Martin Jander / Anetta Kahane (Hgg.): Juden in der DDR. Jüdisch sein zwischen Anpassung, Dissidenz, Illusionen und Repression. Porträts, Berlin / Leipzig: Hentrich & Hentrich 2021, 221 S., ISBN 978-3-95565-465-8 , EUR 24,90
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Der Sammelband "Juden in der DDR" von Anetta Kahane und Martin Jander widmet sich der Besonderheit deutsch-jüdischer Nachkriegsgeschichte in der DDR und stellt die Frage, wie Juden dort mit ihrer Identität umgingen. Anhand von 16 Porträts zeichnet er unterschiedliche Lebensgeschichten von deutschen Jüdinnen und Juden nach, die eine Gemeinsamkeit verband. Sie lebten in der DDR oder entschieden sich sogar bewusst für den entstehenden sozialistischen Staat. Innerhalb der Aufarbeitung und der historischen Debatten fand dieses Thema bisher vergleichsweise wenig Aufmerksamkeit. [1] Die Frage nach einer Rückkehr von Juden wurde bereits eingehend für die Bundesrepublik oder beide deutschen Staaten behandelt. [2] Nun bietet "Juden in der DDR" einen vielschichtigen Überblick zu verschiedenen jüdischen Akteuren im sozialistischen Teil Deutschlands. Im gleichen Jahr wie das hier besprochene Buch erschien außerdem ein Interviewband, der sich mit Identitätsfragen junger Jüdinnen und Juden in der DDR beschäftigt. [3]
Neben den Kurzbiografien sind zudem die im Anhang abgedruckten Dokumente aus der Wendezeit bemerkenswert. Sie bezeugen auch eine Veränderung in der Haltung zu den Juden, der Shoah und zu Israel. Die Einblicke in die Arbeit des Runden Tischs und der ersten demokratisch gewählten Volkskammer der DDR offenbaren eine beginnende Auseinandersetzung mit dem Judentum und dem Antisemitismus.
Bei allem Glauben an den Kommunismus, den die jüdischen Rückkehrerinnen und Rückkehrer pflegten, seien diese doch stark vom Judentum geprägt, so die Herausgeberin und der Herausgeber. In ihrem Handeln spiegelten sich die zentralen Begriffe der jüdischen Verantwortungsethik: "Umkehr und Neubeginn (Teshuva) sowie die Idee vom Heilen der Welt (Tikkum Olam)" (9) ebenso wie das Bemühen um gute Taten (Mitzwot) und Gerechtigkeit (Zedakah) (13). Die DDR, mit ihrem verordneten Antifaschismus, der Selbstviktimisierung und Schuldabwehr sowie ihre aus dem Antiimperialismus gespeiste "antisemitische Dämonisierung des Zionismus als rassistische bürgerliche Ideologie" (18) standen den genannten jüdischen Traditionen entgegen. Dennoch riss sie bei den Protagonistinnen und Protagonisten nicht vollkommen ab.
Auch wenn die Mehrzahl der Beiträge Jüdinnen und Juden in den Mittelpunkt rückt, die nach der Shoah bewusst die Entscheidung trafen, in der DDR zu leben, werden mit den Kurzbiografien Wolf Biermanns, Jurek Beckers und Babara Honigmanns auch Lebenswege der folgenden Generation beschrieben. Jeffrey Herffs Beitrag zu Paul Merker befasst sich zudem mit einem Nicht-Juden, der sich innerhalb der SED für die Restitution jüdischen Eigentums engagierte. Als "Judenknecht"(52) und westlicher Agent wurde er in einem Geheimprozess zu acht Jahren Zuchthaus verurteilt und nie vollständig rehabilitiert.
Merker ist jedoch nur eines der Opfer von antisemitischen Schauprozessen, die seit 1948 in nahezu allen Staaten des Ostblocks stattfanden. Fast alle behandelten DDR-Biografien sind in irgendeiner Form von den Schauprozessen betroffen. Dabei waren kommunistische Westemigranten sowie Spanienkämpferinnen und -kämpfer besonders verdächtigt, mit dem "Klassenfeind" zu kooperieren oder Zionistinnen beziehungsweise Zionisten zu sein. Für eine Anklage reichte es häufig aus, Kontakt zu dem vermeintlichen Westagenten Noel Field zu haben. [4] So wurde Rudolf Slánský, der Generalsekretär der KP der Tschechoslowakei, zusammen mit 14 Angeklagten zum Tode verurteilt, darunter 11 Juden.
