Francesco Montorsi / Fanny Maillet: Les Chroniques et l'histoire universelle. France et Italie (XIIIe - XIVe siècles) (= Rencontres; 537), Paris: Classiques Garnier 2021, 319 S., ISBN 978-2-406-11907-4, EUR 32,00
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Dank innovativer Zugänge, interdisziplinärer Perspektiven oder intensiver Handschriften- und Textstudien konnten zuletzt neue Erkenntnisse über die mittelalterliche Historiographie gewonnen werden - vom Selbstverständnis der Geschichtsschreiber über Methoden und Sprache bis hin zu Rezeption und Überlieferung. Indes hält nicht zuletzt die Geschichtsschreibung des Spätmittelalters einen umfangreichen, teils noch unerschlossenen Fundus bereit. Auf einer Zürcher Tagung hat man sich 2019 dessen angenommen - und zwar mit Fokus auf die volkssprachliche Universalchronistik des 13.-14. Jahrhunderts aus dem französischen und italienischen Raum. Deren Ergebnisse finden sich im hier zu besprechenden Band publiziert. [1]
In der Einleitung (7-13) werden drei Schwerpunkte für die Untersuchung spätmittelalterlicher Universalchroniken ausgemacht: 1) Texttraditionen, denn die quellenkundlichen Hilfsmittel seien unvollständig, auch bedürfe es eines systematischen Vergleichs der Überlieferung; 2) der kompilatorische Charakter; 3) Modellfragen, da sich mit dem Einzug der Volkssprachen etwa Formen und Absichten änderten. Die folgenden 13 Beiträge nehmen diesen Faden, aufgefächert in fünf Sektionen, auf.
Die erste Sektion behandelt die französische Universalchronistik. Jean-Marie Fritz widmet sich dem anonymen Renart le Contrefait (17-35), der sich aus einem Abschnitt zur biblisch-antiken Historie in gebundener Sprache und einem bis 1328 reichenden Teil in Prosa zusammensetzt. Letzterer sei im Wesentlichen eine Interpolation des Manuel d'histoire de Philippe de Valois, der bisweilen verändert und ergänzt worden sei. Die Nutzung des Manuel weist Laura Endress ebenfalls für eine Textklasse (nach 1415) der um 1280 entstandenen Chronik des Balduin von Avesnes nach (85-110). In neun Handschriften wird das Werk als Trésor des histoires und Trésor de sapience betitelt, von denen ein Quartett Zusätze enthält, die aus dem Manuel geschöpft, aber umplatziert worden seien. Zwei weitere Textzeugen seien demselben Zweig zuzuordnen, da sie identische Korrumpierungen enthalten.
Die Histoire ancienne jusqu'à César aus dem frühen 13. Jahrhundert betrachten Maria Teresa Rachetta (37-61) und Anne Rochebouet (63-84). Erstere behandelt die sprachliche wie inhaltliche Komposition und identifiziert einen einzigen Autor, der sich weitgehend an Orosius orientiert habe. Auch habe er sein Programm während der Abfassung - durch Verzicht auf einen genealogisch-biographischen Zuschnitt - geändert und sei vom zeitgenössischen lateinischen Stil geprägt gewesen. Rochebouet untersucht die Binnenstruktur des Texts, unterteilt man ihn doch seit der Edition durch Paul Meyer gemeinhin in Sektionen. Dabei arbeitet sie heraus, dass zwar die zweite Redaktion in thematische, auch visuell herausgestellte Einheiten zerfalle, die Erstfassung hingegen einen fortlaufenden Text biete.
Die zweite Sektion nimmt die Rezeption der Histoire ancienne auf der Apenninenhalbinsel in den Blick. Matteo Cambi konstatiert für ihre Überlieferung und Vulgarisierungen im Veneto, dass sie in den Redaktionen α und β mit anderen Werken (etwa den Historiae destructionis Troiae) kombiniert und kompiliert wurde, die Mechanismen der Textvermengung indes variierten (113-127). Die toskanischen Volgarizzamenti betrachtet Luca di Sabatino (129-146). Sie stammen von Pisaner oder Genueser Textzeugen der Histoire ancienne und verarbeiten einzig die Textklasse β. Ferner werden sie häufig mit anderen Schriften wie den Fatti di Enea oder Fatti dei Romani kopiert, dabei unterschiedlich kombiniert, in einem Kodex von 1439 mit weiteren Texten zum Libro de la creatione del mondo verwoben.
