Julius H. Schoeps: Im Kampf um die Freiheit. Preußens Juden im Vormärz und in der Revolution von 1848, Hamburg: EVA Europäische Verlagsanstalt 2022, 368 S., ISBN 978-3-86393-594-8, EUR 28,00
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Der Charakter des von Julius H. Schoeps, dem Gründungsdirektor des Potsdamer Moses Mendelssohn Zentrums für europäisch-jüdische Studien und profilierten Kenner der jüngeren Geschichte der Juden in Deutschland, vorgelegten Buches changiert zwischen Gesamtdarstellung, Langessay und Aufsatzsammlung; der Autor selbst äußert sich hierzu nicht ganz eindeutig und beschreibt die "Ausführungen" als Zusammenstellung und Kontextualisierung von bereits Erarbeitetem, die "keine wirklich neuen Entdeckungen und Forschungsergebnisse" bieten, "aber bisher unbeachtete Blickwinkel auftun mögen" (17). Der Titel des Buches ist nicht ganz präzise: Der Begriff "Preußens Juden" ist einerseits zu eng gefasst, denn vereinzelt kommen auch nicht-preußische jüdische Politiker und Denker vor wie der Hamburger Gabriel Riesser, und andererseits zu weit, denn es werden fast ausschließlich altpreußische Schauplätze in den Blick genommen: die jüdischen Gemeinden in Berlin oder Breslau, kaum einmal aber jene im Rheinland.
Auch ist der chronologische Rahmen deutlich über "Vormärz" und die Revolution von 1848 hinaus gespannt: Vorgeschichte und Auswirkungen des Emanzipationsedikts von 1812 sowie die dadurch angestoßenen innerjüdischen Reformdiskussionen werden nicht bloß einleitend, sondern auf breitem Raum geschildert, und das Reaktionsjahrzehnt und die Reichsgründungsepoche nehmen ebenso viel Raum ein wie die Revolution und ihre Vorgeschichte. Präzise ist Schoeps dagegen in der Benennung des Leitmotivs seiner Darstellung, und er gibt damit indirekt auch eine Erklärung für die Inkohärenzen des Buchtitels: "Juden im Vormärz in der Revolution 1848" hieß eine Konferenz in Mülheim/Ruhr im Jahr 1982, auf der renommierte beziehungsweise später Renommee erlangende Forscher den jüdischen politischen Identitäten im 19. Jahrhundert nachspürten und - ohne klare Antwort auf diese Frage - diskutierten, "ob das Streben mancher Juden nach demokratischen Verhältnissen nicht vielleicht symptomatisch und repräsentativ für die jüdische Bevölkerung in den Jahren zwischen 1830 und 1870 war", ob es also eine "besondere Affinität zwischen Judentum und Demokratie" gab (16).
Schoeps hat seinen Stoff in sechs Abschnitten gegliedert, die im Wesentlichen chronologisch ausgerichtet sind. Das erste Kapitel ("Erlasse werden aufgehoben, Schranken fallen") behandelt die Situation der preußischen Juden an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert und mischt dabei, wie Schoeps sein Buch durchgehend strukturiert, Allgemeines und Spezielles: Ausführungen zu Rechtsstellung und sozialen Schichtungen der Juden, eine Analyse des Edikts von 1812, das den Prozess der Emanzipation als einen "Erziehungsvorgang" einleitete (40), eine Kritik des Wiener Kongresses, der mit der generellen Restauration auch die Diskriminierung der Juden wieder aufleben ließ, und dann Porträts einzelner jüdischer Denker, unter denen Schoeps für diese Epoche David Friedländer, Saul Ascher und Moritz Veit heraushebt. Im zweiten Kapitel taucht Schoeps, den chronologischen Rahmen von der Jahrhundertwende bis zum Vorabend der Revolution dehnend, tiefer in die innerjüdischen Reformprozesse ein, indem er biographisch-intellektuelle Skizzen (erneut David Friedländer, Abraham Geiger, Samuel Holdheim) und sachthematische Ausführungen, zum Beispiel zur jüdischen Jugenderziehung oder zu den Rabbinerkonferenzen der 1840er Jahre, miteinander verknüpft.
