Thomas Piketty: Eine kurze Geschichte der Gleichheit, München: C.H.Beck 2022, 264 S., 41 s/w-Abb., 3 Tbl., ISBN 978-3-406-79098-0, EUR 25,00
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Kaum ein Sachbuchautor dürfte in den letzten Jahren weltweit so stark rezipiert worden sein wie Thomas Piketty. Der an einer Pariser Elitehochschule lehrende Wirtschaftswissenschaftler legte mit "Das Kapital im 21. Jahrhundert" und "Kapital und Ideologie" zwei sehr umfangreiche Werke über die aktuelle Verfasstheit des Kapitalismus vor. Nun erschien ein neues, kürzeres Buch, das er gewissermaßen als Resümee seiner bisherigen Arbeiten ansieht. Es stellt auch eine Reaktion auf die oftmals von Leserinnen und Lesern an ihn herangetragene Bitte dar, sich kompakter zu fassen, wie er im Vorwort anmerkt. Die Publikation fasst aber nicht nur die Ergebnisse seiner anderen Bücher zusammen, sondern bietet einen Blick in die Geschichte des Kampfes um die Gleichheit und formuliert zugleich Perspektiven für eine mögliche zukünftige Entwicklung. Dieser Kampf werde seit langer Zeit geführt und sei noch nicht abgeschlossen. Deshalb müsse er fortgesetzt werden. Hierfür seien ökonomische und historische Kenntnisse zentral, die deshalb nicht einer kleinen Kaste von Spezialisten überlassen werden sollten. Piketty plädiert für eine neue Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, die vor allem auch die Auseinandersetzungen um soziale Gleichheit reflektiert. Er ist keineswegs pessimistisch, sondern betont die Errungenschaften in dieser Hinsicht, allerdings ohne die zahlreichen Rückschritte auszublenden oder gar einen Geschichtsdeterminismus zu vertreten. Vielmehr macht er sich in zehn Kapiteln auf, den Kampf um Gleichheit historisch zu rekapitulieren.
Zunächst konstatiert Piketty einen realen Fortschritt hinsichtlich der Bildung und Gesundheit großer Teile der Weltbevölkerung in den letzten Jahrhunderten. Die deutlich gestiegene Lebenserwartung drückt diese Entwicklung aus. Dennoch erblickt der Autor große Defizite darin, den Fortschritt angemessen zu erfassen. Die Fixierung auf das Bruttoinlandsprodukt als Indikator hält er für verkürzt und fordert deshalb, Umwelt- und (Un-)Gleichheitsfaktoren mit einzubeziehen.
Er erläutert die Vermögens- und Einkommensentwicklung in Frankreich seit der Französischen Revolution und die langsame Entstehung einer Mittelschicht, für die eine progressive Sozial- und Steuerpolitik entscheidend gewesen sei. Piketty diskutiert die Gründe für die Sonderentwicklung Europas, die great divergence, und zielt dabei insbesondere auf die Bedeutung der Sklaverei ab. Sie habe eine "zentrale Rolle beim Aufkommen des westlichen Kapitalismus gespielt" (76). Hinzu trat die Funktionsweise des Staates und die Machtverteilung, um die in den zahlreichen Kämpfen seit dem späten 18. Jahrhundert immer wieder gerungen wurde. Auch wenn die Sklaverei und der Kolonialismus überwunden wurden, sind ihre Auswirkungen bis in die Gegenwart doch verheerend. Piketty beschreibt exemplarisch den Fall des ehemaligen Juwels des französischen Kolonialismus: Haiti. Die Bevölkerung auf der Insel bestand kurz vor der Revolution 1789 zu gut 90 Prozent aus Sklaven. Als die erfolgreiche Revolution den Sklaven die Freiheit verweigerte, erhoben sie sich 1791 und proklamierten 1793 selbst ihre Befreiung. Die Wiedereinführung der Sklaverei in den Kolonien unter Napoleon konnten sie abwehren. Als Frankreich aber schließlich 1825 die Unabhängigkeit anerkannte, ließ es sich diese Geste teuer bezahlen, mit 150 Millionen Goldfrancs. Diese Summe entsprach 300 Prozent des haitianischen Nationaleinkommens. Erst in den 1950er-Jahren, also über 120 Jahre nach der Unabhängigkeit gelang es Haiti, diese Schulden endgültig zu begleichen. Diese Ausgangslage hemmte die Insel massiv in ihrer Entwicklung, bis heute. Haiti stellt lediglich ein Beispiel dafür dar, wie sehr die globale Reichtumsverteilung vom Kolonialismus und der Sklaverei geprägt ist.
Deshalb tritt Piketty für einen globalen Ausgleich ein, eine monetäre Entschädigung für das erlittene Unrecht. Damit seien zwar keineswegs alle Ungleichheitsprobleme aus der Welt, aber es würde einen wichtigen Schritt darstellen.
