Andreas Mettenleiter: Adam Christian Thebesius (1686-1732) und die Entdeckung der Vasa Cordis Minima. Biographie, Textedition, medizinhistorische Würdigung und Rezeptionsgeschichte (= Sudhoffs Archiv. Zeitschrift für Wissenschaftsgeschichte; Beiheft 47), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2001, 580 S., ISBN 978-3-515-07917-4, EUR 96,00
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Schlesien spielte in der deutschen und europäischen Kulturgeschichte der Frühen Neuzeit eine wichtige Rolle. Namen wie Martin Opitz, Andreas Gryphius und Christian Hoffmann von Hoffmannswaldau besitzen auch heute noch einen klingenden Namen in der Literaturgeschichte. Doch nicht nur als Poeten machten sich Schlesier einen Namen. So entdeckte Adam Christian Thebesius (1686-1732) kurz nach Raymond Vieussens (1635-1713) die kleinsten, nach ihm benannten Gefäße des Herzens. Entdecker und Geschichte der Entdeckung sind Gegenstand der voluminösen Dissertation, die Andreas Mettenleitner 2000 an der Universität Würzburg vorlegte. Der Untertitel nimmt bereits die Gliederung der Arbeit vorweg: Auf eine Biografie des schlesischen Mediziners folgt die kommentierte Edition der medizinischen Dissertatio Thebesius' und der Abhandlung Vieussens. Es schließen sich die medizinhistorische Würdigung der Entdeckung und ein Abriss der Rezeptionsgeschichte an.
Mettenleitner interpretiert die Vita des Adam Christian Thebesius als typisch für einen schlesischen Mediziner des späten 17. Jahrhunderts. An Quellen griff er hierfür vornehmlich auf drei Lebensbeschreibungen zurück, die bald nach dem frühen Tod des Arztes entstanden. Thebesius, der in Sandewalde im Herzogtum Brieg geboren wurde, entstammte einer Familie, die vom 16. bis zum 19. Jahrhundert zahlreiche Pastoren und Mediziner hervorbrachte. Nach der Schule in Liegnitz besuchte er das renommierte Elisabeth-Gymnasium in Breslau, wo zu dieser Zeit Christian Gryphius, der Sohn des Andreas Gryphius, als Lehrer wirkte.
Da in Schlesien keine protestantische Universität existierte, musste Thebesius, wollte er ein Studium absolvieren, die peregrinatio academica antreten. Diese führte ihn nach Leipzig, Jena und nach Leiden in die calvinistischen Niederlande, wo er sich 1708 in die Matrikel der Universität eintrug. Zahlreiche Studenten aus dem protestantischen Schlesien hatten dort bereits studiert, sodass diese Universitätswahl nahe lag, zumal die dortige medizinische Fakultät einen guten Ruf genoss. In Leiden legte Thebesius 1708 auch seine Dissertatio vor, die sich mit der venösen Versorgung des Herzens und den von ihm beschriebenen Venae cordis minimae beschäftigte. Die Abhandlung entsprach insofern den zeitüblichen Gepflogenheiten, als sie eine anatomische Beobachtung deutete und die Ergebnisse anhand einiger unkomplizierter Experimente belegte.
Nachdem Thebesius' Vater verstorben war, kehrte der frisch Promovierte in die Heimat zurück, ohne die peregrinatio academica mit einem Aufenthalt an einer französischen Universität abgeschlossen zu haben. In Hirschberg, einem 40 Kilometer von Liegnitz entfernten Zentrum des Textilhandels, liess sich der 22-Jährige nieder. Bereits 1711 gelang ihm mit der Heirat der Tochter des Seniors der Hirschberger Kaufmannssozietät der Aufstieg in die Reihen der städtischen Führungsschicht; zwei Jahre später wurde er in die Leopoldina, die Kaiserliche Akademie der Naturforscher, aufgenommen, an die er elf klinische Fallberichte und Sektionsprotokolle gesandt hatte. Diese sollten seine einzigen Veröffentlichungen in den "Ephemeriden", der Zeitschrift der Akademie, bleiben.
Von 1715 an bis zu seinem Tode wirkte Thebesius als Hirschberger Stadtphysikus, zu dessen Obliegenheiten auch die medizinische Betreuung des nahen Kurortes Warmbrunn gehörte. Sein Engagement beschränkte sich nicht auf den medizinischen Bereich - 1714 wurde er Kirchenvorsteher und Schulpraeses der neuen evangelischen Schule. Thebesius fand auch Zeit, sich als Gelegenheitsdichter zu betätigen. So veröffentlichte Benjamin Neukirch im sechsten Buch seiner weit verbreiteten Anthologie sechs kleine Gedichte im galanten Stil, in denen Thebesius seine Beherrschung der zeittypischen Poetik unter Beweis stellte.
Auch Thebesius' Sohn Johann Gottfried entschied sich für das Medizinstudium und trat die Nachfolge seines Vaters im Amt des Kreisarztes an - insgesamt wirkten sechs Generationen der Familie Thebesius in Schlesien als Ärzte. Ein Blick auf andere frühneuzeitliche "Medizinerdynastien" wäre in diesem Zusammenhang insofern aufschlussreich gewesen, als dieser eine Einordnung des Phänomens der Vererbung des Berufes vom Vater auf den Sohn ermöglicht hätte.
