Matthias Berg: Karl Alexander von Müller. Historiker für den Nationalsozialismus (= Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften; Bd. 88), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2014, 572 S., ISBN 978-3-525-36013-2, EUR 79,99
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Nach der Lektüre der Lebenserinnerungen des 1882 geborenen Karl Alexander von Müllers fiel Friedrich Meineckes Reaktion verhalten aus. Der Nestor der bundesdeutschen Historikerschaft berichtete seinem Kollegen Ludwig Dehio zwar über "ein fabelhaftes Buch" und konzedierte die "Begabung, ja Überbegabung des Verfassers", jedoch fehlte ihm insgesamt "ein gewisses Etwas [...] das sich nicht ausdrücken lässt". (vgl. 397-398, FN 53)
Womöglich steht dieses Defizitempfinden pars pro toto. Denn mit Blick auf das Leben und das Werk von Müllers drängt sich ganz generell der Eindruck einer über die ersten sechs Jahrzehnte hinweg gleißenden Erfolgsgeschichte auf, die freilich an ihren markanten Stationen oft hohl, substanzlos und nicht selten auch frivol anmutet. Versucht man zu klären, welches Narrativ, welcher heuristisch-methodische Schwerpunkt oder welche fachgenetische Weichenstellung des stets "öffentlichen" Ordinarius sich - sei es im Guten oder im Schlechten - dem kollektiven Gedächtnis "der Zunft" eingeschrieben haben, fällt die Antwort ebenso karg wie kläglich aus. Mit dem Namen Karl Alexander von Müller verbindet man in aller Regel die Erinnerung an jenen Münchner akademischen Lehrer, der Hitler und Hallgarten gleichzeitig zu seinen Hörern zählte. Außerdem genießt von Müller als Nachfolger des 1935 unfreiwillig von der Chefredaktion der "Historischen Zeitschrift" (HZ) zurückgetretenen Meinecke eine prekäre Bekanntheit, ansonsten wird meistens "Fehlanzeige" signalisiert.
An diesen Informationslücken haben die in den vergangenen Jahren in rascher Folge erschienenen Historikerbiographien über Ritter, Marcks, Pfitzner, Aubin, Rothfels, Schieder und Conze, um nur einige Beispiele zu nennen, wenig geändert. Trotz verschiedener - teils enger, teils distanzierter - kollegialer Beziehungen zu von Müller wurde er für keinen der Genannten zu einem Ideen- und Impulsgeber von essentieller Bedeutung. Anscheinend war der 1933 in die NSDAP eingetretene Professor für bayerische Landesgeschichte als politischer Publizist, als HZ-Herausgeber bis 1945, als Ehrenmitglied des berüchtigten "Reichsinstituts für Geschichte des neuen Deutschlands", als zwischen 1936 und 1944 amtierender Präsident der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, als Leiter des völkischen Südost-Instituts sowie als Förderer der gifttriefenden "Judenforschung" allgegenwärtig, ohne die Konturen der von ihm beschrittenen Felder maßgeblich bestimmt zu haben.
Diesen Verdacht unterstreicht Matthias Berg in seiner an der Berliner Humboldt-Universität entstandenen Dissertation über von Müller nachdrücklich. Die gründlich durchdachte Untersuchung konzentriert sich mit großer Berechtigung auf ihren weder denkstilistisch noch netzwerktheoretisch oder generationsspezifisch vollends erfassbaren Protagonisten. Den Zugriff auf von Müller gestatten primär einige Konstanten der beruflichen Praxis sowie der weltbildlichen Disposition, die seinen Werdegang kontinuierlich bestimmten.
Dazu zählt seine sogar von Virtuosen fachinterner Anbiederungskünste unerreichte Meisterschaft im Antichambrieren. In Presseveröffentlichungen und in eigenständigen Essaybänden, zumal in den populären, mit Erich Marcks edierten "Meistern der Politik", wies sich von Müller als unbedingter Parteigänger der historiographischen Konvention aus. Seine Themenwahlen waren stets auf Ausgleich bedacht. Einem Aufsatz über den katholischen "Führer und Prophet" Görres folgte mithin bald ein Beitrag zur protestantischen Titanengestalt Bismarcks. Essays und Artikel versah der im ultrarechten Milieu Münchens fest etablierte von Müller gern mit persönlichen Huldigungsadressen, die nahezu allen Kapazitäten der zeitgenössischen Geschichtswissenschaft zugingen. Schmeichelhafte Artikel über die Spitzenriege der Fachhistorie rundeten eine ganz ungenierte Umwerbungsstrategie ab, die, nachdem einige Stolpersteine in Bewerbungsverfahren aus dem Weg geräumt waren, zum Erfolg, d.h. auf den landeshistorischen Lehrstuhl der bayerischen Hauptstadt, führten. Von dieser Kanzel aus knüpfte der Regionalgeschichtler Beziehungen zu den emblematischen Organisationen der Wissenschaft. Waren diese nach 1918 ausnahmsweise republikanisch "affiziert", verhielt sich der erklärte Antipode jedweder demokratischen "Zerklüftung" keineswegs feindselig. Er legte eine höfliche, wenn auch reservierte Miene an den Tag.