Der Kolonialismus und die Sklaverei seien beendet, aber die ökonomische Ungleichheit wirke fort, auch innerhalb der Industriegesellschaften. Deshalb geht der Autor der Entwicklung der Gleichheit seit der Französischen Revolution 1789 und der Herausbildung demokratischer Strukturen am Beispiel Schwedens nach. Das Land eigne sich gut zur Darstellung, weil es lange Zeit eines der ungleichsten und undemokatischsten Länder in Europa gewesen sei, sich aber innerhalb weniger Jahrzehnte massiv gewandelt habe. Daran zeigt Piketty, welche Veränderungen historisch möglich sind. Heutzutage würden die demokratischen Prinzipien in vielen Staaten allerdings erneut zugunsten einer Wirtschaftsplutokratie zurückgedrängt.
Dabei spielte sich zwischen 1914 und 1980 in den westlichen, aber auch in vielen anderen Ländern eine gegenteilige Entwicklung ab: eine spektakuläre Umverteilung von oben nach unten, wie Piketty im folgenden Kapitel darlegt. Dafür benennt er vor allem zwei ausschlaggebende Faktoren, den Aufbau des Sozialstaats und die Einführung progressiver Steuern. Hinzu kamen die faktische Streichung der Staatsverschuldungen und die Liquidation von Auslandsvermögen, ohne die der Wiederaufbau Europas kaum möglich gewesen wäre.
Die Politik setzten hauptsächlich, aber nicht ausschließlich progressive, sozialdemokratische Regierungen um und brachten damit eine systemimmanente Transformation des Kapitalismus in Gang.
Der Autor unterbreitet schließlich einige Vorschläge, was für eine derartige Politik heutzutage hilfreich und notwendig wäre. Dabei strebt er eine reale Gleichheit gegen sowohl soziale als auch rassistische Diskriminierung an. Um beispielsweise Bildungsgleichheit herzustellen, befürwortet er eine positive Diskriminierung anhand sozialer Kriterien. Ferner sucht er nach Wegen aus dem Neo-Kolonialismus, der Abhängigkeit des Globalen Südens von den Industrieländern, deren Reichtum ohne die Unterdrückung und schamlose Ausbeutung der ehemaligen Kolonien nicht zustande gekommen wäre. Piketty setzt sich für einen weltweiten sozialen Föderalismus ein. Nur ein derartiges universalistisches Projekt könne das Abdriften in identitäre oder totalitäre Politik verhindern.
Das abschließende Kapitel stellt ein Plädoyer für einen demokratischen, ökologischen sowie ethnisch und kulturell diversen Sozialismus dar. In Erinnerung an die vergangenen Kämpfe müsse der Kampf um die Gleichheit im 21. Jahrhundert fortgesetzt werden. Gerade auch vor dem Hintergrund der Klimakrise bedürfe es einer umfassenden Transformation des Wirtschaftssystems und der Wohlstandsverteilung. Diese Vision grenzt er von dem autoritären Realsozialismus der Vergangenheit und der digitalen Diktatur in China ab. Ein universalistischer Souveränismus, der bemüht ist, durch transnationale Kooperation eine Sozial- und Umweltpolitik hin zu mehr Gerechtigkeit umzusetzen, gegebenenfalls aber auch nationalstaatlich agieren kann, scheint für Piketty ein gangbarer Weg. Sein Erfolg sei jedoch keineswegs sicher.
Piketty gelingt es, auf gut 250 Seiten die Leserinnen und Leser zu einem Parforceritt durch die Kämpfe um Gleichheit in der Moderne, ihre Erfolge und Misserfolge mitzunehmen. Das Buch ist gut zugänglich und eignet sich - gemäß der Intention des Autors - für ein breites Publikum. Er vertritt klassisch sozialdemokratische Positionen, die in weiten Teilen der europäischen Gesellschaften nach 1945 Konsens gewesen waren, heutzutage aber radikal erscheinen. Mit New Labor in Großbritannien, dem Dritten Weg und den Hartz-Reformen in Deutschland haben sich diese Vorzeichen jedoch deutlich verschoben. Neben der politischen Agenda Pikettys, die man teilen kann oder auch nicht, liefert sein Buch spannende Erkenntnisse. Er macht deutlich, dass die Ökonomie zentral für das Verständnis historischer Prozesse ist. Sein Buch ist ein Plädoyer dafür, dass sich ihr auch Historikerinnen und Historiker stärker zuwenden sollten. Dieser Aufforderung nicht nachzukommen, wäre verheerend, falls die Geschichtswissenschaft den Anspruch erhebt, zur Erkenntnis der Gegenwart beizutragen.
Sebastian Voigt