Hans Körner / Manja Wilkens: Séraphine Louis 1864-1942. Biographie/ Werkverzeichnis, Berlin: Dietrich Reimer Verlag 2009, 261 S., ISBN 978-3-496-01405-8, EUR 39,90
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Wie der Besucherrekord der Frida-Kahlo-Ausstellung zeigt, die von April bis August 2010 im Martin-Gropius-Bau in Berlin zu sehen war, wird Künstlerinnen ein großes Interesse entgegengebracht, wenn ihre Werke in Verbindung mit persönlicher Leiderfahrung präsentiert werden. Gerne wird künstlerisches Schaffen von Frauen anhand von biografischen Begebenheiten erklärt, die häufig auf spezifisch weibliche Erfahrungen beschränkt sind. [1] Im Unterschied zu der lückenlosen biografischen Interpretation des Werkes von Kahlo, die durch Tagebuchaufzeichnungen, Briefe, Fotos und datierte Kunstwerke möglich ist, geht es in der Monografie zu Séraphine Louis von Hans Körner und Manja Wilkens erst einmal darum, "die Biografie und die Chronologie der Werke von Séraphine Louis nachvollziehbar zu machen". Dies ist den Autoren wichtig, da bisher beides nur in einer Mischung aus Fakten und Kolportiertem geschehen sei (21). Besonderes Interesse wird den paradiesischen und apokalyptischen Bildern in Louis' Œuvre entgegengebracht. Das Ziel der chronologischen Anordnung des Werks ist, so die Autoren, den Wandel von der paradiesischen in die apokalyptische Motivgruppe als Metamorphose zu beschreiben, die in den Erwartungen der Avantgarde begründet liegt. Den Autoren dienen zeitgenössische Kunstkritiken in Zeitschriften und Büchern, Briefe von Louis und ihrer Zeitgenossen, Krankenhausakten sowie Gespräche mit Zeitzeugen als Quellen.
Vorangestellt ist den entlang der Biografie Louis' chronologisch aufgebauten Kapiteln, als zentrales Ereignis, die "Krise", ein Abschnitt, in dem die Autoren die Einweisung von Séraphine Louis in die psychiatrische Anstalt in Clermont de l'Oise am 25. Februar 1932 schildern. Diesem Kapitel folgen Kindheit und Jugend sowie die Beschreibung der ersten Bilder. Der Mittelteil der Biografie behandelt das Verhältnis zu Wilhelm Uhde und die Verbindungen zu den "Modernen Primitiven" in Paris. In der zweiten Hälfte des Buches werden Fahnenbilder, Pflanzenbilder und die schon erwähnten motivischen Metamorphosen untersucht.
Auch wenn Körner und Wilkens die Psychose und die Einweisung in eine psychiatrische Anstalt als Einstieg in das Leben Louis' wählen und damit an den Mythos des verrückten aber genialen - männlichen - Künstlers anknüpfen, werden im Folgenden auch einige beliebte Topoi der Louis-Rezeption kritisch aufgegriffen und anhand von Quellen widerlegt. So analysieren die Autoren beispielsweise die Berichte von Zeitgenossen über die Künstlerin, die sie als verschrobene Einzelgängerin beschreiben, als Mythos vom Künstler als Außenseiter der Gesellschaft. Diesen Berichten sind Berichte gegenübergestellt, die Louis in ihrem Wohnort Senlis als sozial verwurzelt schildern. Die Vorstellung des naturwüchsigen und autodidaktischen Künstlers erkennen die Autoren in Schilderungen, die Louis Zeichnen beim Tierehüten mit Giottos Zeichnen beim Schafehüten gleichsetzen. Ein weiterer Topos der Künstlermythen-Erzählung ist die Entdeckung durch einen Kunstkenner und der damit einhergehende soziale Aufstieg. So beginnt Louis ihre ersten kleinen Wasserfarbenbilder zu malen, während sie als Putzfrau arbeitet. Der Kunsthändler und Kunstkritiker Wilhelm Uhde, der in der Pariser Avantgardeszene die so genannte "naive Malerei" ausstellt und sich zunehmend auf sie spezialisiert, schildert in seinem Buch "Fünf primitive Meister", wie er Louis entdeckte. Sie arbeitete bei ihm in Senlis als Putzfrau, als er ein Bild von ihr kaufte. Die Autoren legen mit Hilfe einer minutiösen Darstellung der unterschiedlichen Aussagen, wo und wann Uhde sein erstes Gemälde von Louis erstand, deren Widersprüchlichkeit dar. Anhand der verschiedenen Ausführungen zur "Entdeckung der malenden Putzfrau" (47) in Zeitschriften und in Uhdes Texten wird zudem deutlich, wie abhängig die Schilderungen vom jeweiligen Rezeptionsinteresse sind.