Im dritten Kapitel ("Am Vorabend der Revolution") überwiegen die Individualbeispiele (Johann Jacoby, Moses Hess, Moritz Veit u. a.), die eindrucksvoll die Bedeutung jüdischer politischer Denker für die Ausbildung der vormärzlichen Opposition belegen, das Sachthematische (u. a. die "Mischehen-Debatte"), das Schoeps um den Vereinigten Landtag von 1847, der wie allgemein so auch in der Frage der Judenemanzipation die Opposition ernüchterte, herum gruppiert. Eklektisch angelegt ist auch das Folgekapitel über die Revolution, in dem Schoeps zunächst den 18. März 1848 in Berlin und die Erinnerung an die Märzgefallenen behandelt, um dann teilweise auf außerpreußisches Terrain zu wechseln mit einem Exkurs über Johann Jacobys parlamentarisches Wirken im Frankfurter Vorparlament und in der preußischen Nationalversammlung sowie mit einer ganz knappen Skizze der Arbeit des Paulskirchenparlaments, die auf die Judenemanzipationsdebatte und die Kaiserwahl fokussiert. Anschließend rücken wieder Einzelwahrnehmungen in den Vordergrund: die beißende publizistische Kritik des Radikaldemokraten Ludwig Kalisch - Jude, aber kein Preuße - an den in der Paulskirche tonangebenden Liberalen und unter dem irreführenden Titel "Die Mairevolution 1849 und der Zerfall der Frankfurter Nationalversammlung" die Flucht- beziehungsweise Strafprozesserfahrungen Heinrich Simons, Johann Jacobys und Benedikt Waldecks. Eine stringent auf die Leitfrage des Buches ausgerichtete und zusammenhängende Argumentation findet sich am Schluss des Revolutionskapitels, wo Schoeps die "politischen Einstellungen und Positionierungen" der preußischen Juden auch zu quantifizieren versucht: In Anknüpfung an Forschungen Rüdiger Hachtmanns konstatiert er, dass die politisch aktiven Juden sich in der Revolution mit deutlicher Mehrheit im demokratischen Lager engagierten, dass bei allen allgemeinen Sympathien für die Revolution aber in den Dörfern und den kleineren Städten ein beträchtlicher Teil der jüdischen Bevölkerung zurückhaltend blieb in der Annahme, "dass ein allzu offen geäußertes Bekenntnis zum Judentum, insbesondere ein Eintreten für die Gleichberechtigung, den Juden eher schaden könne" (173).
Im vorletzten Kapitel, das dem Reaktionsjahrzehnt gewidmet ist, wechselt Schoeps größtenteils die Perspektive und beleuchtet die Umgebungsgesellschaft, die den Juden zunehmend feindlich begegnete. Den Auftakt macht eine biographisch-intellektuelle Skizze Friedrich Julius Stahls, in der Schoeps offenlässt, inwieweit der "Propagandist des christlichen Staates und Mitbegründer der Konservativen Partei" von seinen jüdischen Wurzeln geprägt blieb. Es folgen jeweils recht knappe Ausführungen zur judenfeindlichen Hetze in der "Neuen Preußischen Zeitung" und zu den jüdischen Abwehrreaktionen hierauf, zum Kölner Kommunistenprozess und - sehr überblickshaft - zu den politischen Positionierungen der exilierten Revolutionäre sowie zu den Anfängen des deutschen Rassenantisemitismus, die Schoeps bei Bruno Bauer und Hermann Wagener verortet. Einem Parforceritt, bei dem die Darstellung mitunter in Einzelteile zerfasert, gleicht auch das abschließende Kapitel, in dem Schoeps die Epoche vom Beginn der "Neuen Ära" bis zum Vorabend der Reichsgründung in den Blick nimmt: Erneut Johann Jacoby, Ferdinand Lassalle, Heinrich Bernhard Oppenheim und Ludwig Bamberger sind seine Protagonisten, und mehrfach wird Aaron Bernstein als Zeuge für die jüdischen Wahrnehmungen der politischen Verwerfungen dieser Jahre herangezogen. Sachthematisch geht es um die Anschauungen und Wirkungen jüdischer Frauen, um die Rolle von Juden im "Deutschen Nationalverein" und andere Aspekte mehr, die Schoeps allerdings eher streift als argumentativ ausführt. Dieses Manko wird teilweise aufgehoben durch den längeren Epilog des Buches, in dem Schoeps auch die Frage diskutiert, ob sich die Juden 1866 anders positionierten als die Angehörigen ihrer Umgebungsgesellschaft. Er kommt hier, den Blick über die linken Gegner Bismarcks hinaus weitend, zu dem differenzierten Fazit: "Von einem vereinten Deutschland versprach man sich Verbesserungen für die Lage der Juden und anderer in Preußen lebender Minderheiten. Nichtsdestotrotz blieben bei manchem jüdischen Vertreter auch Skepsis und eine gewisse Zurückhaltung erkennbar. Das Aufgehen Preußens im Deutschen Reich wurde nicht von allen wirklich begrüßt. So bedauerte mancher preußische Jude diese Entwicklung auch, weil man meinte, der preußische Staat würde als souveränes und unabhängiges Gebilde zu bestehen aufhören" (289).
Frank Engehausen