Markus Bernhardt (Hg.): Inklusive Geschichte? Kulturelle Begegnung - Soziale Ungleichheit - Inklusion in Geschichte und Gegenwart, Frankfurt/M.: Wochenschau-Verlag 2021, 288 S., 24 s/w Abb., ISBN 978-3-7344-1225-7, EUR 32,90
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Der Sammelband publiziert zwölf Vorträge einer Ringvorlesung des Historischen Instituts der Universität Duisburg-Essen. Im Vorwort werden bildungspolitische Voraussetzungen skizziert, durch die die Bestimmungen der UN-Konvention über das Recht auf Bildung von Menschen mit Behinderung für Schulen, Hochschulen und Lehrer*innenausbildung gesetzlich verbindlich gemacht wurden. Angesichts der Aufgabe, diese Vorgaben umzusetzen, geht es dem Sammelband darum, "Anregungen für historische oder geschichtsdidaktische Fragestellungen zu gewinnen", die "Orientierungswissen für die multikulturell und global geprägte Lebenswelt" (10) bieten. Anhand der Auseinandersetzung mit Geschichten und Diskursen der Vergangenheit zu inklusiver Geschichte sollen Perspektiven bzw. curriculare Impulse für eine schulische und universitäre Umsetzung aufgezeigt werden. Bereits der Titel verspricht ein dezidiert fachwissenschaftliches Setting. Damit ist der Band abzugrenzen von Überlegungen zu einer inklusiven Geschichtsdidaktik, wie sie jüngst im Handbuch Diversität im Geschichtsunterricht präsentiert wurden. [1] Vielmehr wird in geschichtswissenschaftlicher Perspektive der Blick auf den Umgang mit Vielfalt, Heterogenität und Inklusion gerichtet, um anhand exemplarischer Konkretisierungen gesellschaftliche Prozesse der In- und Exklusion zu verschiedenen Zeiten darzustellen. Dabei wird ein weiter Inklusionsbegriff zugrunde gelegt, der Inklusion im Kontext sozialer Ungleichheit, des Umgangs mit Fremden und der Begegnung von Kulturen versteht. Das entspricht der Einsicht, dass Gesellschaften von jeher vielfältig durch soziale Ungleichheiten geprägt sind. Als soziale Differenzkategorien fungieren Ethnizität, Transkulturalität, Religion, Konfession und impairment, womit die individuelle Schädigung in Abgrenzung von gesellschaftlich bedingter Benachteiligung (disability) bezeichnet wird.
Zu Beginn skizzieren drei Beiträge theoretische Perspektiven in historischer, soziologischer und bildungswissenschaftlicher Hinsicht. Christoph Marx konkretisiert die Begrifflichkeiten von Inklusion und Exklusion, Inter- und Transkulturalität, die Problematik eines essentialistischen Kulturverständnisses und von 'Nichtwissen' (ignorance) am Beispiel Südafrikas zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Er zeigt auf, wie der schottische Missionar Robert Moffert dem Wahrnehmungsmuster seiner Vorurteile verhaftet war und wie der Mythos von der Wildheit afrikanischer Stämme und die Annahme eines Zivilisationsgefälles die Apartheidspolitik legitimierte. Anja Weiß reflektiert Theorien der Soziologie und empirische Analysen zur Ungleichheitsforschung und überlegt, wie das theoretische und methodische Instrumentarium zu erweitern ist, um Ungleichheit in globaler Perspektive angemessen zu erfassen. Als Geschichtsdidaktiker unternimmt Markus Bernhardt eine bildungswissenschaftliche Einordnung und Problematisierung von Inklusion im Forschungs- und Bildungskontext und geht insbesondere auf die schulische Umsetzung in Nordrhein-Westfalen ein.
An diese Grundsatzreferate schließen historisch orientierte Beiträge an, die einen weiten Bogen von der Antike bis in die Gegenwart spannen: Sie reichen vom Umgang mit Ortsfremden in der Antike (Wolfgang Blösel), mit Armen und Kranken im Mittelalter (Amalie Fößel), der Disambiguierung jüdischer Bevölkerung in Spätmittelalter und Früher Neuzeit (Benjamin Scheller), Konfessionalisierung als Leitdifferenz im Zeitalter der Reformation (Stefan Brakensiek) über Ausgrenzung der Sinti und Roma im Rhein-Maas-Raum (Ralf-Peter Fuchs), ethno-konfessionelle Vielfalt im Osmanischen Reich (Berna Pekesen), Behinderung als Thema der Sozialgeschichte (Ute Schneider) bis hin zu einer Analyse zu Ambivalenzen der Moderne (Frank Becker) und der Sicht auf das Museum als Heterotop und Identitätsfabrik (Theodor Grütter).
