Ansgar Lauterbach: Liberales Denken - der Kampf um die Deutungshoheit. Nationalliberaler Politikstil im frühen Bismarckreich (= Historische Forschungen; Bd. 124), Berlin: Duncker & Humblot 2024, 299 S., ISBN 978-3-428-19089-8, EUR 89,90
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Bastian Hein: Elite für Volk und Führer? Die Allgemeine SS und ihre Mitglieder 1925-1945, München: Oldenbourg 2012
Mario Keßler: Westemigranten. Deutsche Kommunisten zwischen USA-Exil und DDR, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2019
Detlef Lehnert: Friedrich Stampfer 1874-1957. Sozialdemokratischer Publizist und Politiker: Kaiserreich - Weimar - Exil - Bundesrepublik, Berlin: Metropol 2022
Sabine Pannen: Wo ein Genosse ist, da ist die Partei! Der innere Zerfall der SED-Parteibasis 1979-1989, Berlin: Ch. Links Verlag 2018
Peter Winzen: Friedrich Wilhelm von Loebell. Erinnerungen an die ausgehende Kaiserzeit und politischer Schriftwechsel, Düsseldorf: Droste 2016
Christian Jansen: Netzwerke und virtuelle Salons. Bedeutung und Erschließung politischer Briefe des 19. Jahrhunderts im digitalen Zeitalter, Berlin: Duncker & Humblot 2018
Joachim Radkau: Theodor Heuss, München: Carl Hanser Verlag 2013
Detlef Lehnert (Hg.): Kommunaler Liberalismus in Europa. Großstadtprofile um 1900, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2014
Anlässlich der 150 Jahre zurückliegenden deutschen Reichsgründung von 1871 erschienen mehrere Publikationen, welche die endlose Debatte über die Charakterisierung des Kaiserreiches zwischen autoritärem Obrigkeitsstaat und "Aufbruch in die Moderne" wieder aufgriffen. [1] Entgegen der alten Verfallsthese vom Versagen des Liberalismus ist die Bedeutung der Nationalliberalen Partei für die frühe Reformära mittlerweile aber unstrittig. Als "Quasi-Regierungspartei" (Hans-Ulrich Wehler) gab sie dem unfertigen Nationalstaat durch ihre Gesetzgebungsarbeit im Reichstag ein liberales Fundament. Ende der 1870er Jahre scheiterte sie dann aber doch mit ihrer Strategie, über schrittweise Reformen ohne Verfassungsbruch eine Parlamentarisierung der Regierung durch die Einrichtung von dem Reichstag verantwortlichen Reichsministerien zu erreichen. Über die Gründe für diesen Verlust liberaler Deutungshoheit äußerte sich Ansgar Lauterbach bereits 2000 in seiner Dissertation ausführlich, in der er dem liberalen Konzept der "kontrollierten Offensive" durchaus realistische Erfolgsaussichten zusprach - ein diskussionswürdiger Befund. [2]
Knapp ein Vierteljahrhundert später greift Lauterbach sein Thema wieder auf und wählt einen Titel, der einen Neuansatz verspricht und neugierig darauf macht, inwiefern sich dies auf seine früheren Forschungsergebnisse auswirkt. Die Quellengrundlage wurde ausgebaut, die Literatur aktualisiert. Kulturgeschichtlichen Ansätzen folgend, fragt er nach der politischen Sprache der Nationalliberalen, "die als Kommunikationsscharnier dazu dienen sollte, den einmal angestoßenen Reformprozess intellektuell und auch gefühlsmäßig zu begleiten." (15) Konzeptionell wird dieser Ansatz nicht weiter ausgeführt, und er bleibt unscharf, wenn in diesem Zusammenhang von Politikstil und "politischem Code" die Rede ist, die dem "Denken und Handeln der nationalliberalen Reichstagsabgeordneten nach 1871 zu Grunde" lagen (18). Lauterbach möchte anhand ausgewählter "Leitmotive und ihrer inhaltlichen Verzahnung mit Problemlagen aus der Tagespolitik die liberale Programmsprache" (47) rekonstruieren.
