Viola Schrader: Historisches Denken und sprachliches Handeln. Eine qualitativ-empirische Untersuchung von Schülertexten (= Geschichtskultur und historisches Lernen; Bd. 20), Münster / Hamburg / Berlin / London: LIT 2021, 317 S., ISBN 978-3-643-14928-2, EUR 34,90
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Historisches Lernen und Sprachhandeln stehen in einem unauflöslichen Zusammenhang. Dies bedingt ein integratives Verständnis von Geschichts- und Sprachlernen, das sowohl die Funktionen, Formate und Prozeduren (fach-)sprachlichen Handelns als auch die Bedingungen für den domänenspezifischen Gebrauch sprachlicher Mittel sowie die Möglichkeiten zur Förderung entsprechender Kompetenzen reflektiert. Viola Schrader verfolgt in ihrer zur Veröffentlichung geringfügig überarbeiteten Dissertationsschrift das grundlegende Ziel, den Zusammenhang von historischem Denken und schülersprachlichem Handeln empirisch zu beschreiben. Den Kern der Arbeit bildet die Analyse aufgabeninduzierter Schüler:innentexte, die dem geschichtsdidaktischen Prinzip der Kontroversität folgen. Dazu bearbeiteten 115 Gymnasiasten die Aufgabe, zwei widerstreitende Historikerinterviews zur 'Kriegsschuldfrage' schriftlich zu vergleichen und zu beurteilen. Vor der empirischen Auswertung der Textprodukte erarbeitet Schrader in einem umfassenden Zugriff die geschichtsdidaktischen und linguistischen Forschungsstände zum Untersuchungsgegenstand und entfaltet darauf aufbauend ihren interdisziplinären Theorierahmen. Dieser orientiert sich in sprachwissenschaftlicher Hinsicht an Grundannahmen 'der' Kognitiven Linguistik: (1.) das sprachliche System ist als Repräsentationsseite kognitiver Strukturen zu verstehen, (2.) grammatische Kategorien sind in ihrer semantischen Funktion symbolischer Repräsentation von Denkstrukturen und Konzepten in Sprachhandlungsmustern zu begreifen und (3.) der Sprachgebrauch ist im kommunikativen Kontext verankert (84). Die Analyse der erhobenen Schüler:innentexte erfolgt auf drei Ebenen: "Erstens im Hinblick auf die Realisierung der beiden Sprachhandlungen Vergleichen und Beurteilen im fachspezifischen Kontext, zweitens hinsichtlich der Repräsentation von Kategorien historischen Denkens in der Schülersprache und drittens bezüglich der Rekonstruktion epistemologischer Überzeugungen" (104). Das Datenmaterial des mehrschrittigen Untersuchungsdesigns umfasst zudem die vor Durchführung der Schreibaufgabe mittels Selbsteinschätzungsfragebögen erhobenen Lernvoraussetzungen der Schüler:innen sowie die nach Abschluss der Aufgabenbearbeitung in Form von Schüler:innenkommentaren erhobenen individuellen Wahrnehmungen der Aufgabenbearbeitung.
Zusammenfassend kommt Schrader zu dem Ergebnis, dass alle Schüler:innen des gymnasialen Samples in der Lage waren, entsprechende Textprodukte mit den für das Vergleichen und Beurteilen typischen Sprachhandlungsmustern anzufertigen, wenngleich die Qualität der Handlungsmuster überaus heterogen ausfallen (144f.). Dennoch lassen sich in den Texten regelmäßig auftretende Muster identifizieren. Schrader bezeichnet diese als das "inhaltlich additive und sprachlich reproduktive Auflisten", das "referenztextinterne Nacherzählen" und das "stärker analytische und argumentative Heraus- und Gegenüberstellenstellen" der Historikerpositionen (ebd.). Ein beobachteter Zusammenhang lässt sich den Erkenntnissen der Schreibforschung bestätigend zuordnen: Je höher die sprachliche Komplexität der Texte im Sinne bildungssprachlicher Fähigkeiten, desto elaborierter fällt der Vergleich der Historikerpositionen aus. Als ein wichtiger Parameter für die erfolgreiche Textproduktion erscheint die Informiertheit der Schüler:innen über das gewünschte Zieltextformat. Schrader erkennt hier "Tendenzen", die auf "positive Effekte einer Schulung des fraglichen Textformats im Sinne eines höheren (inhalts-)analytischen Zugriffs [...] hinweisen können." (149f.) Dass dieser Zusammenhang wahrscheinlich ist, darauf deutet auch der Kommentar eines Schülers, der nach Fertigstellung der Aufgabe mitteilt, ihm sein "nicht klar" gewesen, "ob der Text Klausurformat haben [...] oder eher in Richtung eines Essays" gehen sollte (148). Hier offenbart sich eine kleine Fehlstelle im Untersuchungsdesign. Vermutlich wären die Schreibpotenziale der Schüler:innen besser ausgeschöpft worden, wenn die zur Textproduktion gestellte Aufgabe auch Hinweise zum Zieltextformat enthalten hätte. Fehlende Hinweise auf geschichtsdidaktische Veröffentlichungen [1] mit entsprechenden genredidaktischen Befunden lassen vermuten, dass Schrader dieser Zusammenhang bei Konzeption der Untersuchung (noch) nicht bewusst gewesen ist. Die grundsätzliche Plausibilität ihrer Befunde schmälert das aber nicht.
