Benjamin Reiter: Nationalsozialismus im Schulgeschichtsbuch. Zulassungsverfahren und die Aushandlung von Geschichtskultur in Bayern ab 1949 bis in die 1970er Jahre (= Beihefte zur Zeitschrift für Geschichtsdidaktik; Bd. 25), Göttingen: V&R unipress 2021, 396 S., ISBN 978-3-8471-1287-7, EUR 55,00
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Fast kann man sich bildlich vorstellen, wie der Autor - Benjamin Reiter, damals Redakteur beim Verlag C.C. Buchner - mit seinen Kolleg:innen 2014/15 auf den Bescheid des Kultusministeriums bezüglich des vom Verlag neu entwickelten Geschichtslehrwerks wartete. So wählt der Autor, der mit dieser Monographie seine Dissertation vorlegt und im Projekt WegE (Wegweisende Lehrerbildung) der Universität Bamberg arbeitet, den anekdotischen Einstieg in sein Thema: Nationalsozialismus im Schulgeschichtsbuch.
In der Einleitung wird ein konziser Problemaufriss für die Themenwahl und das ihr zugrunde liegende Forschungsdesiderat geliefert. Dabei werden Schulbücher als geschichtskulturelle Leitmedien und Kompromisslösungen vorgestellt, die in "konfliktträchtigen Aushandlungsprozessen innerhalb einer 'Diskursarena'" (11) entstehen. Der Untersuchung als theoretischer Rahmen ist ein Begriffspaar beigegeben, das im Zusammenspiel von Bernd Schönemanns Geschichtskultur und Antonio Gramscis kultureller Hegemonie (12) als "geschichtskulturelle Hegemonie" und "hegemoniale Geschichtskultur" bezeichnet wird. Das Zulassungsverfahren von Schulbüchern wird dabei als Hegemonieapparat verstanden und konsequent als solcher durchleuchtet.
Benjamin Reiter befasst sich insgesamt mit dem Zulassungsverfahren für Schulgeschichtsbücher in Bayern zwischen 1949 und 1974, wobei die Entwicklungen bis in die 1970er-Jahre hinein wirksam sind. Er fragt nach normativen, strukturellen und akteursbezogenen Bedingungen der Schulbuchproduktion zwischen der ersten und dritten Schulbuchgeneration und stellt dabei die Fragen (13): Wer erinnert sich an die Vergangenheit? An welche Vergangenheit sollte erinnert werden? Wie sollte an Vergangenheit erinnert werden? Um diese Fragen zu beantworten, benutzt Reiter vielfältige Quellen aus dem Produktions- und Zulassungsprozess, solche zu bildungspolitischen Rahmenbedingungen, Lehrpläne und Verordnungen, Korrespondenzen des Kultusministeriums, Gutachten und Protokolle verschiedener Akteur:innen, Stellungnahmen der Verlage und Interessenverbände sowie einzelne Personalakten. Auf dieser Basis entsteht eine detaillierte und gleichzeitig gut lesbare Studie rund um Institutionen, Akteur:innen und Prozesse.
Im folgenden Kapitel befasst sich Benjamin Reiter mit der Entwicklung und Struktur der Zulassungsverfahren, die er in ihren prozessualen Rahmenbedingungen und im historischen Wandel schildert. Er verdeutlicht, wie der gesinnungsbildende Geschichtsunterricht durch den Nationalsozialismus diskreditiert ist und nun als demokratischer, kritisch-hinterfragender Unterricht neu geschaffen werden muss, was nicht ohne Friktionen möglich war. Als Meilensteine identifiziert er 1950 die Auffassung vom Menschen als Träger der Geschichte, eine zweite Zäsur erkennt er 1959, in dem die Zeitgeschichte im Geschichtsunterricht gestärkt und der Nationalsozialismus als gewichtiger thematischer Aspekt derselben definiert wurde. In diesem Kapitel spielen die beteiligten Akteure eine besondere Rolle, allen voran die Sachverständigen/Gutachter, denen Reiter eine "hohe argumentative Macht" (148) zuschreibt. Gleichzeitig aber wird verdeutlicht, wie das Kultusministerium das Zulassungsverfahren als geschichtspolitisches Instrument in der "Diskurs-Arena" nutzt und es dabei reguliert und standardisiert. Gerade dieses Auftreten führt aber Ende der 1960er-Jahre, so Reiter, zu einer Infragestellung, wenn das Argument der Qualitätskontrolle dem des illegitimen Steuerungsinstruments gegenübergestellt wird. Insbesondere die zeitgenössischen Zitate vermögen hier immer wieder, die Positionen, aus denen Reiter seine Schlüsse zieht, hervorragend nachzuvollziehen. Besonders erhellend sind darüber hinaus die Ausführungen zum antikommunistischen Eingriff durch Franz Josef Strauß (94ff.) sowie zu den Verlagsstrategien (132ff.), mit denen Letztere - ihres Zeichens weniger mächtige Akteure - versuchen, das Zulassungsverfahren für sich zu nutzen oder zumindest mit und in ihm zurechtzukommen.