Darin spiegelte sich nicht nur ein karriere- und prestigefixierter Opportunismus wider, sondern eine zweite lebenslang unverrückbare Festlegung, das Bekenntnis zu Einheit und Ordnung. Von Müllers Ordnungskategorie entsprach ideell fast punktgenau dem "konkreten Ordnungsdenken", welches Lutz Raphael für die Mehrheit der deutschen Gelehrten und Experten analytisch durchdrungen hat [1], um ihre oft reibungslose Anschlussfähigkeit an den Nationalsozialismus zu ergründen. Während dieser Mainstream allerdings zunächst auf Hindenburg und die elitären Exekutoren des Preußenputsches setzte, stand von Müller in seiner "Gegnerschaft zur Gegenwart" (155) dem Weimarer Ethnoradikalismus erkennbar näher. In diesem Votum äußerte sich ein obstinater Volkstumsunitarismus, der ihn den neuen ethnohistorischen Ansätzen in der Geschichtswissenschaft beipflichten ließ, ohne dass er daraus selber methodische Konsequenzen gezogen hätte. Das Beharren auf disziplinären Traditionen war ebenfalls Ausdruck eines spezifischen Willens zur Einheitsstiftung. Es erstreckte sich auf die innere Struktur der Geschichtswissenschaft. Nach dem von ihm lebhaft begrüßten gewaltsamen Ausschluss der "rassisch" und weltanschaulich devianten Fachvertreter(innen) wandte von Müller seit 1933 erhebliche Energien dazu auf, die seinerseits massiv unterstützten jungen, völkisch radikalisierten Historiker mit den klassisch nationalen und nationalistischen Ordinarien in einer einträchtig-harmonisierten Geschichtswissenschaft "für den Nationalsozialismus" zusammenzuführen. Bei diesem Engagement, das mit bedenkenloser Selbstverständlichkeit auch den Historikern im Dienste des SD und den "Judenforschern" um Wilhelm Grau galt, nahm der methodisch orthodoxe, handlungspraktisch systemkonforme von Müller eine Scharnierfunktion ein, die den Zusammenhalt Srbiks, Hartungs usw. mit Frank, Beyer usf. sicherstellte. Dieser ganz und gar auf die Person von Müllers zugeschnittene Vermittlungsdienst wurde bis 1945 durch zahlreiche Amtsübertragungen "gesamtdisziplinär" honoriert. Nach dem Krieg war es damit jedoch jäh vorbei.
Die Behandlung der fachinternen Vergangenheitspolitik bildet ein Glanzlicht der Studie Bergs. Es verweist auf Loyalitätskonflikte ersten Ranges, denn bis auf Meinecke und Gerhard Ritter, vor dessen stahlbetoniertem Konservatismus von Müller immer wieder kapitulieren musste, waren die in Deutschland verbliebenen Neuzeithistoriker zwar zu unterschiedlichen Graden, aber letztlich doch "einheitlich" mit dem inzwischen amtsenthobenen Kollegen verbunden. Das traf besonders für von Müllers unmittelbare Schüler zu, unter denen nicht allein Theodor Schieder einen Ostrakismos ausschloss. Für die Beteiligten hatte die NS-nahe Mittlerstellung von Müllers den weitherzig definierten Komment echter Kollegialität eben nicht verletzt. Deshalb vollzog "die Zunft" eine langsame und unspektakuläre Rehabilitierung des "geduldeten Rekonvaleszenten" (384). Sie führte über die Mitgliedschaft im Historikerverband, über Arbeiten für die bayerische landeshistorische Kommission und weitere Etappen. Es lag kaum am langsamen Verlauf solcher Reintegrationsmaßnahmen, dass von Müllers Stern am Firmament historischer Fachmannschaft bald verblasste. Dafür sorgte er wohl selber, indem er sich dem einsetzenden Wandel der Geistes- und Kulturwissenschaften verständnislos widersetzte. Sein Urvertrauen auf den singulären Wert der essayistischen Biographik, auf die Validität von prosaischen Ausschmückungen großer Männer, wirkte spätestens seit den 1960er Jahren obsolet.
Einen Grund, den Münchner Großordinarius zu beschweigen oder zu vergessen, liefert seine methodisch-darstellerische Verstaubtheit dennoch nicht. Die von Berg geleistete Reminiszenz an von Müllers fachliches Wirken macht das mit ihren Einblicken in die gewiss vergangenen Inklusionsmechanismen der Geschichtswissenschaft sowie mit dem parallel präsentierten Lehrstück über die Verführbarkeit und Verfügbarkeit wissenschaftlicher Eitelkeit bemerkenswert evident.
Anmerkung:
[1] Vgl. Lutz Raphael: Radikales Ordnungsdenken und die Organisation totalitärer Herrschaft. Weltanschauungseliten und Humanwissenschaftler im NS-Regime, in: Geschichte und Gesellschaft 27 (2001), 5-40.
Willi Oberkrome