Stefan Wannenwetsch: »Es gibt noch Arbeiter in Deutschland«. Zur Kategorie Arbeiter in der bundesdeutschen Arbeitnehmergesellschaft (= Ordnungssysteme. Studien zur Ideengeschichte der Neuzeit; Bd. 60), Berlin: De Gruyter 2024, XVIII + 714 S., 2 Farb-, 1 s/w-Abb., ISBN 978-3-11-108629-3, EUR 79,95
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Schluss mit dem Wehklagen über das Ende der Arbeitergeschichte, möchte man ausrufen. In vielfältigen Varianten ist diese Geschichte wieder präsent: globalgeschichtlich erweitert und mit Fokus auf das Themenfeld Arbeit - ohne dabei die Akteure und Akteurinnen zu vergessen. Hinzu kommen in den letzten Jahren institutionelle Bemühungen wie die German Labour History Association, Zeitschriften wie "Arbeit - Bewegung - Geschichte", Projekte zur jüngeren Gewerkschaftsgeschichte sowie Veröffentlichungen.
Nun liegt hier eine über 700 Seiten starke Dissertation von Stefan Wannenwetsch vor, der keinen treffenderen Titel für sein Buch hätte wählen können. Denn, was er ausbreitet, ist eben keine Geschichte des Verlusts, sondern eine Suche nach der Verwendung des Konzepts Arbeiter in der bundesrepublikanischen Geschichte - vornehmlich der 1950er bis 1980er Jahre, die oft als Jahrzehnte des Verschwindens des Malochers, der körperlich Tätigen beschrieben werden.
Für die Leserinnen und Leser wichtig: Beachten Sie die Anführungszeichen im Titel. Denn es handelt sich bei dem Buch nicht um eine Sozial- oder Alltags-, sondern um eine Diskurs- und Wissensgeschichte. Aus dieser Perspektive eröffnen sich zahlreiche Untersuchungsebenen. Denn selbst falls "sich niemand mehr die Identität 'Arbeiter' konkret aneignet, hat dies auf die epistemische Ressource zunächst keine große Auswirkung" (35). Es geht also darum, wie andere über Arbeiter und Arbeiterinnen reden, denken, schreiben, sie zu kategorisieren suchen. Dem von Wannenwetsch selbst thematisierten und - aus meiner Sicht - nicht unberechtigten Vorwurf, der Autor reproduziere "die gesellschaftlichen Machtverhältnisse", setzt er das Argument entgegen, dass "auch Arbeiterinnen und Arbeiter dem gesellschaftlichen Aushandlungsprozess (unterliegen), den sie freilich durch individuelles oder kollektives Handeln zu beeinflussen suchen können" (36).
Der Einleitung schließt sich ein begriffsgeschichtliches Kapitel an, in dem der Autor vor allem auf Grundlage von "Spiegel"-Artikeln den Konzepten von Arbeitern und Arbeitnehmern in der Bundesrepublik nachgeht. Er kommt dabei zu dem Ergebnis, dass der Arbeiterbegriff "eine lebensweltliche Relevanz beibehalten" habe, andererseits aber der "Anspruch, der eigentliche Produzent des gesellschaftlichen Reichtums" zu sein, vom Arbeiter auf den Arbeitnehmer übergegangen sei (114).
Diesen Kapiteln schließen sich vier chronologische Teile an, die in sich wiederum mehrere Untersuchungsfelder einschließen. Im Vordergrund - auch vom Umfang her - steht der Umgang mit dem Arbeiterkonzept innerhalb der Gewerkschaften, speziell des Deutschen Gewerkschaftsbundes. Doch werden weitere Ebenen integriert wie Recht (Vereinheitlichung der Rentenversicherung, etc.), Kultur (Arbeiterfilme) und Wissenschaft (institutionalisierte Arbeiterbildung).
Diese chronologische und nach Sachpunkten gegliederte Darstellung hat zahlreiche Vorteile. Gleichzeitig birgt sie die Gefahr der Redundanzen oder, wie es Wannenwetsch formuliert: "Wichtiger war mir, dass die Geschichten [...] unabhängig voneinander oder in einer anderen Reihenfolge gelesen werden können" (IX).
Überraschend schwer mit dem Arbeiterkonzept tat sich die Funktionärsspitze des DGB. Gerade sie wollte sich seit den 1950er/60er Jahren vom Arbeiterbegriff verabschieden und ein umfassenderes Arbeitnehmer-Konzept etablieren. Diese Vorstellung wurde keineswegs widerspruchslos hingenommen. Gerade den "'Veteranen der alten Arbeiterbewegung' galt der Arbeitnehmerbegriff [...] in der Nachkriegszeit als eine 'kränkende Bezeichnung'" (143). In den 1970er Jahren taten sich rund um den Arbeiterbegriff neue Konfliktlinien auf.
Auf der einen Seite stand die für die im öffentlichen Dienst beschäftigten Arbeiter hauptsächlich zuständige Gewerkschaft ÖTV. Zahlreiche Arbeiter rangierten eher "am unteren Ende der gesamtwirtschaftlichen Lohnskala" (277). Daher war für viele ÖTV-Vertreter der Arbeiter- naheliegender als der Arbeitnehmerbegriff. Auf der anderen Seite stellte sich das Problem geringer Anerkennung "für einen bei der IG Metall organisierten Arbeiter von Daimler-Benz gewiss nicht in der Dringlichkeit, wie sie ein von der ÖTV vertretener Müllmann tagtäglich erfuhr" (278).
