Christoph Auffarth / Anne Koch / Alexandra Grieser (Hgg.): Religion in der Kultur - Kultur in der Religion. Burkhard Gladigows Beitrag zum Paradigmenwechsel in der Religionswissenschaft, Tübingen: Tübingen University Press 2021, 420 S., ISBN 978-3-947251-41-4 , EUR 40,90
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Die Aufsatzsammlung von Schülern Burkhard Gladigows erschien mit Beiträgen in deutscher und englischer Sprache. Fachkollegen und ehemalige Studierende stellen die Wissenschaftsgeschichte dieses Faches und den eingeforderten Arbeitsansatz jenseits der Theologien und der Kategorie des Heiligen als Forschungsvoraussetzung dar.
Der Band hat drei Teile: 1. Der Kontext der Disziplin, 2. Europäische Religionsgeschichte, 3. Erschließen neuer Gegenstände für die Religionswissenschaft. Allen Beiträgen innewohnend ist die Vielfalt und Widersprüchlichkeit innerhalb dieser Disziplin, ihrem natur- und sozialwissenschaftlichen Anspruch an die Methodik entsprechend, und damit gleichermaßen deren Möglichkeiten des Missverstehens, des Aneckens, der Provokation - sei es im Untersuchungsgegenstand oder in den Personen, die solche innovativ-kreativen Ansätze durchführen.
Den Auftakt machen A. Grieser und A. Koch mit "Religion in Culture - Culture in Religion", an Clifford Geertz anknüpfend, aber darüber hinausgehend. Sie beschreiben den Paradigmenwechsel, von Gladigow eingeleitet und zementiert. - Der erste Block behandelt den Kontext der Disziplin. Die Beiträge beschreiben die Systematik, die Gladigow in diese Disziplin einführte und sie damit transformierte. Seiwert schildert die Professionalisierung des Faches in der BRD, die mit der Wahl eines neuen Vorstands der DVRG 1980 begann, nachdem die Vereinigung seit 1950 mit schwachem institutionellen Rahmen bestand und ab den 1960er-Jahren nicht vom allgemeinen Aufruhr verschont blieb. Dies zeigte sich besonders 1975 in Darmstadt, als vier Bonner Doktoranden - wissenschaftliche "Nobodies" - neue methodologische Reflexion über den Forschungsgegenstand einforderten, mit deutlicher Abkehr von Theologien und Phänomenologie. Die DVRG überlebte die schwierige Phase dank Gunther Stephenson, bewegte sich weiter im strukturellen Nachteil zwischen dem Selbstverständnis als eigenständiger wissenschaftlicher Disziplin und weitgehender Ignorierung durch die akademische Öffentlichkeit. Dies sollte sich mit der Wahl des Indologen Heinrich von Stietencron zum Vorsitzenden 1980 ändern. Mit Einrichtung neuer Lehrstühle gelang die weitere, sich konsolidierende Sichtbarmachung als einer von der Theologie unabhängigen Disziplin. Die Umbenennung von Religionsgeschichte (als Gerüst) in Religionswissenschaft (als "Fleisch"-gebende Disziplin) im Jahr 2005 gehörte dazu. Gladigow prägte die DVRW über 25 Jahre, konstruktiv wie kreativ verändernd.
J. Rüpke stellt in "Systematische Religionswissenschaft" und "Religionsgeschichte" die Entwicklung von Joachim Wach zu Gladigow dar; auch er beginnt mit der Schwierigkeit der Begrifflichkeit, wenn Religionswissenschaft übersetzt werden soll. Gladigows Verdienst sei die Entwicklung wissenschaftlicher Programmatik und Praxis einer Religionswissenschaft als systematisierender Ort einer "alte" Kulturen thematisierenden Kulturwissenschaft, wie sie im "Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe" (HrwG) und der Ausrichtung als Europäische Religionsgeschichte dargelegt wird. Er plädiert für die Begriffskombination von "systematischer Religionswissenschaft und Religionsgeschichte", um kulturelle Unterschiede in anthropologischer Generalisierung nicht verloren gehen zu lassen und durch den fruchtbaren dritten Weg einer im positiven Sinn "provinzialisierten" Religionsgeschichte Generalisierungen mittlerer Reichweite zu erlauben.
