Philipp Scherzer: Neoconservative Images of Europe. Europhobia and Anti-Europeanism in the United States, 1970-2002 (= History and Ideas; Vol. 2), Berlin: De Gruyter 2022, VI + 385 S., ISBN 978-3-11-076268-6, EUR 109,95
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Auf breiter Quellengrundlage untersucht dieses Buch, ursprünglich eine Dissertation, den amerikanischen Neokonservativismus seit dem späten 20. Jahrhundert. Seine Wurzeln reichen bis in die Anfänge der amerikanischen Republik zurück und beruhen auf einer Grundsatzkritik an der vermeintlich korrupten Alten Welt seit dem Abfall der amerikanischen Kolonien von ihrem Mutterland. Bis heute gehört diese Kritik zur DNA des politischen Selbstverständnisses der USA, die als freie Republik als ein weltgeschichtlicher Ausnahmefall gefeiert wird.
Diese Tradition, so zeigt der Verfasser, setzte sich insbesondere nach dem Sieg über Hitlerdeutschland und seit dem Ausbruch des Kalten Kriegs fort. Zu ihren Hauptzielen gehörte das Streben, die geschichtlich gewachsenen amerikanischen Errungenschaften auch in andere Nationen zu verpflanzen - nicht zuletzt in das vom Faschismus korrumpierte, kriegszerstörte Europa.
In Anlehnung an den französischen Historiker Justin Vaisse unterscheidet der Verfasser zwischen drei Stadien in der amerikanischen neokonservativen Haltung zu Europa nach 1945. Den Übergang vom ersten zum zweiten Stadium legt er in den Regierungsantritt Nixons. Ein drittes Stadium leitete dann, unter der Präsidentschaft von George W. Bush, der islamistische Terroranschlag in New York vom 11.9.2001 ein; der Neokonservatismus war jetzt auch innerhalb der US-Regierung vertreten. Der Verfasser konzentriert sich auf das zweite und dritte Stadium, also auf einen Zeitraum von 1970 bis zu den ersten Jahren des 21. Jahrhunderts, und wählt als seine Zeugen prominente politische Publizisten. Deren Veröffentlichungen referiert er einzeln in aller denkbaren Ausführlichkeit - Eugene V. Rostow, dem einflussreichen Herausgeber der Zeitschrift "Commentary", widmet er zum Beispiel mehr als 40 Seiten, einem David Brooks gar ein ganzes Kapitel. Sein Buch ist so eine höchst informative Fundgrube, strapaziert wegen vielen Wiederholungen und Überschneidungen aber auch die Geduld des Lesers. Leider fehlt seinem Buch auch ein Sachregister, das den Benutzer besser hätte orientieren können. Ebenso vermisst man eine bündige historisch-begriffliche Definition des Phänomens neo-konservativ.
Scherzer zufolge verstärkte die Katastrophe des Zweiten Weltkriegs das traditionelle Stereotyp vom tiefgreifenden Verfall der Alten Welt. In den folgenden Jahrzehnten erwuchs daraus bei den meisten untersuchten Neokonservativen aber keine Wiederauflage eines eher rechtslastigen, militärisch generell interventionsfeindlichen amerikanischen Isolationismus, wie er aus der Zwischenkriegszeit von 1919 bis 1945 bekannt ist. Für die amtliche amerikanische Außenpolitik danach machten sich die Neokonservativen, bei allen traditionellen anti-europäischen Vorbehalten, vielmehr die Leitvorstellung einer von den USA aktiv zu unterstützenden transatlantischen Werte- und Interessengemeinschaft zwischen Amerika mit einem möglichst geeinten Europa zu eigen und stimmten so mit der Grundorientierung der offiziellen amerikanischen Europapolitik überein.