Für die griechische Antike beobachtet Wolfgang Blösel ein Nebeneinander von Ortsfremden und Einheimischen, er erkennt darin "nach heutigem Maßstab eine Überfremdung im urbanen Raum" (82), freilich bei rechtlicher Ungleichheit der Metöken. Augenfällig erscheint die ethnische Heterogenität in römischen Gründungsmythen; in der Republik kämpften Nichtbürger im Bundesgenossenkrieg für ihre rechtliche Gleichstellung, während die kaiserzeitliche Bürgerrechtspolitik rechtliche Integration intendierte. Amalie Fößel gibt einen fundierten Überblick über die mediävistische Forschung zu Randgruppen und disability history. Sie betrachtet den 'Narren' als Paradebeispiel des gesellschaftlichen Außenseiters und geht auf 'Arme und Kranke' ein, deren Versorgung als Teil christlichen Gebots durch soziale und ärztliche Fürsorge städtischer und kirchlicher Initiativen oder verwandt- und nachbarschaftliche Netzwerke gesichert war. Benjamin Scheller untersucht die Ausweisungen von Juden aus England, Frankreich, Spanien und dem Königreich Neapel und stellt fest, dass erst ab dem späten 12. Jahrhundert ein Prozess der Entpluralisierung eingesetzt habe: Konversionen - teilweise unter Zwang vollzogen - und daraus resultierende ambige religiöse Identitäten hätten Anlass geboten, an der Rechtgläubigkeit der Konvertiten zu zweifeln. Ralf-Peter Fuchs zeigt auf, dass die gastfreundliche Aufnahme von Sinti und Roma zu Beginn des 15. Jahrhunderts in Nimwegen und Arnheim christlicher Ethik gefolgt sei. Erst infolge von Territorialisierung und frühmoderner Staatsbildung sei es im Rhein-Maas-Raum zu systematischer Ausgrenzung und Verfolgung gekommen. Berna Pekesen analysiert das kulturelle Nebeneinander im Millet-System des Osmanischen Reichs, wobei sie die prinzipielle Ungleichheit der Untertanen hervorhebt und betont, dass erzwungene Assimilation teils mit drastischen Repressionen gegen vermeintlich häretische Muslime einhergegangen sei. Die Idee des türkischen Nationalstaats habe das Ende der ethnisch-konfessionellen Vielfalt markiert und eine Politik massiver Ausgrenzung eingeleitet. Frank Becker arbeitet an Nationalismus, Sozialismus bzw. Kommunismus und Fordismus exemplarisch Ambivalenzen der Moderne heraus, deren Versprechen von Emanzipation durch einen Anpassungsdruck begleitet würden, der einer freien Lebensgestaltung des Individuums zuwiderlaufe.
Der Aufsatzband zeigt vielfältige Facetten historischer Prozesse von In- und Exklusion auf. Der epochenübergreifend und inhaltlich weit gespannte Bogen der hier gebotenen europäischen Zusammenschau ist aufschlussreich und lässt die Perspektive aufscheinen, dass im Europa der Vormoderne ein Neben- und Miteinander ethnisch, religiös bzw. kulturell differenter Gruppen, zwar unter Hinnahme ihrer rechtlichen Benachteiligung, aber doch weitgehend akzeptiert war. Mit der ab dem Spätmittelalter einsetzenden Verrechtlichung und Vereinheitlichung lässt sich dann vermehrt beobachten, dass "andere" Gruppen als nicht zugehörig erlebt, ausgegrenzt und verfolgt werden. Aus dieser Beobachtung sowie aus der Fülle der vorgetragenen Erkenntnisse lassen sich sinnvolle Anhaltspunkte zur Behandlung und Reflexion inklusiver Geschichte in Geschichtsunterricht und Lehrer*innenbildung finden. Damit gibt der Band nicht nur Lehrenden und Referendar*innen geeignete historische Anregungen, sondern leistet auch einen Beitrag zu einer künftigen curricularen Implementierung historisch relevanter Inhalte zu inklusiver Geschichte.
Anmerkung:
[1] Vgl. dazu z.B. Sebastian Barsch / Bettina Degner et al. (Hgg.): Handbuch Diversität im Geschichtsunterricht. Inklusive Geschichtsdidaktik, Frankfurt/M. 2020.
Eva Wittneben