H. Cancik und H. Cancik-Lindenmaier beschreiben das Projekt "Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe" (1969-2001, fünf Bände). Das HrwG hat eine lange Vor- und Frühgeschichte, die 1969 im FB "Altertums- und Kulturwissenschaften" als informelle Gruppe von Dozenten und Doktoranden begann. Das zitierte Fazit von Fritz Graf am Ende "[...] das Grundanliegen, Religionswissenschaft aus dem Einflussbereich von Theologie und Missionswissenschaft hinüber in die Human- und Sozialwissenschaften zu nehmen, ist heute noch [...] aktuell, wenn nicht noch aktueller in einer Universitätslandschaft, deren reduzierte theologische Fakultäten zunehmend die Religionswissenschaft als Beschäftigungs- und Legitimationsmittel ausgemacht haben", hat zum jetzigen Zeitpunkt nichts an Bedeutung verloren.
H. Junginger betont die Säkularität in Gladigows Ansatz einer programmatischen Unterscheidung zwischen religiöser und wissenschaftlicher Erkenntnis als Grundvoraussetzung für das Fach. Bei wissenschaftlicher Arbeit gehe es immer um die Vorstellung/en von Gott oder Göttern, was Viele irritiere, die das Befassen mit "Religion" außerhalb eines religiösen Orientierungsrahmens nicht kennen. G. Kehrer legt mit "Religionssoziologie in der DDR" einen Beitrag vor, den er gerne ausführlicher bearbeitet hätte. Die Geschichte der marxistisch-leninistischen Religionssoziologie in der DDR von Detlef Schirrow wurde ironischerweise im letzten Jahr jenes deutschen Staates geschrieben.
H. G. Kippenberg führt auf 30 Seiten "Eine kanonische Präfiguration für Gewalt. Muslimische Gemeinschaften im Konflikt mit Mächten des Unglaubens" aus. Er ordnet die Anschläge von 09/11 in das Konzept des - religiös legitim(iert)en - Widerstandes gegen ausbeuterische Besatzungspolitik legitimierter säkularer Gewalt durch die USA und Israel und weltweite Demütigung der Muslime ein, wofür diese auf ein historisches Vorbild zurückgreifen konnten: den Grabenkrieg des Propheten 627 n. Chr. Er sieht den gemeinsamen Nenner in der Kriegserklärung Bin Ladens gegen die USA und der USA im Kampf gegen ihn in der Tatsache der "öffentlichen Religion", gegen alle Privatisierungsbestrebungen weltweit.
A. Grieser, C. Auffarth und A. Hermann erörtern im 2. Block unterschiedliche Umgangsweisen mit dem Gegenstand einer Europäischen Religionsgeschichte. Sie belegen und verteidigen die Innovation des Ansatzes und seinen konzeptionellen Pluralismus, der Prozesse der Veränderung in einer miteinander verflochtenen Welt durch Analyse semantischer Veränderungen und struktureller Dimensionen besser verstehen lasse.
Die Erschließung neuer Gegenstände umfasst fünf Beiträge. V. Makrides beschreibt Naturwissenschaften im Rahmen einer Europäischen Religionsgeschichte: Naturphilosophie, Physiko-Theologie, Aufklärung, Romantik bis zu Science Fiction (als moderner "Erlösungsreligion") und Religion an bisher wenig beachteten europäischen Rändern.