Der Autor identifiziert drei "Stilmittel", mit denen die Nationalliberalen der Nation nach 1871 einen liberalen Stempel aufdrücken wollten, ohne in einen Grundsatzkonflikt mit Bismarck zu geraten: Den "Paradigmenwechsel" (19) im Staatsrecht aufgreifend, verfolgten die Nationalliberalen erstens einen Kurs der "kontrollierten Offensive": über Reichsgesetze die Verfassung materiell ändern, um so organisch zu einer stillen Parlamentarisierung ohne Verfassungsbruch zu gelangen. Die konstitutionelle Monarchie wurde so nicht grundsätzlich infrage gestellt, sollte aber in der politischen Praxis an Bedeutung verlieren und von innen allmählich überwunden werden. Zweitens diente der Kulturkampf als "Ventil aufgestauten Machtwillens" (51). Er integrierte die Nationalliberalen und entfremdete Bismarck zeitweise von den Konservativen. Und drittens übertrugen die Nationalliberalen die "nationale Parole" (55) nach der Reichseinigung auf die innenpolitischen Verhältnisse und leiteten daraus ab, als legitime Mehrheit im Parlament die Nation zu vertreten und zu modernisieren. Diese drei sehr disparaten Stilmittel als "liberale Programmsprache" funktionierten laut Lauterbach, weil sie "kollektiv bindende Vorgehensweisen und Entscheidungen" (67) herstellten und darauf hoffen ließen, dauerhaft die Reichspolitik zu beeinflussen.
Mit dem Bankgesetz 1875 zur Schaffung einer reichsweiten Notenbank befanden sich, so der Autor, die Nationalliberalen "auf dem Höhepunkt des politischen Einflusses" (92). Sie sahen darin einen wichtigen Baustein für die Mediatisierung Preußens und die Bildung einer dem Parlament verantwortlichen Reichsregierung mit entsprechenden Reichsministerien, was Bismarcks Stellung gerade zu bedrohen schien. Doch warum scheiterte der zunächst erfolgreiche Politikstil? Bereits in der Debatte um das Reichsmilitärgesetz von 1874 wurde deutlich, dass die nationale Parole als liberales Reformvehikel zunehmend an Bedeutung verlor und von den Konservativen vereinnahmt wurde. Der Kulturkampf büßte sein Mobilisierungspotential ein und verstellte letztlich den Zugang zu einem Drittel der Wählerschaft (174, 255). Und schließlich drohte das Hinarbeiten auf Verfassungsänderungen unterhalb der Verfassungsurkunde in seiner Dynamik "weite Teile der Bevölkerung zu überfordern" (255f). Aus der Verabschiedung des einheitsstiftenden "Jahrhundertwerkes" (188) der Reichsjustizgesetze konnte kein weiterer Reformimpuls gewonnen werden, sondern sie führte zum Bruch mit der Fortschrittspartei und zu Verlusten in den Reichstagswahlen 1877.
Lauterbach diagnostiziert einen zunehmenden Verlust des "liberalen Markenkerns" (214). Auf die Wirtschaftskrise seit dem "Gründerkrach" reagierten die Nationalliberalen zunächst zögerlich und sahen in ihr keine Auswirkungen auf die Realwirtschaft, doch untergrub der Wirtschaftsabschwung das Vertrauen in die Selbstheilungskräfte des Marktes und diskreditierte das liberale Werte- und Ordnungssystem. In der Schutzzollfrage spaltete sich die Reichstagsfraktion daraufhin inhaltlich und personell. Den Nationalliberalen fehlten zunehmend eine einheitliche Führung und ein konsistenter Politikstil, so dass es Bismarck gelang, im Zuge der Neuaufstellung der Reichsfinanzen einen Keil in die Fraktion zu treiben. Die Kräfteverhältnisse hatten sich dermaßen zugunsten des Reichskanzlers und starker Interessenverbände geändert, dass der Versuch der Parteilinken misslang, die Annahme der Steuergesetze von der Einführung der parlamentarischen Ministerverantwortlichkeit abhängig zu machen. Unter Verkennung ihrer Verhandlungsposition gegenüber Bismarck und aufgrund innerer Interessengegensätze war der nationalliberale Politikstil gescheitert. Letztlich kam der Vorstoß der Parteilinken zu spät, weil sich die Machtverhältnisse bereits zuungunsten der Nationalliberalen verschoben hatten und offenkundig wurde, dass der Reichskanzler das monarchische Prinzip als Verfassungskern nicht aufgeben würde. "Eine historische Chance zur Neugestaltung der Zukunft war vertan", so das Schlussresümee des Verfassers.
