Barbara Schlieben: Gegenwart schreiben im 10. Jahrhundert. Deutungen der eigenen Zeit in Rathers "Meditationes" und in Attos "Polipticum" (= Europa im Mittelalter; Bd. 30), Berlin: De Gruyter 2024, XI + 451 S., ISBN 978-3-11-055514-1, EUR 99,95
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Auch die Vergangenheit hat ihre Gegenwart(en). Allerdings wurde dieser Umstand in der Mediävistik bislang eher selten explizit thematisiert. Da jedoch viele der erzählenden Quellen des Mittelalters auch und teilweise sogar nur die eigene Gegenwart in den Blick nahmen, ist dies eine durchaus bemerkenswerte Leerstelle der abundanten Literatur über die mittelalterliche Historiographie: Von wenigen Ausnahmen abgesehen [1], wurde diese Gegebenheit zwar registriert oder berücksichtigt, aber eben nicht zum Kern des eigenen Erkenntnisinteresses gemacht. Daraus zieht Barbara Schlieben in ihrer Berliner Habilitationsschrift die berechtigte Konsequenz, die 'Gegenwart' als Konstitutionsbedingung zentral zu stellen: "Im Mittelpunkt meiner Studie steht [...] die Frage, wie sich Gegenwart darstellt, was genau es so schwierig macht, Gegenwart zu beschreiben und welche Strategien es gibt, um eben diesen Schwierigkeiten beizukommen". Oder noch knapper auf den Punkt gebracht: "Dieses Buch handelt von der Herausforderung, Gegenwart zu erfassen, zu beschreiben und zu deuten" (Vorwort, V). Hierfür bringt sie die Wortneuschöpfung der 'Gegenwartsschreibung' in Stellung, um "den Konstruktionscharakter von Gegenwartsdarstellungen präsent" zu halten, wobei sie in Kauf nimmt, dass der Begriff "sperrig klingen" mag (4).
Als Untersuchungsgegenstand konzentriert sich Schlieben auf die sogenannten 'Meditationes' Rathers von Verona (Entstehungszeit: um 934-939, bis 945) sowie das 'Polipticum' Attos von Vercelli (Entstehungszeit: um 950), vergleicht also die Texte zweier Bischöfe des regnum Italiae miteinander, die beide in der Mitte des 10. Jahrhunderts in relativer geographischer Nähe zueinander entstanden sind. Ihre spezifische Konfiguration macht es jedoch erforderlich, vor die Diskussion der beiden Werke mehrere einleitende Schleifen zu setzen. Unter einem Rückgriff auf Gegenwartsmodelle, die in den Forschungsdiskursen verschiedener Disziplinen verhandelt werden, umkreist Schlieben dabei zunächst die Vielfalt der existierenden Gegenwartsbegriffe, um dann die verschiedenen zu berücksichtigenden Forschungsstände und Kontexte einzubeziehen, was in unterschiedlicher Dichte geschieht. Auf eine kurze Einleitung, die mit "Annäherung an Gegenwart" überschrieben ist (1-19) folgt hierfür ein langes, verschachteltes Kapitel über "Gegenwarten und Gegenwartsschreibung" (20-106), in dem verschiedene Begriffsbestimmungen von 'Gegenwart' ([Post-]Modern, im Frühmittelalter selbst sowie in der Mediävistik) zur politischen Ereignisgeschichte in Oberitalien im 10. Jahrhundert hinüberleiten, bevor abschließend Rather von Verona und Atto von Vercelli berührt werden und Schlieben eine erste Differenz der beiden Autoren aufzeigt. Wenngleich beide die eigene Zeit zu erfassen suchten, hätten sie verschiedene Herangehensweisen genutzt: Während Rather seinen Stoff 'kategorisch' systematisiere, habe Atto einen prognostischen Zugang gewählt. Diese Unterscheidung leitet Schlieben aus ihrem eigenen Verständnis des 