Sébastien Schick / Hannes Ziegler (Hgg.): Publicum und Secretum. Die Diarien Gerlach Adolph von Münchhausens vom Frankfurter Wahltag 1741/1742 (= Quellen zur Geschichte des Heiligen Römischen Reiches; Bd. 2), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2023, 353 S., ISBN 978-3-525-30237-8, EUR 80,00
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In der langen Reihe der Königswahlen, die von 1438 bis 1792 im Heiligen Römischen Reich stattfanden, verfügt der Frankfurter Wahlakt von 1742 über das Alleinstellungsmerkmal, dass es sich beim Elekten um keinen Habsburger, sondern um einen Wittelsbacher handelte. Eine Zeitenwende kam bekanntlich nicht dabei heraus, weil das bayerische Kaisertum Karls VII. nur drei Jahre währte. Gleichwohl bildete der Vorgang einen Traditionsbruch, der nur vor dem Hintergrund einer weit verbreiteten Unzufriedenheit mit dem vorangegangenen Kaisertum Karls VI. erklärbar wird. Die Verhandlungen von 1741/42 sind deshalb analytisch höchst reizvoll und könnten dazu genutzt werden, die in der neueren Literatur vorherrschende, gelegentlich undifferenziert wirkende Würdigung des Reiches als einer funktionsfähigen Rechts- und Friedensordnung mit kritischen Nachfragen zu konfrontieren.
Es ist deshalb sehr zu begrüßen, dass Sébastien Schick und Hannes Ziegler der Forschung mit den Diarien Gerlach Adolph von Münchhausens (1688-1770) eine Schlüsselquelle zur Wahl Karls VII. in mustergültiger Edition zugänglich machen. Münchhausen kann als ein politisches Schwergewicht gelten. Er hatte in Jena, Halle und Utrecht die Rechte studiert, war 1728 in den Geheimen Rat Braunschweig-Lüneburgs aufgenommen worden und sollte 1765 zum Premierminister aufsteigen. Das "Diarium Legationis", das er vom 2. November 1741 bis zum 3. März 1742 in seiner Funktion als erster Gesandter verfasste, trat in der Kommunikation zwischen Frankfurt und Hannover bzw. London neben die offiziellen Gesandtenberichte und Wahltagsprotokolle sowie die Privatkorrespondenz zwischen Münchhausen und einzelnen Amtsträgern.
Im Vergleich zu den offiziellen Berichten enthält das Diarium weitergehende Beobachtungen und Überlegungen, mit denen sich Münchhausen zugleich als intimer Kenner des diplomatischen Parketts in Szene setzte. Das Dokument ist in drei voneinander abweichenden Exemplaren im Niedersächsischen Landesarchiv Hannover und in der Niedersächsischen Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen überliefert. Der Edition liegt das Göttinger Exemplar zu Grunde, das die jüngste und endgültige Version des Textes darstellen dürfte und vermutlich für den Handgebrauch der Hannoveraner Kanzlei bestimmt war.
Wie die Herausgeber zu Recht betonen, verbinden sich mit dem Text zahlreiche Auswertungsmöglichkeiten. Aus rechts- und verfassungsgeschichtlicher Perspektive öffnen sich prozedurale Zugänge zu den kaiserlichen Wahlkapitulationen, die in jüngerer Zeit als Ausdruck von "Protokonstitutionalismus" (Wolfgang Burgdorf) gewürdigt wurden. Reiches Material bietet das Diarium auch hinsichtlich der noch weithin unerforschten Patronage- und Verwandtschaftsverhältnisse, die die "reichische Gesellschaft der Minister" (24) trugen. Gleiches gilt für Zeremonial- und Rangstreitigkeiten (etwa für die von Hannover angestrebte Erlangung der Titel "Großmächtigst" und "Majestät" auch in Reichsangelegenheiten) sowie für Praktiken formaler und informaler Kommunikation. Die Edition böte deshalb einen vorzüglichen Ausgangspunkt für Forschungen, die Prozesse frühneuzeitlichen Entscheidens in einem mikropolitisch strukturierten Handlungsraum verorten. Das damit verbundene Potential sei im Folgenden am Beispiel der Reichsjustiz angedeutet.
Wie so viele andere Quellen kontrastiert das Diarium drastisch mit dem von Identifikation gekennzeichneten Rechtstaatsnarrativ, das weite Teile der Reichsgerichtsforschung noch immer prägt. Münchhausen seufzte über "die so sehr im Reich zerfallene Justiz" (176) und beklagte die angesichts zahlreicher Rekurse an den Reichstag drohende Gefahr eines völligen Stillstandes der Rechtspflege. Zugleich war er sich sicher, dass man zu keiner Lösung der Probleme gelangen, sondern alles an den Reichstag verweisen werde, was nach seiner Überzeugung einer "Remittirung ad calendas graecas" (87) gleichkomme. Neben vielem anderen blieb deshalb auch die angedachte Begründungspflicht (224) auf der Strecke, die in Teilen der Jurisprudenz seit Jahren gefordert wurde [1], um jene richterliche Willkür zu begrenzen, die bislang kaum ins Blickfeld der Justizforschung geraten ist.
