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Jeronim Perović: Rohstoffmacht Russland. Eine globale Energiegeschichte, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2022, 259 S., ISBN 978-3-412-52442-5, EUR 39,00
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Rezension von:
Benjamin Beuerle
Centre Marc Bloch, Berlin
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Benjamin Beuerle: Rezension von: Jeronim Perović: Rohstoffmacht Russland. Eine globale Energiegeschichte, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2022, in: sehepunkte 23 (2023), Nr. 10 [15.10.2023], URL: https://www.sehepunkte.de
/2023/10/36785.html


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Jeronim Perović: Rohstoffmacht Russland

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Im Kapitel "Rohstoffmacht Russland" zeichnet Jeronim Perović in fünf gut lesbaren Kapiteln mehr als ein Jahrhundert russischer und sowjetischer Energiegeschichte sowie russisch-westlicher Energiebeziehungen nach.

In "Russland in der globalen Erdölgeschichte" (23-41) verdeutlicht er überblicksartig, dass sich die russische und sowjetische Erdölgeschichte bei allen Besonderheiten durch gemeinsame Trends und Verflechtungen in die globale Energiegeschichte einbettet.

Das Kapitel "Die Bolschewiki und das Öl" (42-77) behandelt die Zeit zwischen Oktoberrevolution und Zweitem Weltkrieg. Lenin verstand, dass die Sowjetmacht für die Nutzbarmachung ihres Erdölreichtums westliche Unterstützung benötigte. Den Weg hierzu boten zunächst Konzessionen an westliche Firmen, die Lenin gegen interne Widerstände durchsetzte. Bis Ende der 1920er Jahre wurde Erdöl zum wichtigsten sowjetischen Exportgut und erreichte signifikante Anteile am Weltmarkt. Im Gegenzug lieferten die kapitalistischen Staaten dringend benötigte Technik und Devisen. Wenn die sowjetischen Erdölexporte im Laufe der 1930er Jahre stark zurückgingen, hing dies - so Perović in Abgrenzung zu früherer Forschung - nicht etwa mit Autarkiepolitik zusammen, sondern vor allem mit der Vernachlässigung von Investitionen in die Ölindustrie. Noch lag der Fokus der sowjetischen Energiepolitik auf Kohle und Torf. Erst als nach dem deutschen Überfall die militärstrategische Bedeutung und Verwundbarkeit der bis dato im Kaukasus konzentrierten sowjetischen Erdölindustrie überdeutlich wurde, begann die Erschließung neuer Ölfelder im Ural, die für den Krieg jedoch zu spät kam. Nur dank US-amerikanischer Öllieferungen konnte die Sowjetunion den Weltkrieg überstehen. Fortan stand Erdöl im Zentrum der sowjetischen Energiepolitik.

Das Kapitel "Energie im Kalten Krieg" (78-106) beleuchtet die Entwicklungen vom Ende des Zweiten Weltkriegs bis zum Beginn der Breschnew-Ära. Zunächst wurden die neuen Ostblockstaaten von der Sowjetunion energetisch ausgebeutet, während die Eigenproduktion erst langsam wieder anstieg. Nach Stalins Tod fand diese Praxis bald ein Ende. Um die im Ostblock anwachsende Unzufriedenheit einzudämmen, erhielten die sozialistischen Bruderländer nun dringend benötigte sowjetische Energielieferungen. In zunächst geringen Mengen wurde auch der Erdölexport in westliche Länder wiederaufgenommen, die im Gegenzug Kredite und Technologie bereitstellten. Perović zeigt, dass amerikanische Warnungen vor sowjetischem Einfluss durch das "rote Öl" dazu dienten, einen Wettbewerber zu diskreditieren. Der Versuch der NATO, Anfang der 1960er Jahre mit Sanktionen auf Stahlrohrexporte die Družba-Pipeline zu verhindern, die sowjetisches Öl bis in die DDR und nach Ungarn leiten sollte, misslang jedoch nicht zuletzt aufgrund der laxen Handhabung der Sanktionen durch manche NATO-Staaten. Chruschtschows Pläne für einen Umbau der sowjetischen Exportstruktur von Rohstoffen zu Fertiggütern scheiterten indes an Qualitätsmängeln, die mit dem Plansystem zusammenhingen.

