Jörg van Norden: Verlust der Vergangenheit. Historische Erkenntnis und Materialität zwischen Wiedererkennen und Befremden (= Geschichtsdidaktik Theoretisch; Bd. 3), Frankfurt/M.: Wochenschau-Verlag 2022, 271 S., 7 s/w-Abb., ISBN 978-3-7344-1473-2, EUR 32,90
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Die Vergangenheit ist leer, es lebe die erweiterte Gegenwart, die Neugierde und das historische Denken! - So oder so ähnlich könnte man formulieren, wollte man die zentralen Ideen, die Jörg van Norden im Buch darlegt, zu einem schlagkräftigen Motto zusammenfassen. Die Untersuchungsfrage seiner Monografie zielt speziell auf die Rolle, die den materiellen Überresten im Prozess der narrativen Aneignung von Vergangenheit als das Fremde zukommt. Und um das Ergebnis gleich vorweg zu nehmen: Wenn Menschen allgemein mit Dingen lernen und Gebrauchsgegenstände, Werkzeuge und Materialien quasi zu "Akteur*innen" (197) werden, warum sollten dingliche Überreste dann nicht auch zum historischen Lernen verhelfen können - zumindest unter der Prämisse, dass neugierige Menschen diese wiedererkennend und befremdend zugleich als Zeichen zu deuten versuchen?
So weit, so gut. Die These mag nicht neu sein; die ausführliche Untersuchung der Rolle von Materialität in der Geschichte der Menschheit in geschichtsdidaktischer Absicht ist es aber schon. Jörg van Norden beschränkt sich keineswegs nur auf die Frage nach dem Quellenwert materieller Überreste. Ihn interessieren ganz grundsätzlich die "Rolle von Materialität in menschlicher Praxis" und das Verhältnis von "menschliche[r] Kreativität und materiale[r] Prädestination" (7). Die ersten beiden Großkapitel widmet er dann auch folgerichtig den Fragen nach dem menschlichen Faktor und nach der Materialität in der Geschichte, um dann in einem dialektischen Schlenker zwischen entfremdungs- und befreiungsgeschichtlichen Betrachtungen zu den Voraussetzungen historischen Lernens zu kommen, die in der - wie der Autor schreibt - relativ banalen Einsicht münden, dass Materialität noch im physischen Sinn vorhanden sein muss und die funktionalen Netze, in die sie eingebunden ist, noch nicht vollständig zerrissen sein dürfen, um mit den Dingen historisch zu lernen. Wäre hingegen "die Konstellation der Akteur[...][*innen] nicht mehr da" (202) oder hätte sie sich zu etwas Neuem entwickelt, dann nämlich gäbe es keinen Weg zur nunmehr nur noch latent vorhandenen Bedeutung der Dinge zurück. Die gesellschaftlichen, ökonomischen, ethischen und politischen Netze müssen ihren 'ursprünglichen' Zustand, in denen die Dinge Gebrauchsgegenstände waren, überwunden haben, damit neugierige Menschen sich vom gesuchten Fremden überraschen lassen und ihnen dieses als Vergangenes erscheint (vgl. ebd.). Der Preis, der für diese auf gleichzeitiges Wiedererkennen und Befremden basierende narrative Aneignung zu zahlen ist, - so der Clou des Buches - besteht jedoch im titelgebenden "Verlust der Vergangenheit" zu Gunsten einer erweiterten Gegenwart. Dieser prinzipiell nachvollziehbare Gedanke erinnert nicht zuletzt an Walter Benjamins Diktum vom Verschwinden topologisch bedingter Originalität von Artefakten. Was Benjamin seinerzeit für den Zusammenhang von materiellem Werk, physikalischem Ort und Geschichte reklamierte, bringt Jörg van Norden sozusagen für die narrative Aneignung der Dinge in Anschlag. An die Stelle der ortsgebundenen 'Aura' tritt bei Benjamin in Zeiten der technischen Reproduzierbarkeit die Nähe zum überlieferten Artefakt, das nunmehr als Spur unabhängig von Ort und Zeit wirke. Das, was van Norden als Folge der noch nicht vollständig zerrissenen Bedeutungsnetze im Sinne einer Akteurs-Netzwerk-Theorie beschreibt, entspricht in etwa dem, was Benjamin als "Spur" bezeichnet, nämlich die "Erscheinung einer Nähe, so fern das sein mag, was sie hinterließ". [1]