Walter Laqueur, für den Autor einer der wichtigsten Inspiratoren für diesen Neokonservativismus, hatte als politischer Flüchtling das Deutschland Hitlers noch vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs verlassen. Nachdem er nach 1945 zunächst noch auf eine schnelle Wiedergeburt Europas gehofft hatte, wurde er mit Blick auf die überaus langsamen Fortschritte im europäischen Integrationsprozess zunehmend skeptisch, ohne freilich sein Fernziel einer Annäherung eines freien und geeinten Europas an das amerikanische Vorbild aus den Augen zu verlieren. Mit dem Ziel eines erfolgreichen "Nation Building", nicht zuletzt im Fall des besiegten Hitler-Deutschlands, gab er damit für die meisten seiner ihm nachfolgenden Gesinnungsgenossen den Ton an. Die meisten von ihnen wie zum Beispiel David Brooks, David Boorstin, Owen Harries, Charles Krauthammer, Robert Kagan, Irving Kristol, Norman Podhoretz oder Eugen V. Rostow teilten die Leitvorstellung von den USA als einer weltweiten Ordnungsmacht, die auch für das westliche Europa zuständig war und deshalb eine Führungsrolle bei der Eindämmung der UdSSR beanspruchen durfte. Gegenläufige Bestrebungen, wie sie unter dem Schlagwort dritte Kraft in Europa aufkamen, verurteilten diese Kommentatoren als Appeasement, in Erinnerung an das abschreckende Beispiel der europäischen Reaktion auf NS-Deutschland. Gleiches galt nach dem Ausbruch des Kalten Kriegs für die Entspannungspolitik europäischer Politiker wie Willy Brandt, die amerikafeindliche Großmachtpolitik von Charles de Gaulle oder in den frühen 1980er Jahren für den Massenprotest gegen eine atomare Nachrüstung der NATO. Als Reaktion kamen in den USA traditionell isolationistische Tendenzen auf. Durch die Gründung von öffentlichen Pressure Groups wie dem "Committee on the Present Danger" oder einer "Coalition for a Democratic Majority", verschafften die Neokonservativen ihrem Atlantizismus ein breites Echo in der Öffentlichkeit.
Eine fundmentale Änderung fiel erst in die dritte Phase des Neokonservatismus, die der Verfasser mit der Zeit nach "9/11" beginnen lässt. Jetzt entwickelten die Neokonservativen eine präzedenzlose Europhobie, für die sie mit der Zeitschrift "The Weekly Standard" auch ein öffentliches Sprachrohr schufen. Als Initiator bezeichnet der Verfasser den in New York aufgewachsenen Journalisten und Erfolgsautor David Brooks. Dieser hatte in den frühen neunziger Jahren als Korrespondent in Brüssel über das neue Europa berichtet. Das kritische Urteil über die EU galt jetzt nicht mehr nur dem Fortgang, sondern vor allem den Ergebnissen der europäischen Integration, die ihn mehr und mehr desillusionierten. Gewiss erkannte er an, dass das neue Europa seinen Mitgliedern intern militärische Konflikte zu ersparen versprach. Insgesamt betrachtete er die EU mit ihrem elitär-bürokratischen Zuschnitt, ihrem demokratischen Defizit und ihrem unehrlichen politischen Selbstverständnis, das jede Kritik als "anti-europäisch-reaktionär" zum Schweigen brachte, aber als gescheitert. Die Nahostkrisen ließen dort auch antisemitische Vorurteile wieder aufkommen. Umso mehr hob sich sein eigenes Land als Vorbild für eine wahre Demokratie ab: Brooks und seine Anhänger, so schreibt Scherzer (232), verurteilten das neue Europa als "technokratisches, künstliches, farbloses und letztlich zerbrechliches" Konstrukt (232). Die USA erschienen gleichzeitig als "lebendige, atmende und robuste Antithese". (332)
Der Fortfall der sowjetischen Bedrohung nach der Wende von 1990, die eigentliche Zäsur in der amerikanischen Europapolitik, habe die europäisch-amerikanische Interessengemeinschaft dann grundsätzlich infrage gestellt. Europas Unfähigkeit, den Jugoslawien-Konflikt beizulegen, und erneut dessen begrenzte Rolle im Kosovo-Konflikt 1999 bestätigten diese negative Bilanz. Jetzt machten sich die Neokonservativen auch die Beschwerden über den mangelnden europäischen Beitrag zu den Rüstungskosten der NATO zu eigen, wenn sie - unter ihnen besonders Eugene Rostow - auch das NATO-Bündnis noch nicht in Frage stellten.
Eine weitere Zäsur bildete 2003 die Weigerung Deutschlands und Frankreichs, die USA in ihrem Krieg gegen das diktatorische Regime im Irak zu unterstützen. Die neo-konservativen Sprachrohre beendeten damit ihr Engagement für die EU. In der Leitvorstellung einer von den USA geführten unipolaren Welt war für das neue Europa als selbstständiger Faktor kein Platz mehr. Der Neokonservativismus galt jetzt erst recht als ein rein amerikanisches Phänomen - für Scherzer auch der Ausdruck eines ungebrochenen amerikanischen Nationalismus. Die traditionellen anti-europäischen Vorurteile Amerikas bestimmten damit auch die konkreten außenpolitischen Zielvorstellungen von Scherzers Gewährsleuten.
Wer wissen will, was der amerikanische Neokonservatismus historisch-politisch bedeutet hat und damit auch den Fall Trump richtig einordnen möchte, kann sich mit diesem Buch gut orientieren.
Klaus Schwabe