Bei alledem war die Tätigkeit der hannoverschen Wahlgesandtschaft von einem erheblichen Maß an organisierter Heuchelei gekennzeichnet. Denn wenn Münchhausen den reichsständischen Eigennutz beklagte, da "an jetzo in Ansehung des zu beobachtenden gemeinen Besten ein Status corruptissimus" (115) erreicht sei, dürfte ihm bewusst gewesen sein, dass Hannover in den vorangegangenen Jahrzehnten zur Paralyse der Reichsjustiz selbst erheblich beigetragen hatte. Um dies zu erkennen, genügt es, den Namen nachzuspüren, die in seinem Diarium auftauchen. Münchhausen erwähnt nicht nur mehrere in Frankfurt anwesende Reichshofräte Karls VI., "welche ihre Cour bey der aufgehenden Sonne machen, und ihre Dienste offeriren" (232), sondern setzte sich bei Mainz und Bayern für Wolf Sigmund von Jaxtheim ein.
Dieser gehörte dem kaiserlichen Justizkollegium seit 1727 an, war jedoch keineswegs ein "österreichischer Reichshofrat" (259). Er stammte vielmehr aus der Grafschaft Oettingen, war durch seine Heirat mit Friederika Dorothea von Neipperg in Wien bestens vernetzt und hatte über Jahre hinweg als Mittelsmann zu den Welfen gedient. Aufgebaut wurde dieses Netzwerk nicht zuletzt durch Christine Luise von Braunschweig-Wolfenbüttel (1671-1747), eine geborene Gräfin von Oettingen-Oettingen, und deren Tochter Elisabeth Christine (1691-1750), die Gemahlin Karls VI. Würde die Genderforschung diesen Faden im Anschluss an die grundlegenden Arbeiten von Bettina Braun und Katrin Keller [2] aufgreifen, könnte sie mit Blick auf die Reichsjustiz fundierte Beiträge zur Beschreibung "harter" Machtpolitik liefern.
Denn das Netzwerk zwischen Wien, Hannover und Wolfenbüttel diente auch dazu, über informale, dem Reichshofratsplenum vorgelagerte und gegenüber der Außenwelt geheim gehaltene Deputationen politischen Einfluss auf den höchstgerichtlichen Entscheidungsprozess zu gewinnen. Diese diskrete "Außenverflechtung" (Hillard von Thiessen) der Rechtserzeugung war der im Prozessschriftgut invisibilisierte Preis, den die Hofburg (und die hierdurch benachteiligten Parteien) für die welfische Unterstützung bei der diplomatischen Absicherung der pragmatischen Sanktion zu zahlen hatten. Umso nachdrücklicher unterstützte Münchhausen im Frankfurter Römer am 5. Januar 1742 den patriotischen Antrag, Karl VII. als Art. XXIV § 13 ein Verbot der Einrichtung von Deputationen in die Wahlkapitulation zu schreiben (208). Merke: There's no business like show business.
Editorische Kärrnerarbeit erfährt in der geschichtswissenschaftlichen Aufmerksamkeitsökonomie nicht immer die gebührende Wertschätzung. Doch wenn ambitionierte Forschungskonzepte überzeugend umgesetzt werden sollen, bedarf es eines archival turns, der dazu befähigt, die Artefakte formaler und informaler Kommunikation konsequent aufeinander zu beziehen und akteurszentrierte Perspektiven auf frühneuzeitliche Entscheidungsprozesse zu entwickeln. Nach Lektüre der vorliegenden Edition, für die den Herausgebern zu danken ist, wünscht man sich jedenfalls, es möchten keine weiteren neun Jahre vergehen, bis die 2015 gestartete Reihe der Quellen zur Geschichte des Heiligen Römischen Reiches wiederum Zuwachs erfährt.
Anmerkungen:
[1] Vgl. Frauke A. Kurbacher: Zur Kritik der gedankenlosen Billigkeit (aequitas cerebrina), in: Matthias Armgardt / Hubertus Busche (Hgg.): Recht und Billigkeit. Zur Geschichte der Beurteilung ihres Verhältnisses. Tübingen 2021, 455-479.
[2] Bettina Braun: Eine Kaiserin und zwei Kaiser. Maria Theresia und ihre Mitregenten Franz Stephan und Joseph II. Bielefeld 2018; Katrin Keller: Die Kaiserin. Reich, Ritual und Dynastie, Wien u.a. 2021.
Tobias Schenk