Mikkel Dack: Everyday Denazification in Postwar Germany. The Fragebogen and Political Screening during the Allied Occupation, Cambridge: Cambridge University Press 2023, XV + 311 S., ISBN 978-1-009-21633-3, GBP 85,00
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Als die Alliierten das 'Dritte Reich' niedergekämpft und Deutschland besetzt hatten, standen sie vor allem vor zwei Fragen: Wer ist ein Nazi und wie viele Nazis hat es gegeben? Um eine Antwort auf diese Fragen zu finden und das politische Leben des besetzten Landes vom Nationalsozialismus zu säubern, griffen alle vier Besatzungsmächte, also Amerikaner, Briten, Franzosen und Sowjets trotz aller politischen Differenzen auf dasselbe Instrument zurück: den Fragebogen.
Mikkel Dack rückt dieses Instrument ins Zentrum seines aus einer Dissertation an der Universität Calgary hervorgegangenen Buches, das als "first in-depth study of the Fragebogen" (4) auftritt und das Ziel verfolgt, "a history of mass political screening in occupied Germany" (16) zu erzählen. Dack möchte die Frage nach Erfolg oder Scheitern der politischen Säuberungsbemühungen nach 1945, die einen Großteil der Forschung dominierte, in die zweite Reihe rücken und vielmehr eruieren, wie sich die Befragungen und Überprüfungen von Millionen von Lebensläufen konkret auswirkten. Das Buch steht damit in einer Reihe neuerer Untersuchungen, welche die Entnazifizierungsmaßnahmen reinterpretiert und stärker "von unten" betrachtet haben. Was Dacks Studie auszeichnet, ist der Blick auf alle vier Besatzungszonen und die hier eingesetzten verschiedenen Varianten von Frage- oder Meldebögen, die das politische Leben der Deutschen und ihre Verstrickung in den Nationalsozialismus erkunden sollten. Dabei muss bemerkt werden, dass der Blick des Autors auf die Amerikaner und Briten den größten Raum einnimmt. Dack hat "[t]housands of Fragebögen" (18) sowie die einschlägigen Akten der Besatzungsmächte ausgewertet, um die alltägliche Bedeutung der Überprüfungsmaßnahmen für den Zeitraum von Juli 1943 - als die ersten Planungen begannen - bis Ende 1949 herausarbeiten zu können. Das Buch führt in fünf ungefähr gleich langen Kapiteln in einer Mischung aus Chronologie und Systematik durch das Geschehen.
Das erste Kapitel beleuchtet die Planungen für die Entnazifizierung auf alliierter Seite und zeigt, dass unter der Leitung des deutsch-amerikanischen Politikwissenschaftlers Franz L. Neumann vor allem deutsch-jüdische Exilanten aus dem Umfeld der "Frankfurter Schule" damit beschäftigt waren, Maßnahmen zur Entnazifizierung vorzubereiten, die schließlich in dem Instrument des Fragebogens gipfelten. Das zweite Kapitel verfolgt das Schicksal dieses Instruments weiter. Der Fragebogen kam zuerst in Italien zum Einsatz, um dort bei der Entfaschisierung zu helfen. Obwohl sich schon hier Probleme zeigten, wurde der Fragebogen für Deutschland übernommen; er war "the only practical program option offered" (88).
Der dritte Hauptabschnitt verfolgt dann, wie der Fragebogen in Deutschland eingesetzt wurde, um die Bevölkerung hinsichtlich ihrer Verwicklung in den Nationalsozialismus zu durchleuchten. Zunächst trieben die Alliierten die Distribution und Auswertung der Fragebögen selbst voran, allerdings gerieten diese Bemühungen angesichts der Masse zu bearbeitender Fälle bald in eine Krise. Ab 1946 übergaben vor allem die Amerikaner das Entnazifizierungsprogramm deshalb in deutsche Hände, formulierten ein eigenes Gesetz zur Befreiung von Militarismus und Nationalsozialismus und kürzten den Fragebogen auf ein zweiseitiges Dokument - den Meldebogen - zusammen. Dieser Meldebogen entschied nun darüber, wer ein Spruchkammerverfahren zu durchlaufen hatte und wer weiteren Maßnahmen vorerst entgehen konnte. Wie Dack aufzeigt, verfolgten nicht nur die Amerikaner ein Programm individualisierter Entnazifizierung, sondern - wenn auch in unterschiedlicher Weise - ebenso die übrigen Besatzungsmächte.
Die in den Besatzungszonen kursierenden Fragebögen in ihren unterschiedlichen Formen führten dazu, dass nicht wenige Akteure mehrere davon ausfüllten und sich eine generelle Unsicherheit darüber verbreitete, wann man wirklich entnazifiziert war. Diese Erfahrungen führt das vierte Kapitel vor Augen, das die "everyday denazification experience" (164) in den Blick nimmt. In einer kleinen Fallstudie über den hessischen Kreis Hersfeld zeigt Dack, dass die Entnazifizierung eine Zäsur im Leben etlicher Menschen darstellte, die auch emotional belastend wirkte. Der Fragebogen war also wichtig, schien von ihm - aus Sicht der Befragten - doch die berufliche und politische Zukunft abzuhängen. Deshalb, so das Ergebnis des fünften Kapitels, griffen die Menschen auf bestimmte Erzählmuster zurück, um sich eine Biografie zu erschreiben, die Distanz zum Nationalsozialismus demonstrierte. Anhand von 200 Meldebögen analysiert Dack umsichtig, wie die Betroffenen ihre Mitgliedschaften in NS-Organisationen klein redeten, sich als widerständige Akteure darstellten und sich darum bemühten, Sühnemaßnahmen zu entgehen.
Insgesamt ist das Buch gut lesbar und fügt sich mit seinen Thesen hervorragend in die neuere Entnazifizierungsforschung ein, welche die von älteren Studien herausgearbeiteten Probleme dieser Form der Vergangenheitsbewältigung nicht leugnet, aber das Feld differenziert, indem auch die positiven Effekte der Massenbefragung in die Interpretation einbezogen werden. Die Entnazifizierung war für die Betroffenen wichtig und trug insgesamt dazu bei, dass die Zeitgenossen sich für die Demokratie öffnen konnten und lernten, wie und auf welche Weise nun über das 'Dritte Reich' gesprochen werden musste. Denn der Fragebogen erwies sich auch als ein "unintended emancipatory device that gave voice to many Germans, inviting them to participate in the determination of their own fate" (251). Damit bestätigt Dack die Ergebnisse jüngerer, ähnlich gelagerter Untersuchungen. Die zukünftige Forschung zur Nachkriegszeit wird sein Buch unbedingt berücksichtigen müssen.
Sebastian Rojek