Einen weiteren Schwerpunkt bildet das Verhältnis Louis' zur Avantgarde. Die Autoren zeigen auf, wie die Ausstellung der Société des Amis des Arts de Senlis im Rathaus von Senlis im Jahr 1927 sowie die Ausstellung "Les Primitifs Modernes", 1932 in der Pariser Galerie Bernheim Jeune der Künstlerin ein Etikett verpassten und sie als Teil einer gewissen Strömung in der Avantgarde rezipierbar machten. Hinzu kam das Buch von Uhde "Fünf primitive Meister", in dem ein Kapitel "Séraphine von Senlis" gewidmet ist. Uhde schildert darin Leben und Werk der Künstlerin, das von "Einsamkeit und Verlassenheit" geprägt sei. Dies begründet Uhde vor allem damit, dass der ungebildeten Künstlerin das "im Geiste aufs engste verwandte Werk van Goghs" unbekannt geblieben sei (71). Auch wenn die Autoren die Förderung Uhdes als wesentlich für Louis anerkennen, sehen sie seine Darstellung kritisch, da es ihm darum gehe, seine Rolle als "Entdecker" hervorzuheben. Ein weiterer Meilenstein für die Etablierung der Künstlerin ist Uhdes Stellungnahme zur Pariser Kunstszene in seinem Buch "Picasso et la tradition française" im Jahr 1928. Hier werden die Künstler André Bauchant, Camille Bombois, Séraphine Louis, Henri Rousseau und Louis Vivin zu einer Gruppe mit dem Namen "Maler des heiligen Herzens" zusammengefasst.
Im Unterschied zu Uhdes Interpretation des Spätwerks der Künstlerin, das er in einem Begleitbrief zum "Stilleben mit Kirschen" als abstrakt beschreibt, möchten die Autoren den Begriff der Metamorphose etablieren (103). Sie legen das künstlerische Verfahren Louis' ab 1929 als immer noch an der mimetischen Abbildung von Gegenständen interessiert aus. Jedoch überschreiten die Farbigkeit und die Fülle von Pinselstrichen die Darstellung eines Gegenstandes, so dass, laut Körner und Wilkens, eine neue Realität entsteht, beispielsweise ein Granatapfelbaum sichtbar wird. Dieser ist aber nicht eindeutig zu erkennen, so dass die Metamorphose in zwei Richtungen funktioniert und das Dargestellte in der Schwebe gehalten wird. Linien und Farben können also einen Gegenstand bezeichnen, sind aber so eingesetzt, dass sie auch ausschließlich als Linien und Farben wahrgenommen werden können.
In der Rezeption in der Nachfolge von Uhde dominiert die Pathologisierung der Künstlerin. So siedelt Jean Delisle in der Zeitschrift "Vengtième Siècle" Louis' Gemälde in der Nähe der Kunst der Geisteskranken an und zeigt sich verstört von den "verhext erscheinenden Blumen", die "Fleischstücken gleichen". Jakovsky sieht 1956 in den Stilleben Louis' Verwandlungen des "gequälten und unbefriedigten Fleisches" der Künstlerin. In vielen Aussagen zum Spätwerk der Künstlerin wird ihre Sexualität als Erklärung für die Wahl ihrer Motive herangezogen. Die Autoren weisen darauf hin, dass hier (männliche) Vorstellungen von erfüllter und unerfüllter weiblicher Sexualität prägend sind, die jedoch nicht als Schlüssel zur Interpretation von Louis' Werken gesehen werden sollten (123). Für die Verfasser bietet das metamorphotische Prinzip in den Gemälden einen weiten Spielraum. Sie möchten damit einen anderen Interpretationsansatz etablieren, der Séraphine Louis' Entwurf ihres Lebens in Verbindung mit einer modernen Künstlerinnen-Identität bringt und Vorstellungen vom modernen Subjekt beinhaltet, das an seiner Existenz leidet und dennoch Verantwortlichkeit für eine ihm auferlegte Rolle zeigt (125).
Für weitere Forschungen, beispielsweise mit einem wissenshistorischen Ansatz, der Louis' Auseinandersetzung mit botanischen Nachschlagewerken und wissenschaftlichen Pflanzenillustrationen in den Blick nimmt, ist das vorliegende Werkverzeichnis eine wesentliche Grundlage. Auch für die Frage, welche Bedeutung mediale Darstellungsmittel für die Interpretation einzelner Motive haben, wie beispielsweise der Einsatz der Lackfarbe Ripolin im Werk von Louis oder die Auswahl der Malgründe - wie Hutschachteln, Schuhschachteln oder Camembertdosen - bietet der Band wichtige Informationen.
Anmerkung:
[1] Vgl. hierzu Silke Wenk: Mythen von Autorschaft und Weiblichkeit, in: Mythen von Autorschaft und Weiblichkeit im 20. Jahrhundert, hgg. von Kathrin Hoffmann-Curtius / Silke Wenk, Marburg 1997, 12-29; Maike Christadler: Natur des Genies und Weiblichkeit der Natur. Zur Rekonstruktion moderner Mythen in Künstler-Viten der frühen Neuzeit, in: ebd., 32-43.
Silke Förschler