Im Kapitel "Der Weg in die Abhängigkeit" (107-145) zeigt Perović, dass die 1970er Jahre auch für die Sowjetunion eine Zeit der Energiekrise waren. Der Eigenverbrauch nahm deutlich zu, die Erdöl-Förderkapazitäten im Ural hingegen ab. Für die Erschließung neuer Erdöl- und Erdgas-Vorkommen in Westsibirien sowie die hierfür nötige Transportinfrastruktur benötigte die Sowjetunion wiederum westliche Technologie und Kapital. Als Partner bevorzugte die Sowjetführung anfangs die USA, mit denen sie über große LNG-Projekte verhandelte. Erst nachdem diese am US-Kongress gescheitert waren, wandte sich die Sowjetunion Westeuropa zu. Im Ergebnis entstand Anfang der 1980er Jahre mit westdeutscher Technik und Kapital die Jamal-Gaspipeline von Nordwestsibirien bis in die Bundesrepublik. Die hohen Exporterlöse dienten zur Finanzierung von Weizenimporten aus den USA, Sozialleistungen und Hilfen für die kriselnde Wirtschaft. Überdies ermöglichten sie die nun konsequent betriebene innersowjetische "Gasifizierung". Um den Lieferverpflichtungen an die westlichen Staaten nachzukommen, wurden indes nicht nur die Energieexporte in die Ostblockstaaten gekappt. Als starkes Stück mutet an, dass hierfür zeitweise auch die Gaszufuhr an ukrainische Haushalte, Industriebetriebe, kommunale Einrichtungen und Kraftwerke gedrosselt oder ganz eingestellt wurde. Die Bewohnerinnen und Bewohner der Ukraine froren, "damit die Westeuropäer, die nichts von der desolaten Lage im Osten wussten, ihre Wohnungen weiterhin beheizen konnten" (134).

Das Kapitel "Krise, Zerfall und Wiederaufbau" (146-186) behandelt die letzten dreieinhalb Jahrzehnte. Der 1986 einsetzende Preissturz beim Erdöl brachte die ohnehin kriselnde sowjetische Wirtschaft in Schieflage. Eine unmittelbare Ursache für den Zusammenbruch der Sowjetunion sieht Perović hierin nicht, doch führte sie zu einem starken Reformdruck, auf den Gorbatschow reagierte.

In den 1990er Jahren wurde die russische Ölindustrie auf teils chaotische Weise privatisiert. Oligarchen wie Chodorkowskij bereicherten sich extrem, doch halfen sie auch der Öl- und Gasindustrie wieder auf die Beine. Putin kam just in dem Moment an die Macht, als die Erdölpreise wieder anstiegen. Gezielt machte er sich daran, die staatliche Kontrolle über den Ölsektor wiederzuerlangen, renitente Oligarchen auszuschalten und ausländische Beteiligungen zurückzudrängen. Die Einnahmen aus den fossilen Rohstoffexporten ermöglichten die Tilgung der Auslandsschulden, höhere Sozialausgaben und große Investitionen in das Militär und den Sicherheitsapparat. Trotz neuer Stabilität sieht Perović in Putins Staat eine "toxische Verbindung von Energie und Macht" (198). Das Primat der Kontrolle über Wirtschaft und Gesellschaft steht der Förderung eines innovativen Mittelstands entgegen.

In seinem "Ausblick" (187-193) wendet sich Perović gegen Befürchtungen, Russland könne seine Energielieferungen als "Waffe" gegen den Westen einsetzen. Diese Sorge habe es seit den 1920er Jahren immer wieder gegeben. Russland werde sich "davor hüten, die Beziehungen zu Europa allzu stark zu strapazieren", von dem es deutlich stärker abhängig sei als umgekehrt.

Perovićs "Energiegeschichte" wird ganz von Erdöl und Erdgas dominiert. Kohle, Torf, große Wasserkraft, Atomkraft und erneuerbare Energien finden allenfalls am Rande Erwähnung. Das ist legitim, könnte jedoch expliziter begründet werden. Problematisch ist, dass Perović Umweltaspekte fast vollständig ausblendet. Dies gilt nicht nur für die schwerwiegenden Umweltfolgen der Öl- und Gasindustrie, sondern auch für Rückwirkungen des Klimawandels auf Letztere - sei es der in naher Zukunft erwartbare peak oil demand oder die schon vielfach auftretenden Schäden an der auf Permafrost gebauten Energieinfrastruktur [1].

Dass die im Ausblick genannten Thesen schon kurz nach Erscheinen des Buches überholt waren, ist Perović hingegen kaum anzukreiden. Umso klarer wird, wie tief der seit dem Februar 2022 mit der raschen Entflechtung der russischen und europäischen Energiebeziehungen erfolgte Einschnitt reicht. Die große Leistung der Untersuchung von Perović ist es, eindrücklich verdeutlicht zu haben, dass bis dahin über mehr als ein Jahrhundert die russische Energiegeschichte nur als globale Geschichte zu verstehen ist und dass Energie - aufgrund der Angewiesenheit der Sowjetunion beziehungsweise Russlands auf ausländisches Kapital, ausländische Technik und Abnehmer - die Beziehungen zur westlichen Welt maßgeblich geprägt hat.


Anmerkung:

[1] Vgl. hierzu auch Thane Gustafson: Klimat. Russia in the Age of Climate Change, Cambridge 2021.

Benjamin Beuerle