Das zweite Kapitel bietet Thebesius' Dissertatio "De circulo sanguinis in corde" im Wortlaut samt Kommentar. Hier hat sich auf den Seiten 141 bis 203 ein ärgerlicher Fehler eingeschlichen: Die Seitenüberschrift lautet "De circulo sangiunis (!) in corde". Mettenleitner hat auch die 1706 in Paris publizierten "Nouvelles découvertes sur le coeur" von Raymond Vieussens (1635-1713) im Original wie auch in einer deutschen Übersetzung aufgenommen und so die Auseinandersetzung mit den ansonsten schwer zugänglichen Texten erleichtert. Hintergrund der Beschäftigung Vieussens' mit dem Gefäßsystem des menschlichen Körpers waren seine physiologischen Forschungen, die mittels iatrochemischer Theorien die Funktionsweise des menschlichen Organismus zu erklären suchten. Während die chemischen Erkenntnisse des in Montpellier tätigen renommierten Arztes, der in die Londoner Royal Academy gewählt und 1699 in die Königliche Akademie der Wissenschaften aufgenommen wurde, nur noch wissenschaftsgeschichtlich von Interesse sind, zeichnen sich seine erst posthum veröffentlichten anatomischen Beobachtungen durch Genauigkeit aus. Die physiologische Deutung der gewonnenen Erkenntnisse hingegen leidet unter vorschnellen Schlüssen, die dem anatomischen Befund nicht immer gerecht werden.
Zeitgenossen und Nachwelt reagierten auf die Entdeckung von Thebesius und Vieussens allerdings keineswegs mit einhelliger Zustimmung. Wohl billigte die Medizinische Fakultät in Leiden die Dissertation des jungen Schlesiers, und auch die Leopoldina brachte mit der Aufnahme ihre Anerkennung der wissenschaftlichen Leistung von Thebesius zum Ausdruck. Eine allgemeinen Akzeptanz der Thebesischen Gefäße erfolgte allerdings erst schrittweise in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, nachdem maßgebliche Anatomen die Existenz eines dritten kardialen Gefäßsystems zuerst abgelehnt hatten.
Die Frage nach der Funktion der Thebesischen Gefäße ist bis heute noch nicht geklärt. So harrt das Problem, welchen Anteil die Vasa cordis minima an der Perfusion des Herzmuskels besitzen, immer noch einer Lösung. Für den an der kontroversen Forschungsgeschichte Interessierten bietet das vierte Kapitel eine Zusammenschau der seit 1706/08 erschienenen Literatur zu dem Thema. Das vorläufige Resümee, das Mettenleitner in seinem "Wegweiser durch das Literaturverzeichnis" formuliert, ruft einen etwas unbefriedigenden Eindruck hervor: "So hinterlässt [...] eine kritische Durchsicht der im 20. Jahrhundert [...] veröffentlichten Literatur ein gewisses Gefühl von Ratlosigkeit und das in hohem Maße unbefriedigende Gefühl, sehr widersprüchliche Aussagen und weit divergierende Versuchsergebnisse nebeneinander publiziert zu sehen, aus denen sich kein klares Bild ergibt" (301).
Einen großen Teil der Publikation machen der fünfte und sechste Teil aus. Unter der Rubrik "Anhänge" findet der Leser die drei überlieferten zeitgenössischen Lebensbeschreibungen des Thebesius, einen Stammbaum der Familie Thebesius, zwei von Thebesius verfasste Epicedia, eine englische Übersetzung der Dissertation von 1708 und Texte zur Rezeptionsgeschichte der Thebesischen Gefäße. Das Literaturverzeichnis teilt sich in eine allgemeinhistorische und eine medizinhistorisch-medizinische Bibliografie. Auf das Abbildungsverzeichnis folgt ein detailliertes Personen- und Ortsregister. Englische, russische, japanische und polnische Zusammenfassungen beschließen den Band.
Mettenleitners Studie zu Thebesius und den von ihm entdeckten Gefäßen zeichnet sich durch bemerkenswerten Fleiß und das Bemühen aus, Quellen und Sekundärliteratur so vollständig wie möglich zu erfassen und dem interessierten Leser durch Beseitigung der Sprachbarrieren deren Benützung zu erleichtern. Wünschenswert wäre eine vertiefte Einordnung der Entdeckung des schlesischen Medizinstudenten in die Wissenschaftsgeschichte der Zeit um 1700 gewesen. So hätte man danach fragen können, welche anderen medizinischen Entdeckungen in welchem institutionellen Rahmen - Universität beziehungsweise Akademie - von wem zu dieser Zeit gemacht wurden und inwiefern diese Eingang in die wissenschaftliche Diskussion fanden. Hieraus hätte mehr Tiefenschärfe resultiert. Letztlich bleibt die Frage offen, ob es sich bei der Innovation von Thebesius um einen Einzelfall oder eine typische Erscheinung der Zeit handelte. Weitere wissenschaftsgeschichtliche Studien dieser Art könnten hier Abhilfe schaffen.
Stefan W. Römmelt