Ob es tatsächlich eine realistische Machtoption der Liberalen gegeben hat, bleibt strittig. Lauterbach selbst betont ja die ungeheure verfassungspolitische Machtposition Bismarcks, die Änderung der wirtschaftlichen Großwetterlage, die an den Grundfesten des Liberalismus rüttelte, und die Interessengegensätze innerhalb der Partei. Sie machten einen konsistenten Politikstil zugunsten einer organischen Entwicklung hin zu einer parlamentarischen Regierung unrealistisch. Aber es ist das Verdienst der vorliegenden Arbeit, quellengesättigt und differenziert nachzuzeichnen, wie die Nationalliberalen auf Reichsebene zunächst für ein Modernisierungsprogramm standen, das trotz erfolgreicher Reformen in den 1870er Jahren zunehmend an Überzeugungskraft verlor.
Dennoch hinterlässt die Monographie einen zwiespältigen Eindruck. Das liegt weniger an dem sehr ungleichgewichtigen Aufbau der Kapitel mit zahlreichen Überschneidungen und Redundanzen. Vielmehr irritiert die große thematische Nähe der Arbeit zur Dissertation des Autors, auch wenn diese einen etwas größeren Zeitraum umfasste. Lauterbach kann sich für längere Passagen immer wieder auf seine Qualifikationsschrift beziehen (z.B. 105ff). Zahlreiche Themen wurden bereits dort verhandelt. Fragestellung und These ("kontrollierte Offensive"), Durchführung und Ergebnis ähneln sich stark, auch wenn im jüngsten Buch leichte Akzentverlagerungen zu verzeichnen sind. Was diesen Umstand verschleiert, ist das neue kulturgeschichtliche Framing der Arbeit, das aber letztlich nicht näher ausgeführt und auf die Quelleninterpretation angewandt wird. Anstatt von Konzepten und Strategien ist nun von Politik- und Sprachstil sowie von politischen Codes die Rede, ohne dass es dieser begrifflichen Aufladung bedurft hätte. Auch die wenigen Verweise auf Niklas Luhmanns Gesellschaftstheorie erscheinen überflüssig. Einen Erkenntniswert hat dieser theoretische Ansatz nicht, weil die Durchführung konventionell bleibt und zu kaum anderen Ergebnissen gelangt als die Dissertation vor 24 Jahren. Somit weckt der Titel des Buches Erwartungen, die kaum eingelöst werden.
Anmerkungen:
[1] Beispielhaft Eckart Conze: Schatten des Kaiserreichs. Die Reichsgründung von 1871 und ihr schwieriges Erbe, München 2020; Hedwig Richter: Aufbruch in die Moderne. Reform und Massenpolitisierung im Kaiserreich, Berlin 2021; ein Streitgespräch zwischen beiden in: https://www.youtube.com/watch?v=aA3KlRrO-G0 [abgerufen am 27.8.2024].
[2] Ansgar Lauterbach: Im Vorhof der Macht. Die nationalliberale Reichstagsfraktion in der Reichsgründungszeit (1866-1880), Frankfurt a. M. 2000; kritisch die Rezension von Andreas Biefang, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 14.2.2001.
Ernst Wolfgang Becker