Martin Biersack: Geduldete Fremde. Spaniens Kolonialherrschaft und die Extranjeros in Amerika (= Campus Historische Studien; Bd. 82), Frankfurt/M.: Campus 2023, 490 S., ISBN 978-3-593-51701-8, EUR 54,00
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Personen, die außerhalb der spanischen Reiche geboren waren, war der Aufenthalt in Hispanoamerika die ganze Frühe Neuzeit hindurch offiziell verboten. Faktisch aber wurden "Ausländer" (extranjeros) in den spanischen Besitzungen jenseits des Atlantiks meist geduldet. Dieses Spannungsverhältnis zwischen Exklusion und Duldung steht im Mittelpunkt von Martin Biersacks lesenswerter Studie, die auf die Münchener Habilitationsschrift des Verfassers von 2021 zurückgeht.
Martin Biersack ist keineswegs der erste, der sich mit diesem Thema beschäftigt. [1] Während sich die bislang vorliegenden Arbeiten aber auf einzelne Regionen oder Migrantengruppen beschränken, nimmt Biersack das Phänomen der extranjeros erstmals für ganz Hispanoamerika in den Blick, wobei er das Hauptaugenmerk auf Orte und Regionen richtet, an denen sich besonders viele "Ausländer" aufhielten (Buenos Aires, Kuba, Mexiko-Stadt und Chile). Zeitlich beschränkt er sich auf die Zeit zwischen dem Spanischen Erbfolgekrieg und den Unabhängigkeitskriegen in Lateinamerika (1700-1821). In diesem Zeitraum wuchs der Einfluss der zentralen Institutionen der Monarchie, was sich auch auf dem Feld der Migrationspolitik bemerkbar machte. Seit Beginn des 18. Jahrhunderts erließ die Krone in mehr oder weniger regelmäßigen Abständen Ausweisungsdekrete gegen extranjeros und kontrollierte deren Umsetzung. Zu diesem Phänomen legt Biersack nun erstmals eine auf breiter Quellen- und Literaturgrundlage beruhende Synthese vor, die nicht nur die disparaten Befunde regionaler Einzelstudien zusammenführt, sondern auch konzeptionell über die bisherigen Forschungsbeiträge hinausweist.
In einer konzisen Einleitung umreißt Biersack seinen Gegenstand, das "Handlungsfeld extranjeros" (25), als einen normativen, diskursiven und institutionellen Rahmen, in dem die Zugehörigkeit von Personen ausgehandelt und individuell über deren Bleiberecht entschieden wurde. Dabei kann er gewinnbringend an die Arbeiten von Tamar Herzog anknüpfen, mit deren Thesen er sich aber zugleich kritisch auseinandersetzt. [2] So betont Biersack etwa im Gegensatz zu Herzog, dass die Kategorie der vecindad, d.h. der Zugehörigkeit zu einer lokalen Gemeinschaft von vecinos (wörtlich: Nachbarn), bei den von ihm untersuchten Aushandlungsprozessen allenfalls eine nachgeordnete Rolle spielte (20, 48-52).
Im Hauptteil der Arbeit unterzieht Biersack die "Funktionsweise kolonialer Herrschaft" mit Blick auf das Handlungsfeld extranjeros einer systematischen Analyse. Dabei zeigt er zunächst auf, welche teils widersprüchlichen politischen Leitlinien die staatliche Migrationspolitik bestimmten. Neben der Verteidigung des von Spanien beanspruchten Monopols auf den Amerikahandel, das im 18. Jahrhundert allerdings mehr und mehr gelockert wurde, spielte bis zum Ende des Ancien Régime auch die Reinerhaltung des katholischen Bekenntnisses eine Rolle, um die sich vor allem kirchliche Institutionen und die Inquisition sorgten. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts rückten im Kontext von Kriegen und Revolutionen zunehmend politische Sicherheitsbedenken gegen den Aufenthalt von Ausländern in den Vordergrund. Gleichzeitig konnte die Anwesenheit von Nicht-Spaniern aber aufgrund ihrer beruflichen Qualifikation, ihres Geschlechts - Frauen wurden aufgrund des Mangels an Europäerinnen als Heiratspartnerinnen fast nie ausgewiesen - oder im Kontext von Peuplierungsmaßnahmen durchaus erwünscht sein.
Wie Biersack im Folgenden zeigt, verfolgten die zentralen Institutionen der Monarchie in Madrid, die Vizekönige und audiencias in den Indias sowie lokale Akteure und pressure groups, wie etwa die einflussreichen Vertretungen ortsansässiger Kaufleute (consulados) in Cádiz, Mexiko-Stadt und Lima, dabei höchst unterschiedliche und teilweise widerstreitende Ziele und Interessen. Die zentrale Herausforderung für die koloniale Herrschaft bestand darin, das Spannungsverhältnis zwischen den beiden Polen der Exklusion und der Duldung so auszutarieren, dass der soziale Frieden gewahrt blieb. Dabei erwies sich die koloniale Rechtsordnung als hilfreich, die lokalen Akteuren (einschließlich der von Ausweisung bedrohten Ausländer selbst) erheblichen Spielraum ließ und eine flexible Handhabung der von der Zentrale in Madrid ausgegeben Rechtsnormen und Direktiven ermöglichte.