Obwohl von der DGB-Spitze nicht gewünscht, etablierte sich in seinerzeit ein Ausschuss, der das Thema Arbeiterpolitik im DGB bearbeitete. Wannenwetsch beschreibt diesen Prozess in Anlehnung an Andreas Reckwitz als Singularisierungsprozess. Auf drei Bundesarbeiterkonferenzen 1977, 1981 und 1985 wurde der Arbeiterstatus als etwas Besonderes herausgearbeitet. 1981 gelang dies über das Thema der Gesundheitsgefährdung (körperlicher) Arbeit: "Arbeit darf nicht kaputtmachen".
Doch insgesamt nahmen bis zur Konferenz 1985 unter dem Motto "Zukunft der Arbeit - Zukunft der Arbeiter?" die Zweifel zu. Das Medieninteresse hatte nachgelassen, die Gestaltungskraft gewerkschaftlichen Handels stand allgemein in Frage.
Noch verlustreicher verlief die Entwicklung des Forschungsinstituts für Arbeiterbildung, das Wannenwetsch für die Analyse der Wissenschaft heranzieht. Naheliegend als Untersuchungsgegenstand wäre hier auch die Industriesoziologie gewesen. Doch durch den Fortbildungsansatz der Gewerkschaften sieht der Autor hier einen Anknüpfungspunkt. In der Tradition der Arbeiterbewegungskultur wurde bei der Gründung des Instituts, bei der die IG Metall, die Ruhr-Universität Bochum sowie das Land Nordrhein-Westfalen beteiligt waren, Arbeiterbildung sowohl als fachliche Weiterbildung als auch Ansatz für politisches Engagement gesehen. In den 1990er Jahren wurde das Institut akademisiert, die traditionelle Arbeiterbildung als zu eng begriffen. Der Partizipationsaspekt geriet unter dem neuen Leiter Klaus Dörre in den Fokus. "Der "Ressource 'Arbeiter'", im Sinn eines Konzepts, "wurde keinerlei wissenschaftlicher Mehrwert eingeräumt" (532). Mit dem Weggang des Direktors war bald das Ende des Instituts besiegelt.
Auch den Arbeiterfilmen erging es nicht anders. In den 1970er Jahren bestand im Vergleich zur DDR-Filmproduktion erheblichen Nachholbedarf. Für junge Filmemacher wie dem Berliner Christian Ziewer bot das neue Sujet Möglichkeiten zu experimentieren. Außerdem stand mit dem WDR ein potenter Geldgeber zur Seite, der sich mit seinem Einzugsgebiet Ruhrgebiet der "Forderung nach einem stärkeren Eingehen auf die Anliegen der Arbeiterschaft kaum entziehen" konnte (306). Doch das innovative des Genres erschöpfte sich schnell und das Interesse erlosch.
Wannenwetsch schlägt eine Schneise durch die Vielzahl an völlig unterschiedlichen Quellengattungen, geht in seinen Analysen spannende Wege und bringt Entwicklungen plausibel auf den Punkt: "Arbeiter mussten sich fortbilden, um Arbeiter bleiben zu können, oder vielleicht präziser formuliert: um nicht arbeitslos zu werden" (476). Die Forschungsvorhaben zur Arbeiterbildung wiederum mündeten eher im Management der Abwicklung statt den Anspruch zu verfolgen, "das kapitalistische System zu überwinden" (530). In der Abkehr der Jungfilmer vom Arbeiterfilm sieht der Autor Parallelen zur Abkehr der Naturalisten von der sozialen Frage im 19. Jahrhundert. Manchmal verrennt er sich dabei in Abstrahierungen, die mühsam entschlüsselt werden müssen: "Arbeiter wurden nun im Modus der Temporalität singularisiert." (474). Von daher ist das Buch durchaus eine Herausforderung - auch was seine Länge betrifft. Das Raffen mancher Schilderungen hätte ihm nicht geschadet.
Inhaltlich erscheinen mir in der Beschäftigung mit den Gewerkschaften Begriffe wie "Gefahr" und "Bedrohung", die vom Arbeiterkonzept für sie ausgingen, zu dramatisierend angesichts der Herausforderungen der Gewerkschaften durch den Strukturwandel "nach dem Boom".
Überzeugend hingegen ist die Analyse des Scheiterns des Arbeiteransatzes im Institut für Arbeiterbildung. Wissenschaftstrends sorgten hier für ein letztlich erfolgloses Umsteuern. Interviews mit damaligen Akteuren hätten sich angeboten. Aber angesichts des Umfangs des Buchs sind Beschränkungen nachvollziehbar.
Dass sich die "kurze Dauer des Genres der Arbeiterfilme" (648) dadurch erklärt, dass "das Kunstfeld das Neue und Innovative prämiert" mag hingegen nicht zu überzeugen. Der Western - um ein anderes Genre herauszugreifen - wurde häufig totgesagt und erfand sich mit neuen Herangehensweisen immer wieder neu.
Wannenwetschs abschließende Einordnung seiner Befunde in eine allgemeine Zeitgeschichte der Bundesrepublik geht zum Teil weit über den Untersuchungsgegenstand hinaus. Die Einschätzung, die "deutlich abgeschwächte gesellschaftliche Prägekraft von 'Arbeiter' und 'Arbeitnehmer'" sei Ausdruck davon, dass soziale Großgruppen wie Klasse zur Analyse kaum noch herangezogen werden (651), überzeugt - obwohl soziale Ungleichheit die kapitalistische Gesellschaft noch immer prägt.
Jürgen Schmidt