Am Ende dürfte es kein Zufall sein, dass Jörg van Nordens narrativistisch grundierte Studie schließlich in semiotischen Überlegungen bzw. in der Frage "Und in der Welt der Zeichen?" (247) mündet, obgleich er anfänglich die materiellen Überreste nicht auf der Zeichenebene, sondern im Hinblick auf deren "Qualitäten" (226) untersuchen wollte. Hier heißt es im Ergebnis, dass von materialer Prädestination "keine Rede sein kann" (248). Und fast schon tautologisch klingt die Feststellung, dass ihre Dauer und "auf [diese] gegründetes Wiedererkennen" an "unabänderlichen Raumkoordinaten, Materialregimes, menschlicher Physis, manuellem Gebrauchsregime und Gebrauchsgegenständen der longue durée festzumachen" sei (ebd.). Mit materialer Qualität allein lässt sich nicht historisch erzählen und lernen, es bedarf der Zeichenebene. Dabei können Dinge beides sein: nützliche Alltagsgegenstände, oder Dinge, die Unsichtbares repräsentieren und mit Bedeutung aufgeladen werden. [2] Welche der beiden Sphären die Dinge jeweils zugerechnet werden ist nichts Feststehendes. So kann der Autor mit dem im Buch beispielgebend vorgestellten Spaten in seinem Garten graben, er kann ihn aber auch zum Anlass nehmen, über die 'Gattungsgeschichte' dieses Werkzeugs und/oder über die Geschichte des Reichsarbeitsdienstes zu erzählen (140-144).
Eine Frage, die mich seit Lektüre des Buches beschäftigt, ist die nach der Strategie der Untersuchung: Ist es zielführend, die Rolle "materielle[r] Überreste und ihre Handhabung für das historische Denken" zuerst mit einer überaus gelehrten Geschichte der Materialität klären zu wollen? Ist die 54 Buchseiten und ca. 5200 Jahre Menschheitsgeschichte umfassende tabellarische Synchronopse Helga Marx' (85-139) der richtige Ansatz, um Antworten auf die Frage nach der Rolle materieller Überreste für das historische Denken zu finden? Hilft es weiter, die problematische Rede von der 'Sprache der Dinge' in eine 'Handlungsfähigkeit der Dinge' im Sinne des New Materialism umzumünzen? Folgt man Jörg van Nordens übergeordnetem Theorieansatz, dürften die Praktiken zur narrativen Aneignung der Dinge kaum in der verloren gegangenen Vergangenheit zu finden sein. In einer dezidiert narrativistischen Perspektive müsste die Frage doch lauten, welche Arten von Zeichen bilden die materiellen Überreste in immateriellen Geschichtserzählungen und welche Zeichenprozesse durchlaufen sie dabei? [3] Schließlich liegen narrativer Sinn und Bedeutung weniger in den materiellen Überresten selbst verborgen, sondern werden vielmehr durch deren zeichenhaften Gebrauch in historischen Narrationen generiert. Unter dieser Voraussetzung kann man dann auch den meisten der im Fazit des Buches übersichtlich zusammengefassten Ergebnis-Paragraphen prinzipiell zustimmen, wie z.B. der Möglichkeit zur Wahrnehmung von "Vergangenheit und Gegenwart als zwei distinkte Zeitschichten", wenn "ein Überrest sowohl bekannt erscheint, weil man sich in Kenntnis gegenwärtiger Praxis und Materialität seinen Gebrauch vorstellen kann, als auch befremdet, weil er sich gegen diese Vorstellung sperrt [...]" (250). Wie gesagt: 'durch eine Nähe, so fern das sein mag, was sie hinterließ'.
Anmerkungen:
[1] W. Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (1936). Frankfurt/M. 1974, 11ff.
[2] Vgl. K. Pomian: Der Ursprung des Museums. Vom Sammeln. Berlin 1988, 49.
[3] Vgl. O. Hartung: Mit Szenografie Geschichte erzählen? Anmerkungen zu den kommunikativen Potenzialen im Museum, in G. Isenbort & B. Holtwick (Hgg.): Zur Topologie des Immateriellen (= Szenografie in Ausstellungen und Museen, Bd. 7). Essen 2016, 36-47, hier 41.
Olaf Hartung