In den letzten beiden Kapiteln beleuchtet Biersack den Wandel der untersuchten Phänomene an der Wende zum 19. Jahrhundert. Dabei fällt einerseits ein neuer Rigorismus bei der Ausweisung unliebsamer Ausländer (v.a. Franzosen) ins Auge, der aus der Furcht der spanischen Obrigkeiten vor einem Übergreifen der Revolutionen in Frankreich (1789) und Haiti (1791) auf die eigenen Kolonien resultierte. Andererseits schränkte die Persistenz der kolonialen Rechtsordnung die Reichweite und Wirksamkeit dieser Maßnahmen weiterhin ein. Grundlegende Reformen des Staatsbürgerschaftsrechts im Rahmen der liberalen Verfassung von Cádiz (1812) und eine Aufgabe der restriktiven Migrationspolitik während des trienio liberal (1820-23) erfolgten zu einem Zeitpunkt, als Spaniens koloniale Herrschaft in den Amerikas bereits zu Ende ging, und entfalteten deshalb keine Wirkung mehr.
Martin Biersacks Arbeit besticht durch klare Begrifflichkeit, analytische Schärfe und stringente Argumentation. Sie bietet nicht nur zum Teil neue Einsichten in die Funktionsweise kolonialer Herrschaft in Hispanoamerika, sondern zeigt zugleich, wie obrigkeitliche Migrationsregime im iberischen Atlantik und deren Aneignung durch die betroffenen Akteure die Aushandlung von Zugehörigkeiten beeinflussten. Damit leistet der Verfasser einen wichtigen Beitrag zu einem aktuellen Forschungsfeld. Überzeugend ist dabei vor allem der praxeologische Ansatz, der das Verhältnis von Fremd- und Selbstkategorisierungen und die Aushandlungsprozesse von Zugehörigkeiten auf unterschiedlichen Ebenen sichtbar macht. Mit seiner luziden Analyse des "Exklusionsmechanismus", des performativen Charakters der Ausweisungskampagnen und der Dissimulation als Duldungspraxis dürfte Biersack Maßstäbe für künftige Forschungen auf diesem Gebiet setzen.
Biersacks These, dass die Ausweisungsdekrete, obgleich sie meist nicht in die Praxis umgesetzt wurden, kulturellen Anpassungsdruck bei den Migranten erzeugten, ist höchst plausibel und deckt sich mit den Ergebnissen anderer Untersuchungen. Wenn Biersack allerdings in seinem Fazit konstatiert, die "Camouflage als Spanier" sei "im Prinzip nichts anderes" gewesen als eine "vollständige kulturelle Assimilation" (389), könnte das Widerspruch hervorrufen. Abgesehen davon, dass das Konzept der Assimilation in der neueren Migrationsforschung zunehmend kritisiert wird, wie Biersack selbst einräumt (74), erscheint es nicht zuletzt mit Blick auf die kulturell diversen Gesellschaften im kolonialen Hispanoamerika problematisch. Eine einheitliche Kultur, an die sich die extranjeros hätten anpassen können, um als "Spanier" zu gelten, gab es bei näherem Hinsehen eigentlich nicht.
Kritisch einwenden mag man außerdem, dass Biersacks Studie trotz ihres praxeologischen Zugriffs den Schwerpunkt ganz überwiegend auf obrigkeitliches Handeln legt. Oft würde man gerne mehr über die individuellen Strategien und die Handlungsmacht der Migranten erfahren. Deren Perspektive scheint zwar immer wieder einmal durch, besonders gelungen etwa in dem einleitenden Beispiel von Federico Saul, der sich 1795 gegenüber den Autoritäten in Neuspanien erst als konversionswilliger Muslim und dann als Botaniker ausgab, um seiner drohenden Ausweisung zu entgehen. Im weiteren Verlauf der Arbeit aber wird ein solcher akteurszentrierter Ansatz nicht konsequent weiterverfolgt. Das Hauptinteresse gilt vielmehr den Aushandlungsprozessen zwischen lokalen Interessengruppen, kolonialen Obrigkeiten und den zentralen Institutionen in Madrid. Die Betroffenen selbst treten dabei oft ein wenig in den Hintergrund oder erscheinen als Spielball mächtiger Interessen. Hier könnten künftige Forschungen ansetzen.
Die genannten Kritikpunkte und Desiderata schmälern in keiner Weise den Wert von Biersacks wegweisender Studie, der eine rasche Übersetzung ins Spanische oder Englische zu wünschen ist.
Anmerkungen:
[1] Vgl. für Neuspanien etwa Charles F. Nunn: Foreign Immigrants in Early Bourbon Mexico, 1700-1760, Cambridge 1979; Eleonora Poggio: Comunidad, pertenencia, extranjería. El impacto de la migración laboral y mercantil de la región del Mar del Norte en Nueva España, 1550-1640, Leuven 2022.
[2] Tamar Herzog: Defining Nations. Immigrants and Citizens in Early Modern Spain and Spanish America, New Haven 2003; dies: Early Modern Citzenship in Europe and the Americas, A Twenty Years' Conversation, in: Ler Historia 78 (2001), 225-237.
Thomas Weller