Rezension über:

Ilko-Sascha Kowalczuk: Freiheitsschock. Eine andere Geschichte Ostdeutschlands von 1989 bis heute, München: C.H.Beck 2024, 240 S., ISBN 978-3-406-82213-1, EUR 22,00
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Rezension von:
Christian Rau
Institut für Zeitgeschichte München - Berlin
Redaktionelle Betreuung:
Dierk Hoffmann / Hermann Wentker im Auftrag der Redaktion der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte
Empfohlene Zitierweise:
Christian Rau: Rezension von: Ilko-Sascha Kowalczuk: Freiheitsschock. Eine andere Geschichte Ostdeutschlands von 1989 bis heute, München: C.H.Beck 2024, in: sehepunkte 25 (2025), Nr. 2 [15.02.2025], URL: https://www.sehepunkte.de
/2025/02/39582.html


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Ilko-Sascha Kowalczuk: Freiheitsschock

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Weltweit befinden sich liberale Demokratien durch den Aufstieg rechtsextremer und -populistischer Kräfte in Bedrängnis. In Deutschland haben vor allem die Wahlerfolge der Alternative für Deutschland (AfD) im Osten der Republik eine Debatte darüber ausgelöst, warum der Osten "anders" ticke. Dazu erschienen einige thesenstarke Sachbücher, unter denen Dirk Oschmanns 'Der Osten - eine westdeutsche Erfindung' besonders herausragt. In einem Gegenentwurf zu Oschmann, aber auch zu anderen Publikationen, etwa von Katja Hoyer (Diesseits der Mauer. Eine neue Geschichte der DDR 1949-1990) und Christina Morina (Tausend Aufbrüche. Die Deutschen und ihre Demokratie seit den 1980er Jahren), hat sich nun auch der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk zu Wort gemeldet.

Nicht nur im Titel des Buches kündigt er "eine andere Geschichte Ostdeutschlands von 1989 bis heute" an, auch in der Einleitung verspricht er eine "problemorientierte Geschichte Ostdeutschlands seit 1989" (19). Dieses Etikett ist jedoch irreführend, denn es verleiht dem Buch einen wissenschaftlich-abwägenden Anstrich, den der Autor betont nicht erfüllt. Stattdessen macht er deutlich, dass er "polemisch, scharf, kompromisslos" (24) argumentiert. Kowalczuks Buch ist damit ein zugespitzter Essay, der vor dem Hintergrund der aktuellen Ostalgie-Welle in der eingangs skizzierten Debatte erklären möchte, warum so viele Ostdeutsche ein Problem mit liberaler Demokratie und Freiheit haben. Dabei spricht Kowalczuk auch als zeitgenössischer Beobachter und DDR-Oppositioneller, der die Ideen der Revolution von 1989 verteidigt und bereits Ende der 1980er Jahre "in großer Distanz zur Mehrheit der DDR-Gesellschaft" (48) gestanden sei. Das ist keine analytische, sondern eine emotional-biografische Distanz, die den Inhalt des Buches wesentlich mitprägt. Seine Grundthese lautet: "Ein nicht unbeträchtlicher Teil der ostdeutschen Gesellschaft erlitt ab dem Herbst 1989 einen Freiheitsschock" (10).

Dass der ungarische Historiker György Dalos den Begriff bereits vor 15 Jahren nutzte, um die politischen und gesellschaftlichen Verwerfungen in Polen nach dem Ende des Kommunismus zu erklären [1], erwähnt Kowalczuk nicht. Anders als Dalos verknüpft er den Begriff Freiheitsschock nicht mit einer Kritik an den politischen Eliten, denen Dalos einst vorhielt, im Taumel der Diktaturbeseitigung und Demokratisierung nicht den Preis bedacht zu haben, der sich durch den Abschied vieler von ihren bisherigen Lebensentwürfen für die Demokratie ergab. Stattdessen geht es Kowalczuk darum, die hohen Zustimmungswerte für antifreiheitliche und antidemokratische Parteien, neben der AfD auch das erst 2024 gegründete Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW), in der ostdeutschen Gesellschaft zu erklären. Das geschieht in drei Kapiteln, in denen sich Kowalczuk den Nachwirkungen des SED-Regimes, der Wendezeit und deren politischen Vereinnahmungen durch populistische Parteien (auch der Linkspartei) widmet.

