John R. McNeill: Blue Planet. Die Geschichte der Umwelt im 20. Jahrhundert. Aus dem Englischen von Frank Elstner. Mit einem Vorwort von Paul Kennedy, Frankfurt/M.: Campus 2003, 496 S., 20 s/w-Abb., ISBN 978-3-593-37320-1, EUR 29,90
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Was hat die nordamerikanische Rippenqualle mit dem ökonomischen Zusammenbruch der Sowjetunion zu tun? Welche Umweltveränderungen bereiteten der traditionellen Schweinemast in den Appalachen ein Ende? Hatte die Dekolonialisierung ökologiehistorische Konsequenzen? Diese und eine Vielzahl - oder besser: eine geradezu Schätzing'sche Flut - ähnlicher Fragen beantwortet McNeills preisgekröntes Buch 'Something New under the Sun', das in Deutschland unter dem Titel 'Blue Planet' erschienen ist. Die darin präsentierte Geschichte der Umwelt im 20. Jahrhundert besticht - selbst, wenn man den zentralen Prämissen und Schlussfolgerungen nicht in allen Aspekten folgen mag - durch ihre narrative Prägnanz und ihren thematischen Facettenreichtum.
Dem Neuen unter der Sonne, das heißt dem aus seiner Sicht brachialen, rücksichtslos wachstumsversessenen und deswegen zumeist destruktiven Eingriff der - inzwischen im globalen Maßstab - industrialisierten Gesellschaften in die natürlichen Ressourcen und in die eingespielte Symmetrie naturaler Abhängigkeitssysteme, geht der amerikanische Autor in acht Kapiteln nach. Mit beeindruckenden Detailkenntnissen über die durchgängig in transkontinentaler Perspektive erfassten Umweltbelastungen behandeln sie die Verformungen der Erdoberfläche unter den Vorzeichen quantitativ wie 'qualitativ' erweiterter menschlicher Verbrauchsbedürfnisse, die großstädtische und territorial übergreifende Luftverschmutzung, die Kontamination der Ozeane und die fatale 'Bändigung' der Fließgewässer sowie die Veränderung der Biosphäre unter dem Einfluss von marktrationalem Landwirtschaften, profitorientiertem Waldbau, gleichsam erntetechnisch 'optimiertem' Fischfang und so weiter. Anschließend bemüht sich McNeill, die demografischen, ökonomischen, politischen und ideellen Faktoren des weltweit ökologisch abträglichen und mit steigender Tendenz lebensbedrohlichen Umweltwandels wenigstens kursorisch zusammenzufassen. In diesem Zusammenhang werden die Chancen naturprotektionistischer Gegenströmungen diskutiert, die in der Symbolfigur Rachel Carsons geradezu verdichtet erscheinen.
Die Vorzüge und Stärken des vorliegenden Buches sind relativ eindeutig in seinem ersten, umweltzeitgeschichtlichen Teil auszumachen. In ihnen entfaltet sich eine bemerkenswert einprägsame historiografische Reportagetechnik. Obwohl die Darstellung weit vom apokalyptischen Duktus älterer ökologischer Frevel- und Verlustgeschichten entfernt ist, dürften auch kaltblütige Rezipienten manche Passagen mit angehaltenem Atem lesen. Zu ihnen zählt etwa die einleitend angedeutete Schilderung der Invasion amerikanischer Rippenquallen im Schwarzen und im Asowschen Meer. Die atlantischen Lebewesen drangen am Ende der 1970er-Jahre als blinde Passagiere im gefluteten Tank eines westlichen Schiffes in die sowjetischen Gewässer ein. "In dem stark verschmutzten, sauerstoffarmen Wasser" fanden "sie ein ökologisches Himmelreich" vor, das gewisse Analogien zum Schlaraffenland aufwies. Den Neuankömmlingen bot sich eine einzigartig dichte Nahrungspalette aus Plankton, Larven und Fischeiern, was zu ihrer explosionsartigen Vermehrung führte. Schon nach wenigen Jahren machten die Rippenquallen grob geschätzt 95% der Feuchtbiomasse der osteuropäischen Binnenmeere aus. Den ungebetenen Gästen fielen Jahr für Jahr Fischbestände im Wert von 250 Millionen US-Dollar zum Opfer "und das zu einer Zeit, als die Russen und Ukrainer solch einen Schlag" kaum verschmerzen konnten" (276).
McNeill, der die oft haarsträubenden, selbstverantworteten Sündenregister des sowjetischen Umgangs mit der Natur und den ihr inhärenten Rohstoffen - nicht zuletzt am Beispiel des Reaktorunfalls in Tschernobyl - in aller Schärfe hervorhebt, lässt keinen Zweifel daran, dass auch westliche Biozönosen immer wieder einem - oft aus einseitigem Rentabilitätsdenken resultierenden - Einfall von Neophyten, das heißt 'gebietsfremden', lebensräumlich deplatzierten Pflanzen, preisgegeben waren. Die 1918 in die Tat umgesetzte Absicht der USA, die eigene forstliche und agrarische Erzeugung mithilfe punktuell anzusiedelnder asiatischer Pflanzen zu steigern, ließ bereits in der Zwischenkriegszeit äußerst unerwünschte Konsequenzen zu Tage treten. Im Holz der eingeführten Bäume lauerte nämlich ein Pilz, gegen den asiatische, aber nicht amerikanische Pflanzen immun waren. In den USA verursachte er den Edelkastanienrindenkrebs, eine Krankheit, an der die üppigen Kastanienbestände Nordamerikas fast im Handumdrehen zugrunde gingen. Damit waren die auf Waldfütterung angewiesenen Schweinemastbetriebe der Appalachen ihrer Existenzgrundlage beraubt. Ihr ökonomischer Niedergang verlief nicht weniger abgründig als jener der von Bodenerosionen heimgesuchten Farmen in den Great Plains. Die von ihnen seit Generationen betriebene Intensivlandwirtschaft hatte den natürlichen Bewuchs der Anbauzonen so rigoros ausgedünnt, dass heftige Stürme den fruchtbaren Mutterboden ungehindert abtragen konnten.