'Gegenwartsbegriffes' ab, den sie bemerkenswerterweise gar nicht genau ausformuliert, sondern vielmehr die verschiedenen referierten Vorstellungen und Modelle bewusst nebeneinanderstehen lässt und eine Minimaldefinition als Arbeitsprogramm setzt: "Dieses andere Wissen [manche Zeitgenossen verfügten über anderes Wissen als andere], das zugleich ein anders wissen ist, einzufangen, zu beschreiben, in konkreten Fallbeispielen zu analysieren [...], ist das Ziel dieser Studie". (58) Ein Zwischenschritt ("Wie sich Gegenwart strukturieren lässt: Heuristische Voraussetzungen im Oberitalien Mitte des 10. Jahrhunderts", 107-141) umreißt mit der mehrmals betonten Bedeutung der vor allem an Boethius geschulten Dialektik die wissensgeschichtlichen Grundlagen, die beiden Autoren in ihrer Zeit (und als Resultat ihres eigenen Bildungsweges) zur Verfügung standen. Erst dann folgen zwei Kapitel zu den ausgewählten Autoren, wobei zunächst das etwas später entstandene 'Polipticum' Attos (142-256) dann Rathers 'Meditationes' (257-354) einem close reading unterzogen werden. Ein konzentriertes Schlusskapitel resümiert und typisiert abschließend die wichtigsten Ergebnisse (355-371), die vom jeweiligen Umgang mit den politischen Veränderungen südlich der Alpen in der Mitte des 10. Jahrhunderts über Status und Position der Bischöfe in der Welt und gegenüber dem König bis zur konkreten Sozialstruktur der frühmittelalterlichen Gesellschaft reichen. Beide Bischöfe hätten "in der Herausbildung neuer sozialer Beziehungsstrukturen ein zentrales Problem ihrer Zeit" gesehen. Der dabei entscheidende Punkt sei es gewesen, dass in der Entstehungszeit der beiden Werke tradierte Beziehungen brüchig geworden seien, es aber für die Zeitgenossen unklar geblieben sei, "wie diese sich künftig gestalten würden". (357) In Anknüpfung an den eingangs festgestellten Unterschied zwischen kategorialer (Rather) und prognostischer (Atto) Gegenwartsschreibung stellt Schlieben dabei vor allem auf den im jeweiligen Werk greifbaren Zugang zur Gegenwart ab: Eine Prognose linearisiere die Offenheit der eigenen Zeit auf einen in der Zukunft liegenden Fluchtpunkt und verenge dadurch die eigene Gegenwart, wohingegen eine kategoriale Herangehensweise diese verbreitere, da die gewählten Kategorien als Selektionsmechanismus fungierten, die nicht aus der Vergangenheit hergeleitet und in die Zukunft fortgedacht werden müssten (368).
Es ist eine kleine Ironie der Geschichte, dass ein Buch über Gegenwartsschreibung, das seinen konzeptionellen Ausgangspunkt in Schliebens eigener "Irritation über die Berichterstattung während der Eurokrise" hatte (Vorwort, V), erst mit einigen Jahren Verzögerung publiziert wird (zu den Hintergründen Vorwort, VI), was man dem Anmerkungsapparat deutlich anmerkt. Dieser beinhaltet zwar durchaus neuere Literatur, nennt diese aber eher en passant, ohne sie wirklich für den eigenen Argumentationsgang heranzuziehen. Vor dem Hintergrund ihrer breiten Berücksichtigung der für sie einschlägigen interdisziplinären - hier sind es vor allem Texte aus den Sozialwissenschaften - wie internationalen Arbeiten, die sich aus der Matrix ihres gewählten Ansatzes mit den beiden untersuchten Werken aus dem regnum Italiae des 10. Jahrhunderts ergeben, kann dieses Monitum jedoch nicht mehr als eine Randbemerkung sein. Gleiches gilt