Detlef Knipping: Die Chorschranke der Kathedrale von Amiens. Funktion und Krise eines mittelalterlichen Ausstattungstypus (= Kulturwissenschaftliche Studien; 97), München / Berlin: Deutscher Kunstverlag 2001, 207 S., 174 Abb., ISBN 978-3-422-06322-8, EUR 65,50
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Diese Rezension erscheint auch in KUNSTFORM.
Ina Nettekoven: Der Meister der Apokalypsenrose der Sainte Chapelle und die Pariser Buchkunst um 1500, Turnhout: Brepols 2005
Horst Bredekamp: Der schwimmende Souverän. Karl der Große und die Bildpolitik des Körpers, Berlin: Wagenbach 2014
Ulf Sölter (Hg.): Italien so nah. Johann Anton Ramboux (1790-1866), Köln: Wienand 2016
Die Chorschranken der Kathedrale von Amiens gehören zu den Hauptwerken der spätgotischen Skulptur in Frankreich, eine eingehendere Untersuchung wurde ihnen - wie übrigens vielen Werken der Gattung Skulptur in dieser Zeit - bisher noch nicht zuteil. Insofern kommt der Arbeit von Detlef Knipping, die aus einer Dissertation bei Willibald Sauerländer hervorgegangen ist, eine Vorreiterrolle zu. Dies umso mehr, weil sich der Autor nicht nur um eine Autopsie der Skulpturen, ihre stilistische Einordnung und die Klärung ihrer Vorbilder wie auch der Entstehungsbedingungen insgesamt bemüht, sondern kaum weniger als eine Geschichte des Ausstattungstypus der Chorschranke in Frankreich vor allem hinsichtlich seiner Funktionen liefert. Gewisse Vorarbeiten dazu existieren mit der kapitalen, zweibändigen Monografie über die Kathedrale von Amiens des berühmten Amienser Archivars Georges Durand (Amiens / Paris 1901-1903). Darüber hinaus konsultierte Knipping Quellen vor allem in den Bibliotheken und Archiven von Amiens und Paris und spannte einen weiten kunsthistorischen Vergleichshorizont.
Die Schranken, von denen sich nach Umgestaltungen im 18. Jahrhundert - vor allem der Errichtung einer "Glorie" über einem neuen Hochaltar und der damit verbundenen Neuinszenierung des Chores als Kultraum - sowie gewissen Zerstörungen in der Französischen Revolution nur mehr ein Teil erhalten hat, wurden um 1489 begonnen, ihren Abschluss fanden die Arbeiten 1582. Dabei wurde offenbar einem einheitlichen Ausstattungskonzept gefolgt, das noch in seinen spätesten Teilen die etablierte Formensprache weiterführte. Dieses Festhalten an der Tradition erscheint um so erstaunlicher, wenn man bedenkt, dass gegen Ende des ersten Jahrzehnts des 16. Jahrhunderts in der nur wenige Kilometer von Amiens entfernten Jacobskirche von Folleville ein Hauptwerk der Renaissanceskulptur in Frankreich installiert wurde, das Grabmal des Raoul de Lannoy und seiner Frau Jeanne de Poix (99). Knipping liest diese Kontinuitäten in der Gestaltung der Chorschranken als "Historismus", nach seiner Interpretation waren sie nicht zuletzt inhaltlich motiviert: es galt, im Kampf gegen die Hugenotten altkirchliche Rechtgläubigkeit zu veranschaulichen (19).
Augenfällig wird dies besonders am Bildprogramm des Zyklus im nördlichen Querhaus der Kathedrale, der den salomonischen Tempel und seine Ausstattung rekonstruiert (82-88). Wichtig sind in diesem Zusammenhang auch die Hinweise des Autors auf einen geradezu programmatischen Betrachterbezug, etwa die Sprache mancher Inschriften, die auf der Chorseite in Latein, auf der Umgangsseite dagegen in einem, noch dazu gereimten, Volgare abgefasst waren (22, 31, 37). Die Abschnitte über die Einbindung der Schranken in die Liturgie, vor allem die Verehrung des Stadtpatrons Firminus und des heiligen Johannes des Täufers an den Hochfesten am 26. September und 13. Januar jeden Jahres gehören hier zu den spannendsten des Buches (Kapitel V) - an diesen Tagen war der Chor durch eine aufwändige Licht- und Geruchsinszenierung zudem auch sinnlich erfahrbar (67 f.)
Resümierend schreibt Knipping, dass der Zyklus "gleichsam als bildlicher Kommentar zu den im Chorraum oder in der oberen Schatzkammer aufbewahrten Reliquien fungierte. Topographie, Erzählfolge und Bildprogramm waren so eingerichtet, dass sie die Gläubigen auf den Besuch und die Verehrung der Reliquien vorbereiteten" (65 f.). Bedenkenswert sind in diesem Zusammenhang die Verweise des Autors auf die Kathedrale als Schlafstätte für Pilger und die Zugänglichkeit des Chorinneren durch Laien (66, 67 und 112). Es wäre schön gewesen - hätte aber gewiss den Rahmen der Untersuchung bei weitem gesprengt - wenn solche konkreten Befunde zumindest in den Anmerkungen durch Vergleiche reflektiert worden wären [1].
Ein Kapitel über die bedeutendsten Chorschranken in Frankreich - die erste Zusammenfassung dieser Art überhaupt - schließt das Buch ab, das, mit Ausnahme einiger weniger Abbildungen, die offenbar nach schlechten Vorlagen gefertigt worden sind, angemessen bebildert und sorgfältig verlegerisch betreut erscheint. Man darf sich noch mehr intelligente Grundlagenuntersuchungen dieser Art wünschen, die Überblickswerke liegen ja bereits vor. Zu verweisen wäre etwa auf die Arbeit von Jaqueline Boccador sowie auf die bislang vier erschienenen Bände aus der Reihe "La Sculpture Flamboyante" [2].
Anmerkungen:
[1] Zu diesen Themen etwa Dieter Kimpel / Robert Suckale: Die gotische Architektur in Frankreich 1130-1270, München: Hirmer, 2. Aufl. 1995, 126 et passim; Rolf Lauer: Bildprogramme des Kölner Domchores vom 13. bis zum 15. Jahrhundert, in: Dombau und Theologie im mittelalterlichen Köln. Festschrift zur 750-Jahrfeier der Grundsteinlegung des Kölner Domes (= Studien zum Kölner Dom; Bd. 6), Köln 1998, 185-232.
[2] Jaqueline Boccador: Statuaire médiévale en France de 1400 à 1530, Zoug 1974; Jacques Baudoin (Hrsg.): La Sculpture flamboyante, Nonette 1991 ff.
Alexander Markschies