Die vielen Befunde, die Kowalczuk durch die Analyse vorwiegend journalistischer, publizistischer und statistischer Quellen präsentiert, können an dieser Stelle nicht im Einzelnen referiert werden. Das Buch hat seine Stärken, wo die Kontinuitäten von der DDR bis heute betont werden. Dabei bewegt sich der Autor auf für ihn sicherem Terrain. Besonders instruktiv sind die Aussagen in Kapitel I über Nachwirkungen des kommunistischen Staatsverständnisses auf die geringe Ausprägung der Zivilgesellschaft in Ostdeutschland. Kapitel II bilanziert die Missverständnisse, unterschiedlichen Erwartungshaltungen und kulturellen Verwerfungen zwischen Ost und West in der Wendezeit, die in Ostdeutschland eine selbstreferenzielle "Ostdeutschtümelei" beförderten. Die darin verklärte kommunistische Vergangenheit diene zugleich als Reservoir für Antworten auf Fragen der Gegenwart. Dass Kowalczuk zugleich den Transformationsschock relativiert und argumentiert, dieser müsse "künftig noch stärker losgelöst von den sozialen Verwerfungen" erforscht werden (137), irritiert jedoch. Dass dieser auch eine politische und kulturelle Dimension hat, ist evident, aber warum der Freiheitsschock der bessere Begriff sein soll und nicht beide Begriffe ihre Berechtigung haben, wird nicht deutlich. Kapitel III beleuchtet schließlich jene Parteien, die sich die mentalen Nachwirkungen der kommunistischen Diktatur zunutze machen, und attestiert diesen einen antiwestlichen, antiamerikanischen, prorussischen und autoritären Wertekonsens mit einem großen Teil der ostdeutschen Gesellschaft. All dies ist nicht neu, das behauptet der Autor auch nicht. Der Ertrag für die wissenschaftliche Forschung ist damit sehr gering. In der aktuellen Debatte über Gefahren von rechts ist das Buch zwar eine willkommene Stimme, gleichwohl bleibt Kowalczuk am Ende sehr im ostdeutschen Container-Blick verhaftet und thematisiert die europäischen und globalen Dimensionen des Rechtsrucks kaum.

Methodische Schwachstellen zeigt das Buch aber dort, wo es um Demokratie und Freiheit in Ostdeutschland geht. Dass Kowalczuk dabei politisch und selektiv argumentiert, ist für ein Sachbuch völlig legitim. Das Problem liegt indes in der uneindeutigen Begriffsarbeit. Ohne seine Kriterien offenzulegen, reiht Kowalczuk im einleitenden Kapitel zu seinem Freiheitsverständnis Theoretiker vom 17. bis zum 20. Jahrhundert aneinander, ohne daraus einen stringenten Begriff zu entwickeln. Vielmehr bleibt der Autor unentschieden: Einerseits deklariert er bestimmte Definitionen als universell gültig, andererseits betont er, dass die Begriffsinhalte im Laufe der Zeit neu ausgehandelt wurden. Daraus ergeben sich aber zwei unterschiedliche analytische Zugriffe, die Kowalczuk nicht reflektiert. Ebenso unklar bleibt die Bestimmung der Begriffe 'Demokratie' und 'Westen'. Allein unter 'Demokratie' versteht Kowalczuk mal eine Lebensform, mal eine Aushandlungsarena und mal die repräsentative Demokratie. Der 'Westen' wird hingegen gar nicht problematisiert, ganz im Gegensatz zum Begriff 'Osten', dem Kowalczuk ein ganzes Unterkapitel widmet. Hier zeigen sich auch inhaltliche Fehlstellen. Ein Beispiel: Auf Seite 97 markiert Kowalczuk die schwache Verankerung der Parteiendemokratie als ostdeutsches Phänomen, dem der Westen allmählich folge. Hier wird der begrenzte Fokus des Verfassers offenbar, der die Literatur zur Geschichte der "alten" Bundesrepublik, die ähnliche Tendenzen bereits für die 1980er Jahre beschrieben hat, nicht hinreichend berücksichtigt. Schließlich wird das Verhältnis zwischen den drei Zentralbegriffen nicht bestimmt. So werden sie zuweilen synonym benutzt, gelegentlich auch in unterschiedlichen Bedeutungen. Es stellt sich beim Lesen gar der Eindruck ein, als fungierten sie mehr als positive Gegenbegriffe zur kommunistischen Diktatur der DDR und ihren Werten, weniger aber als eigenständige Analysekonzepte.

Dem Buch mangelnde Differenzierung vorzuwerfen, wäre wohlfeil. Man mag zudem den aufklärerischen Gestus des Autors und die oft saloppe, nicht selten raue Wortwahl als störend empfinden. Schon gar nicht wird man Kowalczuk in allen Überspitzungen zustimmen. Davon abgesehen, erweisen sich gerade die Benennung der mentalen Nachwirkungen der SED-Diktatur und ihrer politischen Konsequenzen für die Gegenwart als instruktiv. Dagegen bleiben Thesen zur Demokratie und Freiheit unkonkret, so etwa die oft wiederholte Behauptung, viele Ostdeutsche empfänden es als Zumutung, die eigenen Angelegenheiten selbst zu regeln. Was das genau meint, bleibt offen. Viele dieser unkonkreten Aussagen haben ihre Wurzeln in der unentschiedenen Begriffsarbeit, die sich auch im Schlussplädoyer für eine offene Gesellschaft ohne Utopien widerspiegelt. Das eignet sich zwar für mutmachende Sonntagsreden, ist als Konsequenz aus einem Sachbuch aber etwas wenig. Eine straffere Analyse entlang klarer Konzepte hätte womöglich konkretere Schlussfolgerungen erlaubt.


Anmerkung:

[1] György Dalos: Der Vorhang geht auf. Das Ende der Diktaturen in Osteuropa, München 2009, 61.

Christian Rau