für den Eindruck, dass man selbst an der einen oder anderen Stelle auf andere Verweise gesetzt hätte, weil dies lediglich Ausweis individueller Lektüregeschichten (und -gegenwarten) ist. Zumindest angemerkt sei an dieser Stelle lediglich, dass man bei der intensiven Diskussion des konkreten Abfassungshintergrundes von Attos 'Polipticum', den Schlieben mit dem Eingreifen Ottos des Großen in Italien parallelisiert, auch die These Frithjof Sielaffs, Otto habe bereits 941 einen Italienzug unternommen und dabei König Hugo unterworfen [2], hätte berücksichtigen können. Denn obschon diese Annahme, die in der Forschung ohnehin nie eine größere Rolle gespielt hat, mit guten Gründen zurückgewiesen wurde [3], hätten die von Sielaff angeführten Argumente an dieser Stelle (mit-)diskutiert werden können. Folgt man nämlich Sielaffs weiterhin überlegenswerten Bildes eines weiterhin vielfältig verflochtenen nachkarolingischen Europas und seiner daraus abgeleiteten Annahme, die 'Anfänge der Italienpolitik Ottos I.' bereits in die 940er Jahre zu datieren, dann müsste man auch dieses Jahrzehnt bereits als "Warnung gegen die in Attos Augen drohende Herrschaftsübernahme Ottos I. in Oberitalien" (367) begreifen.
Im Ergebnis kann die Arbeit sowohl als konkrete Detailstudie zu zwei in der (deutschsprachigen) Mediävistik weniger intensiv behandelten Autoren wie als produktiver Impuls für die eigene Arbeit mit der mittelalterlichen Überlieferung gelesen werden. Auch wenn nicht jedes Ergebnis zwingend Resultat der eigenen theoretischen Herangehensweise zu sein scheint, liegt gerade in der gewählten Perspektive und den dafür dienstbar gemachten Gegenwartsmodellen aus anderen Disziplinen der allgemeine Gewinn. Im Gegensatz zum bekannten, einer spätmittelalterlichen Exempelsammlung entlehnten Diktum Angela Merkels, "Alles vom Ende her [zu] denken" [4], könnte das Fazit in Anlehnung an Schliebens eigener, im Vorwort ebenfalls sehr pointiert formulierter Fragestellung entsprechend lauten: Mittelalterliche Gegenwartsschreibung sollte man gerade nicht vom Ende, sondern von der offenen Zukunft ihrer jeweiligen Entstehungszeit her denken. Hierfür liefert das schlanke und gut zu lesende Buch eine hilfreiche Grundlage. Das Übertragen der hier gebotenen Ansätze auf andere (mittelalterliche) Beispiele verbleibt als Aufgabe.
Anmerkungen:
[1] Vgl. insbesondere Fritz Ernst: Zeitgeschehen und Geschichtsschreibung. Eine Skizze, in: Die Welt als Geschichte 17 (1957), 137-189.
[2] Vgl. zuerst Frithjof Sielaff: Erben der Karolinger. Studien zur Geschichte des frühen Hochmittelalters, Universität Greifswald 1954, 85-113.
[3] Vgl. Herbert Zielinski: "Erben der Karolinger". Zu den Anfängen der Italienpolitik Ottos des Großen und zum Werk Frithjof Sielaffs, in: De litteris, manuscriptis, inscriptionibus ... Festschrift zum 65. Geburtstag von Walter Koch, hgg. von Franz-Albrecht Bornschlegel u.a., Wien u.a. 2007, 755-788.
[4] Bezeichnenderweise äußerte Merkel diesen Satz unmittelbar nach der Eurokrise prominent beim Empfang der CDU/CSU-Bundestagsfraktion zum 70. Geburtstag von Bundesminister Dr. Wolfgang Schäuble am 26. September 2012 und machte ihn zum Aufhänger ihrer Rede; vgl. https://www.bundesregierung.de/breg-de/service/newsletter-und-abos/bulletin/rede-von-bundeskanzlerin-dr-angela-merkel-793096.
Simon Groth