Auch Hertha Walcher, deren Leben im Beitrag von Regina Scheer beschrieben wird, war von der antisemitischen Stimmung der 1950er Jahre betroffen. Die Autorin, die seit ihrer Kindheit mit Walcher bekannt war, zeichnet nach, wie diese sich bereits in ihren frühen Jahren in kommunistischen Gruppen engagierte. Walcher arbeitete für Clara Zetkin und später für die Sozialistische Arbeiterpartei (SAP) im Pariser Exil. Dennoch war sie selbst nicht berühmt. Ihr Mann Jacob und sie wurden zur Zeit der antisemitischen Schauprozesse als vermeintliche Trotzkisten und "Feinde der Arbeiterklasse" (69) 1952 aus der Partei ausgeschlossen und erst spät rehabilitiert. Die bittere Enttäuschung über die SED und die gescheiterte Vision eines sozialistischen Staates brachten sie vielleicht näher zu ihren jüdischen Wurzeln, allerdings nicht ab vom Glauben an die Möglichkeit einer besseren Welt.
Der Text "Heißes Mexiko und Kalter Krieg" von Judith Kessler behandelt das Exil und die Rückkehr der Brüder Leo und Rudolf Zuckermann. Beide flohen zunächst nach Paris und später nach Mexiko, wo sie auch mit Paul Merker zusammenarbeiteten. Tragischerweise sollte sie diese Flucht, bei der sie von Noel Field unterstützt wurden, und ihr Kontakt zu Merker später in die "Mühlen der stalinistischen Pseudojustiz" (87) bringen. Leo, der nach dem Krieg zuerst in die DDR ging, floh 1952 nach West-Berlin, da er bemerkte, dass die Staatsicherheit ihn verfolgte. Sein Bruder Rudolf kehrte trotz der Warnungen seiner Genossen, Anfang 1953 in die DDR zurück, wo er sogleich verhaftet wurde. Auch die Distanzierung und Anschuldigung von Leo halfen ihm nicht. Nach mehreren Monaten Haft und nächtlichen Verhören unterschieb er schließlich ein falsches Geständnis. Nach der Entstalinisierung erhielt er eine Professur in Halle. Dennoch blieb der tiefe Bruch mit seinem Bruder Leo. Die beiden sahen sich nie wieder.
Anja Thiele möchte mit ihrem Porträt des Holocaustüberlebenden Fred Wander "Leerstellen des Begriffs der Dissidenz in der DDR ausloten" (151). Wanders studierte nach dem Krieg am Literaturinstitut Johannes R. Becher in Leipzig. Anhand des Briefwechsels mit seiner Frau Maxie zeichnet die Autorin nach, wieso er gerade der jungen Generation von Schriftstellerinnen und Schriftstellern skeptisch gegenüberstand. Während er selbst im Konzentrationslager war, wurden seine Kommilitoninnen und Kommilitonen im NS-Regime sozialisiert. In Diskussionen stieß er stets auf ihre starke Abwehr gegen die Forderung nach Aufarbeitung der Vergangenheit. Später brachte ihn sein autobiografischer Roman "Der Siebente Brunnen" in Konflikt mit der offiziellen Erinnerungspolitik der DDR. Seine jüdische Perspektive auf das Konzentrationslager stand im Widerspruch zur "antifaschistischen Selbstlegitimation" (157). Wanders Form der Dissidenz "im Kleinen" sei bisher von der Forschung nicht genug beachtet worden.
Abseits von den großen Namen sind es die Biografien der weniger bekannten Persönlichkeiten, welche die Lektüre des Sammelbandes so gewinnbringend machen. Das ambivalente Verhältnis der meisten Jüdinnen und Juden zur DDR und zur SED kommt in den Porträts eindrücklich zum Ausdruck. Einige glaubten auch nach den antisemitischen und stalinistischen Säuberungen noch, die DDR würde den besseren Schutz vor Judenhass bieten. Andere versuchten den Verhältnissen mit Dissidenz zu begegnen oder verließen resigniert das Land. Eine Stärke des Bandes liegt in der Vielfalt der versammelten Porträts. "Juden in der DDR" gelingt es, ein neues Schlaglicht auf jüdische Personen aus der DDR zu werfen und einen Einblick in verschiedene Umgänge mit ihrer jüdischen Identität zu vermitteln.
Anmerkungen:
[1] Vgl. etwa Steffen Held: Juden in der DDR. Das Beispiel Leipzig. Lehr- und Lernmaterialien. Leipzig 2011.
[2] Vgl. Irmela von der Lühe/Axel Schildt/Stefanie Schüler-Springorum (Hgg.): "Auch in Deutschland waren wir nicht wirklich zu Hause". Jüdische Remigration nach 1945. Göttingen 2008. Und Arno Herzig: Jüdische Geschichte in Deutschland. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. München 1997.
[3] Vgl. Sandra Anusiewicz-Baer/Lara Dämmig: Jung und jüdisch in der DDR. Berlin/ Leipzig 2021.
[4] Vgl. Jan Gerber: Ein Prozess in Prag. Das Volk gegen Rudolf Slánský und Genossen. Göttingen/Bristol 2016.
Benjamin Männel