Von hoher Plausibilität erscheint u.a. der Befund, dass zwischen der sprachlichen Elaboriertheit und den Texttiefenstrukturen im Sinne der Komponenten des historical reasoning kein linearer Zusammenhang zu beobachten sei (152). Der Gegenstand des historischen Denkens geht nicht vollständig im Sprachlichen auf. Oder andersherum formuliert: "Geschichte ist nicht Sprache, und doch existiert sie für uns nur, indem sie zur Sprache gebracht wird." [2] Schrader beantwortet die im Hinblick auf die beiden untersuchten Sprachhandlungen Vergleichen und Beurteilen gestellte Frage nach dem Zusammenhang zwischen den historischen Denkoperationen und den mit diesen verbundenen Sprachhandlungsmustern als prinzipiell "variierend" (216). Vergleichen und Beurteilen haben demnach je unterschiedliche Bezugspunkte und eröffnen verschieden weite subjektive Handlungsspielräume. Die Funktion des Vergleichens zweier Texte würde sich deshalb deutlich stärker operationalisieren und anhand der Sprachhandlungsmuster auch besser graduieren lassen als die Diskursfunktion des Beurteilens.
Schraders theoretisch grundlegende und empirisch überaus detailreiche Untersuchung des Zusammenhangs von Sprachhandeln und Geschichtsdenken von Schüler:innen spiegelt den hohen Leistungsstand linguistisch inspirierter geschichtsdidaktischer Forschung wider, die versucht, das Genuine des Fachs vor lauter Sprache nicht aus den Augen zu verlieren. Bemerkenswert ist jedoch, dass bei der Konzeption der Arbeit neben den Zieltextformaten auch die rezeptiven Fähigkeiten eine nur untergeordnete Rolle spielen (Textverstehen wird erst im vorletzten Kapitel der Arbeit und dann auch nur als Exkurs problematisiert). Dabei dürften die Ausgangstexte die Art und Weise des Vergleichens und Beurteilens nicht nur inhaltlich beeinflussen, sondern auch als Modelle für den Gebrauch sprachlicher Mittel bei der Aufgabenbearbeitung dienen. Zusammenfassend betrachtet bedeutet die Untersuchung sowohl in theoretischer als auch in forschungsmethodischer Hinsicht einen weiterführenden Schritt im Forschungsfeld 'Sprache und Geschichtslernen'. Dies gilt selbstverständlich auch im Hinblick auf die Ergebnisse der gelungenen Studie.
Anmerkungen:
[1] Mareike-Cathrine Wickner: So schließt sich der Kreis. Textsortenspezifische Schreibförderung im Geschichtsunterricht mit dem "Genre Cycle". In: Geschichte lernen 31 (2018), 49-56; Matthias Sieberkrob / Martin Lücke: Narrativität und sprachlich bildender Geschichtsunterricht - Wege zum generischen Geschichtslernen, in: Sprachen - Bilden - Chancen. Sprachbildung in Didaktik und Lehrkräftebildung, hg. von Brigitte Jostes / Daniela Caspari / Beate Lütke, Münster / New York 2017, 217-229; Olaf Hartung: Generische Lernaufgaben im Geschichtsunterricht - oder: die 'zwei Seiten' einer Gattungskompetenz, in: Aus der Geschichte lernen? Weiße Flecken der Kompetenzdebatte, hg. von Saskia Handro / Bernd Schönemann, Münster 2016, 187-198.
[2] Hans-Jürgen Goertz: Umgang mit Geschichte. Eine Einführung in die Geschichtstheorie, Hamburg 1995, S. 148.
Olaf Hartung