Die nächste Sektion behandelt Fiorite. Die Fiorita des Pisaner Karmeliters Guido da Pisa steht im Fokus von Carla de Nardin (149-163). Anhand eines Abgleichs mit Guidos Expositiones zur "Göttlichen Komödie" datiert sie die historisch-mythologische Kompilation in die erste Hälfte der 1330er, fächert die vornehmlich antik-römischen und patristischen Vorlagen auf und legt die Editionsprinzipien für das in ihrer Dissertation edierte erste von zwei Büchern dar. Woraus der Bologneser Richter Armannino für seine etwa zeitgleich angelegte Fiorita schöpfte, erhellt Paolo Rinoldi (165-181). Armannino habe lateinische und volkssprachliche Texte wie die Histoire ancienne oder den Roman de Troie herangezogen, unterschiedlich kombiniert sowie um weitere Details angereichert.
Universalhistorische Sammlungen stehen im Zentrum der vierten Sektion. Der Kombinationsvariationen der vielfach überlieferten Fatti di Cesare (eine gekürzte Vulgarisierung der Faits des Romains) mit dem Fioretto di croniche degli imperadori oder dem Libro Fiesolano nimmt sich Filippo Pilati an (185-207). Der auf dem vulgarisierten Trésor basierende Fioretto ist in sieben, der ein Volgarizzamento der Chronica de origine civitatis Florentie bietende Libro in sechs Kodizes überliefert, fast ausnahmslos zusammen mit den Fatti di Cesare. Die Werke sind entweder voneinander getrennt oder zu einer umfassenderen Chronik verbunden; attestiert wird ihnen ein "stampo ghibellino".
Den Wolfenbütteler Kodex Aug. Fol. 83.10, der eine enzyklopädische Summe bietet, nimmt Sara Ferrilli unter die Lupe (209-233). Einzig dieses Manuskript überliefert die Storie de Roma, eine italianisierte Fassung der Historia Romana, die im Vergleich zum lateinischen Text jedoch eine geänderte Binnengliederung, Auslassungen und Interpolationen (u.a. aus Landulf Sagax' Historia Miscella) aufweist.
In der letzten, etwas inkohärenten Sektion richten sich die Blicke auf die Florentiner Chronistik und frühhumanistische Universalchroniken. Marino Zabbia führt die Nutzung des Volgare für Geschichtswerke im Florenz des frühen 14. Jahrhunderts hauptsächlich auf die bereits zuvor vulgarisierten Universalchroniken, etwa Martins von Troppau, zurück (237-247). Besondere Bedeutung komme dabei dem Volgarizzamento von Brunetto Latinis Trésor zu, dessen Benutzung durch Giovanni Villani aufgezeigt wird.
Wie dessen Bruder Matteo in seiner Chronik Cia Ubaldini darstellt, analysiert Martina Albertini (249-277). Matteo charakterisiere die Gattin Francescos II. Ordelaffi, die 1357 Cesena gegen Kardinal Albornoz verteidigte, durchweg als mulier virilis, die sich durch geschlechteruntypisches Verhalten auszeichnete. Überzeugend herausgearbeitet wird, dass sich Villani an Boccaccios Darstellung von Frauen orientierte.
Rino Modonutti wiederum beleuchtet die enzyklopädische Geschichtsschreibung von Benzo d'Alessandria, Giovanni de Matociis, Riccobaldo da Ferrara und Giovanni Colonna (279-299). Der komparative Blick auf Intentionen, Kompositionen und Methoden eröffnet Gemeinsamkeiten, vor allem aber Unterschiede, etwa die jeweils zugrundeliegenden Modelle wie Sueton, Eusebius, Livius oder die Historia Augusta.
Der gelungene Band besticht durch die disziplinenübergreifende Zusammenstellung, deren Beiträge sich ihres Gegenstands etwa aus literaturwissenschaftlicher oder kodikologischer Perspektive annehmen. Dabei zeigt sich, wie das detaillierte Studium der Überlieferungsträger und Textzeugnisse manch 'gesicherte' Annahme zu revidieren, aber auch Vorstellungen von der Geschlossenheit und/oder Wiederverwertung spätmittelalterlicher (Universal-)Geschichtsschreibung zu hinterfragen vermag.
Anmerkung:
[1] Auch Open Access verfügbar: https://classiques-garnier.com/les-chroniques-et-l-histoire-universelle-france-et-italie-xiiie-xive-siecles.html (14. Dezember 2022).
Giuseppe Cusa