Im nun folgenden dritten Teil, der den Kernpunkt der Untersuchung darstellt, geht es um die Aushandlung von Inhalten in fünf von Reiter identifizierten thematischen Konfliktfeldern. Diese sind: (1) Weimars Ende. Wer hat Schuld am Aufstieg des Nationalsozialismus?, (2) "Wer war dieser Hitler?" Zwischen Psychologisierung und Historisierung, (3) "Hitler und die Juden." Verortung und Gewichtung des Antisemitismus, (4) Verblendet oder überzeugt? Bevölkerung und "Drittes Reich", (5) Opfer? Bevölkerung, Hitler und der Zweite Weltkrieg. Benjamin Reiters systematisches Vorgehen ermöglicht eine rasche Orientierung in jedem dieser Konfliktfelder. Nach einem Aufriss, der das Thema historisch umreißt, folgt jeweils eine Schulbuchanalyse anhand ausgewählter Schulbücher, anhand derer sich die Entwicklung und konkurrierende Positionen besonders gut aufzeigen lassen. Danach betrachtet der Autor das Zulassungsverfahren, wobei einerseits der Konflikt genau bestimmt wird und andererseits jeweils die hegemoniale Position herausgearbeitet wird, sowie abweichende Positionen eine Einordnung erfahren. In jedem Konfliktfeld werden die gesellschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen angedeutet, manchmal sind sie an Einzelbeispielen auch näher ausgeführt. Hier hätte man sich durchaus weitere Betrachtungen vorstellen können, beispielsweise zur Wiedergutmachungspolitik der Bundesrepublik oder zur Abgrenzung vom Umgang der DDR mit dem Nationalsozialismus. Wie fruchtbar nämlich diese Kontextualisierungen sind, zeigt sich beispielsweise am Hinweis auf unsichtbare Akteur:innen, wie es Eltern und andere sind. Hier skizziert Reiter, wie das Konfliktfeld der Sachverständigen zum Wissen und zur Beteiligung der deutschen Bevölkerung gleichermaßen familiäres (generationelles) Konfliktfeld ist, wenn sich Fragen nach Schuld und Verantwortung stellen (225, 287).
Insgesamt kommt Reiter zu dem Schluss, dass die Schulgeschichtsbücher der späten 1940er bis 1970er-Jahre durch ein - aus heutiger Sicht - antitotalitäres und hitlerzentriertes Deutungsmuster (318) geprägt sind. Reiter verzichtet hier auf eine breite Diskussion der Tatsache, dass diese Deutungsmuster auch die Geschichtswissenschaft der Zeit und letztlich auch den gesamtgesellschaftlichen Diskurs bestimmten. Trotzdem bleibt das Gesagte stets nachvollziehbar und auch dynamisch: Es wird an keiner Stelle behauptet, dass es sich um eine statische Textgestalt handelt. Im Gegensatz: Benjamin Reiter zeigt auf, wie sich Schulgeschichtsbücher im Laufe dieser zweieinhalb Jahrzehnte veränderten, wie häufig ein Erklärungsmuster durch ein anderes abgelöst oder zumindest infrage gestellt wurde. Deutlich ist dabei die zunehmende Historisierung des Stoffes, die stärkere Opferzentrierung sowie die Öffnung für mehr historische Akteursgruppen (Pluralität der Perspektiven).
Im vierten, kürzeren Teil führt Benjamin Reiter die Erkenntnisse seiner Untersuchung schließlich zusammen und gibt einen vor allem didaktischen Ausblick. Er stellt dabei fest, dass mit der Arbeit methodologisch ein kritisches Verständnis der Produktion von Geschichtskultur in Schulgeschichtsbüchern möglich sei. Zudem werde kultur-politikgeschichtlich der Umgang Bayerns mit der Geschichte des Nationalsozialismus im Sinne einer "zweiten Geschichte des Nationalsozialismus" (359) erhellt. Mediendidaktisch werde ein Verständnis für Probleme aktueller Produktionen von Schulgeschichtsbüchern vertieft. Dieser Selbsteinschätzung kann nur zugestimmt werden.
Das Werk von Benjamin Reiter bietet eine nicht nur geschichtsdidaktisch wertvolle, lesenswerte Ergänzung der Monographien von Philipp Mittnik, der 2017 deutsche, österreichische und englische Schulbücher hinsichtlich ihrer Darstellung des Holocausts verglich, sowie von Etienne Schinkel, der 2018 untersuchte, wie Holocaust und Vernichtungskrieg in Schulgeschichtsbüchern der 1970er und 1980er-Jahre dargestellt wurden.
Heike Wolter