksdarstellungen, insbesondere zu Forschungskontroversen, heranziehen müssen. Ob das Handbuch für "Einsteiger", gleich welcher Disziplin, wirklich als schnelles Informationsmedium taugt, erscheint angesichts der Fülle der neu aufgeworfenen Fragen, die mit dem Überblick über das vorhandene Wissen verknüpft werden, nicht ganz sicher. Gerade darin liegt aber der Reiz des Buches.
Sebastian Dörfler