Joachim Bahlcke / Wolfgang Matt (Hgg.): Die autobiographischen Aufzeichnungen des schlesischen Theologen Friedrich Lucae (1644-1708). Eine Textedition zur Geschichte des reformierten Protestantismus in Europa (= Neue Forschungen zur Schlesischen Geschichte; Bd. 31), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2022, 436 S., 11 s/w-Abb., ISBN 978-3-412-52745-7, EUR 100,00
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Den reformierten schlesischen Theologen Friedrich Lucae (1644-1708) kennt man nicht und man muss ihn auch nicht kennen, aber die von ihm verfasste Autobiografie - eine Seltenheit in der Frühen Neuzeit - ist lesenswert, denn sie gibt interessante Einblicke in die Kultur-, Konfessions- und Alltagsgeschichte des späten 17. Jahrhunderts. Sie liegt nun, nachdem sie durchaus auch schon früher Beachtung gefunden hatte, erstmals in einer aufwendigen und sorgfältigen wissenschaftlichen Edition vor, die den beiden Stuttgarter Historikern Joachim Bahlcke (geb. 1963) und Wolfgang Matt zu verdanken ist.
Friedrich Lucae wurde 1644 im schlesischen Brieg (heute: Brzeg in Polen) geboren, studierte in Heidelberg, Nimwegen, Utrecht (u.a. bei Voetius), Leiden (u.a. bei Cocceius) und Frankfurt/Oder Theologie und wirkte u.a. in Brieg, Liegnitz und Kassel (u.a. als Hofprediger). Zuletzt war er in Rotenburg an der Fulda als Pfarrer tätig, wo er 1708 starb. Er war außerordentlich reisefreudig und besuchte unter anderem Amsterdam, Köln, Bremen, Hamburg und Berlin. Seine Autobiografie umfasst die Zeit von seiner Geburt bis zum Jahre 1686 und behandelt schwerpunktmäßig seine Familiengeschichte sowie seine ausgedehnten Reisen. Wann und wie sie entstanden ist und für wen sie gedacht war, bleibt unklar. Die vielen Details aus den Jugend- und Studentenjahren lassen vermuten, dass Lucae Tagebuch schrieb und die Tagebücher später zur Grundlage seiner Autobiografie machte.
Die Geschichte seiner Familie, mit der Lucae beginnt, handelt von Vernetzungen und Beziehungen, von Geburten und von Todesfällen, von Krankheiten und Schicksalsschlägen. Interessant ist der Bericht über seine Eheanbahnung. Ihm wurde nicht, wie man vermuten könnte und wie es im 17. Jahrhundert noch vielfach üblich war, von seiner Familie eine Braut vermittelt, sondern er verliebte sich in eine Frau aus seiner Gemeinde. Er schildert seine Gefühle, seine Unsicherheit und seine Bemühungen, die Ehe einzufädeln. Ebenso aufschlussreich ist die Schilderung des Sterbens seiner Frau und der gemeinsamen Vorbereitung auf diesen Abschied, wozu auch gehörte, dass sich die Frau einen Text für die Leichenpredigt aussuchte.
An einigen Stellen enthält die Autobiografie also frömmigkeitsgeschichtlich interessantes Material, alles in allem gibt sie jedoch wider Erwarten nur wenige Einblicke in die Frömmigkeitsgeschichte. Lucae spricht nicht über religiöse Gefühle und theologische Überzeugungen, nur oberflächlich, beinahe floskelhaft, streift er die von ihm selbst praktizierte Andachtspraxis.
Interessant und aufschlussreich ist der Text aber aus konfessionskundlicher Perspektive. Der reformierte Lucae beobachtet sehr genau die Frömmigkeitspraxis der Lutheraner, regt sich über die bei lutherischen Taufen praktizierten Exorzismen auf und mokiert sich über die vielen "Götzen" (255) - Heiligenbilder - in lutherischen Kirchen. Ohne den Sachverhalt zu bewerten, berichtet er, dass man in der Mark Brandenburg lutherischer Pfarrer werden könne, wenn man einen Pfarrer als Schwiegervater habe und dieser sterbe. Er geht ferner auf reformierte Prediger und Gemeinden ein, die ihm auf seiner Reise begegneten. Überraschend ist, dass er in Schlesien und in Amsterdam und auch andernorts immer wieder auch auf Sozinianer traf, das waren evangelische Christen, die mit der traditionellen Trinitätslehre gebrochen hatten. In Amsterdam besuchte er auch den "Baginen hof" (221) und berichtet kurz über den Lebenswandel dieser klösterlich lebenden Frauen.