S. Dix erörtert in "'Mitlaufende Alternativen' in der Europäischen Religionsgeschichte als künstlerische Inspirationsquellen [...]" seine Forschung zu Fernando Pessoa, einem "Meister der Paradoxa und Widersprüche", dessen Gesamtwerk als "lebendiges Zeugnis" für die von Gladigow beschriebene Europäische Religionsgeschichte gelten kann, dessen Höhepunkt in der Moderne liegt (314). Pessoas Werk sei "offenkundige Widerlegung der Säkularisierung", beständige Transzendenzerfahrung.
A. Koch erläutert in "Modelling an 'Economics of Religion'" Gladigows disziplinarisches "Start-Up Unternehmen" - ein Modell, das selbst Wirtschaftswissenschaftler interessieren dürfte, von Marketing-Spezialisten ganz zu schweigen: Die Entstehung und Konfiguration einer "Religionsökonomie", die schmunzeln lässt. Wer behandelte den Gegenstand "Religion" als "Erlösungsökonomie" mit kulturellem "Belohnungssystem" unter dem Blickwinkel von "Risikomanagement"? Die Metapher der Buchhaltung und des Rechnens ist in den Religionen weltweit verbunden mit rituellem Austausch und spirituellen Angelegenheiten; man denke an Bedingungen der Finanzierung religiöser Institutionen, die immer mit sie umgebender Wirtschaft verbunden sind. Sie resümiert, dass ein Prophet ein "selbst angestellter Erlösungsexperte ohne jegliches Startkapital" sei, "der nicht auf die Idee der Lagerhaltung komme" (328).
V. Krech beschreibt in "Die Teilung des Opfers: Religion zwischen Biologie und Soziologie" diesen zentralen Gegenstand von Religion(swissenschaft) in seiner Komplexität. - Das "Metzler Lexikon Religion" wird von Hubert Mohr und C. Auffarth dargestellt - abenteuerliches Unterfangen mit innovativem Ansatz und kontrovers diskutiertem Ergebnis. Zu Recht als "eines der seltsamsten Publikationsabenteuer der deutschen Religionswissenschaft" bezeichnet (371) lässt Einiges erahnen.
Der Band schließt mit einem Überblick über Gladigows Schriften und Arbeiten von Schülern. Deutlich wird, dass die Diskussion über die Eigenbezeichnung dieser bekenntnisneutralen Disziplin unerlässlich ist und der Klärung bedarf, will man sie nicht der Gefräßigkeit der Theologie/n überlassen, die aufgrund bestehender Infrastruktur und eigener Legitimationsschwierigkeiten die Tendenz haben, sich in Raupen oder Heuschrecken zu verwandeln und für die Religionswissenschaft - zwar nicht zur biblischen - aber zur Plage zu werden. Wahnsinnig muss man als Religionswissenschaftler nicht sein, aber man kann es im Zuge des Überlebenskampfes gegen die Großkonzerne Theologischer Fakultäten werden, vor allem als Konfessionsfreie. Gerade der pluralistische Ansatz birgt Freiraum für soliden Erkenntnisgewinn, den Theologien kaum bieten - es sei denn, sie "klauen", um eigene Defizite zu kaschieren, von Verunsicherung im Glauben oder Verlust der Pfründe abzulenken. Der kulturwissenschaftliche Zugriff auf den Forschungsgegenstand "Religion" lässt die Wahrheitsfrage bewusst außen vor; Religionswissenschaftler w(s)ollen Glaubenswahrheiten nicht verkünden, das ist weder Aufgabe noch Ziel. Ähnlich geht es Islamwissenschaftlern: Bei Beiden geht es um kulturelle Kompetenz. Bei Zusammenarbeit mit Theologischen Fakultäten handelt es sich eher um Zweckbündnisse als Liebesheiraten.
Fazit: Die Schüler aus der "Tübinger Schule" haben Flügel bekommen, ganz nach dem Titelbild "Patterned Freedom" von Volker Scheub, inspiriert von M. C. Escher's "Swans" von 1938.
Assia Maria Harwazinski