Es zählt zu den Verdiensten des 'Blue Planet', dass dieses Buch über solche und ähnliche Betrachtungen hinaus auch die Umweltgeschichte der so genannten Dritten Welt auf die Untersuchungsagenda setzt, ohne dass die originäre ökologische Fahrlässigkeit vieler postkolonialer Gesellschaften verschwiegen wird. Diverse Fallstudien aus Nahost, Westafrika, Indien und anderen illustrieren das ökologisch bedenkliche, häufig mit erheblichen sozialen 'Kosten' verbundene Bestreben unterschiedlicher Regierungssysteme, die "industriellen Agglomerate" (313) Europas und der USA so rasch wie möglich zu adaptieren und der eigenen 'Entwicklung' ungeprüft nutzbar zu machen. Über die Umweltfolgen entsprechender Anstrengungen gibt McNeills Schilderung des Assuan-Staudammbaus ebenso exemplarisch wie prägnant Auskunft (184-189).
Die hier nur angetippten Beschreibungen ökologischer Krisenszenarien zeichnen sich, wie oben bemerkt, ganz generell durch ihre Transparenz und ihre kompetente - kartografisch unterlegte - Bündelung aus. Das spezifisch historisch-analytische Potenzial des Gesamtwerkes fällt dagegen jedoch eher blass aus. Bei Lichte besehen, wirkt es stellenweise sogar defizitär. Von einem geschichtswissenschaftlichen Standpunkt drängen sich mindestens vier Einwände auf.
1. Niemand wird ernstlich bestreiten wollen, dass mit der industriewirtschaftlichen Entfesselung des Prometheus eine in vielerlei Hinsicht bedrohliche umweltpolitische Öffnung von Pandoras Büchse einherging. Dieser Sachverhalt hat wiederholt zu Dramatisierungen ökologischer Befunde geführt, die sich nach einiger Zeit als Tatarenmeldungen entpuppt haben. Obwohl McNeill explizit einräumt, dass die modernen Gesellschaften des Westens seit Jahren zur Sanierung der Umwelt beitragen (373), überwiegt in seinen Ausführungen das letztlich statische Bild einer Natur, die durch menschliches Handeln stets deformiert wird, selbst wo sie lediglich einer Transformation unterliegt. Dabei können derartige Wandlungen in einem solchen Maße 'lebensfördernd' angelegt sein, dass sie "alarmistische Ausschweifungen" (Gero von Randow) grundsätzlich verbieten. Die von Natur- und Umweltschützern seit jeher angefeindeten Großstädte erweisen sich - um nur einen Beleg anzuführen - in neuerer umweltbiologischer Schau durchaus als Zentren faunistischer Artendiversifikation.
2. Der Versuch, die ökologischen Belastungen des gesamten Erdballs auf einen universal zum Ausdruck gelangenden "Wachstumsfetisch" zurückzuführen, mag - sehr grob gerastert - richtig sein, greift aber historisch entschieden zu kurz (355). Welche unverwechselbaren kulturellen Weichenstellungen den materiell akkumulativen Interessen verschiedener Gesellschaften oder Kulturkreise - frei nach Weber - die Richtung vorgaben und vorgeben, erfahren wir nicht. Diese Frage wird beinahe systematisch ausgeblendet.
3. Unter diesen Umständen wird auch nicht geklärt, aus welchen Gründen in den westlichen Gesellschaften der letzten vier Jahrzehnte eine ökologische Umdeutung eingefahrener Topoi der Mensch-Natur-Beziehung einsetzte, die erheblichen politischen, soziokulturellen und juristischen Niederschlag erfuhr und nicht zuletzt auf europäischer Ebene nach wie vor erfährt.
4. Mit Vorsicht formuliert, birgt ferner der lineare Geschichtsoptimismus von McNeills Schlussbetrachtung einige befremdliche Aspekte. Um Umweltdesaster zu vermeiden, plädiert der Autor für eine ambitionierte und, wie er meint, unerlässliche Integration von Ökologie und Geschichtswissenschaft. Durch ihre nicht näher erläuterte Verquickung "werden wir eine bessere Vorstellung von unserer Vergangenheit gewinnen, eine vollständigere, überzeugendere, verständlichere, wenn sie vielleicht auch komplizierter sein wird. Zugleich wird eine genauere Einschätzung unserer gegenwärtigen Situation möglich sein, wir werden erkennen können, ob es sich um eine gefährliche Situation handelt oder nicht. Durch diese Einsichten werden wir auch zu klaren Vorstellungen von möglichen Varianten der Zukunft gelangen, und das wird uns schließlich in die Lage versetzen, die unerfreulichsten Zukunftsvarianten zu vermeiden" (382). Wären die ökologisch hochgradig professionalisierten Umwelthistoriker mithin eine berufene Instanz, den 'Day after Tomorrow' hinfällig zu machen? Vom alteuropäischen Blickwinkel aus bleibt demgegenüber wohl eine gewisse Skepsis angebracht.
Willi Oberkrome