In seinen Reiseberichten schildert Lucae Orte, durch die er reiste, und Gebäude, die er sah. Er berichtet auch vom Wetter, Landschaftsschilderungen dagegen fehlen. Ausführlichst wird von Amsterdam erzählt - die Stadt mit ihren "Fleischhallen" (217), "Wirthshäuser[n] " (218) und einem "hauß der alten Männer und Weiber" (220) hat den jungen Lucae offenbar begeistert. Einen breiten Raum nehmen Begegnungen mit Menschen ein, die er in der Regel namentlich anführt. Die Herausgeber haben sich alle Mühe gegeben, die unzähligen Personen, die der Text nennt, möglichst vollständig zu identifizieren. Prominente Gestalten waren aber nur selten darunter; Lucae ist aber Comenius begegnet! Die meisten Personen werden nur einmal erwähnt. Relativ viel erfährt man nur über Mitglieder seiner Familie, ferner über Landgraf Karl von Hessen-Kassel, Hedwig Sophia von Hessen-Kassel und Anton Günther Heilersieg (welche Funktion/Bedeutung Letzterer hat, wird aber nicht mitgeteilt, weder von Lucae noch von den Editoren).
Wir erfahren, wie man damals gereist ist - Lucae benutzte in der Regel Kutschen - und wo man unter welchen Bedingungen Unterkunft fand. Uns begegnet ein außerordentlich gewalttätiger Alltag, mit viel Betrug und Diebstahl, mit vielen Handgreiflichkeiten und Übergriffen. Und wir erfahren, wie schrecklich einfach und arm die Menschen auf den Dörfern lebten, aber auch, wie schlecht noch die Infrastruktur in vielen Städten war.
Da Lucae von 1676 an in der Landgrafschaft Hessen-Kassel wirkte, gibt der Lebensbericht Einblicke in deren damalige Regentschaft und in die Ansiedlung evangelischer Flüchtlinge aus Frankreich. Relativ wenig erfährt man aber über die beruflichen Herausforderungen und Tätigkeiten des Autors, etwas mehr wieder über verschiedene Orte der Landgrafschaft, die Lucae beruflich veranlasst bereiste.
Die Herausgeber behandeln die Überlieferungsgeschichte des Textes und haben ihn mit hilfreichen Anmerkungen ausgestattet, die zum Verstehen beitragen. Die zahlreichen Orte und Personen, die Lucae erwähnt, werden durch ein Orts- und Personenregister erschlossen. Auf ein Sachregister wurde verzichtet; ein Register von Sachen in Auswahl - z.B. "Sozinianer" - wäre denkbar und hilfreich gewesen. Auch ein Itinerar wäre denkbar und hilfreich gewesen oder zumindest ein kurzer tabellarischer Überblick über die Lebensstationen Lucaes. Die einzigen Hilfen zur inhaltlichen Orientierung in dem immerhin mehr als 300 Seiten umfassenden Text bilden die Kopfzeilen, die den Kapitelgliederungen der Handschrift entsprechen. Leider findet man diese Gliederungsstruktur aber nicht im Inhaltsverzeichnis, sodass man blättern muss, wenn man sich orientieren will.
Der Text gibt Einblicke in die "Geschichte des reformierten Protestantismus in Europa" (3), aber doch nicht in dem Maße, wie es dieser Untertitel der Edition erwarten lässt. Eher gibt er Einblicke, wie ein reformierter Theologe auf seinen Reisen verschiedene deutsche Städte und Territorien sowie die Niederlande sah und erlebte und wie er seinen privaten Alltag gestaltete.
Martin H. Jung