Wilhelm Worringer: Schriften. Hrsg. v. Hannes Böhringer, Helga Grebing, Beate Söntgen. Unter Mitarbeit von Arne Zerbst, München: Wilhelm Fink 2004, 2 Bde., 1500 S., 331 s/w-Abbildungen, 1 CD-ROM, ISBN 978-3-7705-3641-2, EUR 152,00
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"Sprachliche Prägekraft, überdisziplinäre Zusammenschau, verführerische Antithetik, assoziative Gefühlstiefe, metaphernsattes Imaginieren, suggestive Atmosphärenverdichtung und mitreißende Stimmungsmalerei" preist Arne Zerbst als die "benennbaren Gemeinsamkeiten" des Buches "Formprobleme der Gotik" (1911) von Wilhelm Worringer (1881-1965). Er empfiehlt es als "aktuelles Anregungspotential" zu erneuter Lektüre. Denn zusammen mit den anderen Büchern - allen voran "Abstraktion und Einfühlung" von 1907 - und einigen bislang unveröffentlichten Manuskripten des wortgewaltigen, erst Münchner, dann Bonner, Königsberger und schließlich Halleschen Kunsthistorikers ist es im vergangenen Sommer in zwei schlicht "Schriften" genannten Bänden wieder erschienen. Dass dies geschehen konnte, ist das große Verdienst von Hannes Böhringer, Beate Söntgen, Helga Grebing und Arne Zerbst, die vor etwa zehn Jahren den Autor der erfolgreichsten kunsthistorischen Dissertation überhaupt - eben "Abstraktion und Einfühlung" (1907) - wieder entdeckt haben.
1999 hatten sie über ihn, seine geistige Herkunft und Wirkung ein weithin beachtetes Kolloquium an der Hochschule für bildende Künste in Braunschweig veranstaltet. Jetzt hat die Gruppe, zu der auch Michael Glasmeier, Barbara Mauck, Yvonne Spielmann und Johannes Zahlten zählen, diese Texte so publiziert, dass man Lust und Laune bekommt, darin zu lesen, ja sogar im Germanischen Nationalmuseum zu Nürnberg in Worringers Nachlass weiter zu stöbern. Denn mit den beiden Bänden erhält man vom Wilhelm Fink Verlag auch noch eine CD-ROM, durch die das Findbuch des Nachlasses, weitere Manuskripte und noch ein paar Braunschweiger Seminarreferate über Worringer zur Verfügung stehen.
Ob jedoch jenes "aktuelle Anregungspotential in Fragen der sprachlichen Gestaltung kunsthistorischer Texte" - welch glänzende Formulierung! - während der Lektüre der beiden Bände und der CD lange anhalten wird, ist zu bezweifeln. Worringer kann diese Anregungen nämlich nicht geben! Das kunstkritische Defizit der Gegenwart - fehlende Entdeckerfreude und mangelnde kunst- und künstlerkritische Fehden in den Feuilletons der verschiedenen Medien - ist mit seiner Hilfe nicht zu beheben. Denn erstens liebte er zwar den polemischen Angriff, doch scheute auch er wie die meisten so meditativen Kunsthistoriker die Auseinandersetzung. Und zweitens ließ er sich abgesehen von ein, zwei kurzen Passagen und abgesehen von der Gleichsetzung des Expressionismus mit Edvard Munchs "Der Schrei" auf die Kunstwerke seiner Zeit gar nicht ein! Paul Cézanne, Käthe Kollwitz und Otto Pankok sind die einzigen Künstler, über die er etwas ausführlicher schrieb. Ernst Barlach, Max Beckmann und Alfred Kubin werden gerademal namentlich erwähnt; Max Ernst, Wassily Kandinsky, Paul Klee kommen nicht vor, geschweige denn Georges Braque, Marcel Duchamp, Henri Matisse, Francis Picabia, Pablo Picasso, um nur wenige zu nennen.
Und das ist das Phänomen, das es mithilfe der nun edierten, gesammelten "Schriften" zu begreifen gilt: Wie konnte Worringer von großer Bedeutung für die Kunst seiner Zeit werden ohne sich je mit ihr konkret auseinander zu setzen? Durch eine Kunstgeschichte ohne Namen? Dies hätte der Wölfflin-Schüler wohl gern gehört. Doch genau genommen ist es auf weite Strecken ohnehin eine namenlose, weil frühgeschichtliche Kunsthistorie, und in anderen Teilen eine Kunstgeschichte einiger weniger, hehrer Künstlernamen. Vor allem aber ist es eine Kunstgeschichte ohne alle anderen Namen! Dagegen war Heinrich Wölfflin ein Namen- und Faktenhuber! Denn Worringer kennt selbst im Mittelalter, erst recht in der Neuzeit keine gescheiten, weisen oder ahnungslosen Auftraggeber, keine großzügigen oder auch kleinlichen Mäzene, keine bissigen oder weitsichtigen Kritiker und keine nörgelnden oder zu begeisternden Kunstfreunde. Allein an der Wende zum 20.Jahrhundert beobachtet er ein begriffsstutziges und überfordertes Publikum, das drei Jahrzehnte später dankbar ins Münchner Haus der Kunst pilgert und alles anbetet, was zweiter Hand ist. Worringer trägt seine Kunstgeschichte auch fern jeden Gedankens an rührige und träge Kunstvereine, an wortkarge Sammler, risikofreudige Galeristen, aber auch solche Menschen vor, die sich behutsam in die Produktion eines Künstlers, einer Künstlerin einfühlen. Es ist eine Kunstgeschichte der als einzig und einmalig laut gepriesenen Künstlernamen und einiger weniger, Epoche machender Werke. Als deren allerhöchster, nie wieder erreichter Gipfel ist allzeit Matthias Grünewalds Isenheimer Altar präsent. Gleich daneben erhebt sich - tatsächlich: wie interessant - Albrecht Dürers Holzschnitt "Der Traum des Doktors".
Macht dieser eindeutige, an wenigen Werken gewonnene Maßstab Worringers Texte für die Angehörigen von Kunsthochschulen heute so attraktiv? Seine überholte, ja auch gefährliche Typisierung der Menschheit in primitive, klassische, orientalische und gotische Menschen kann es doch wohl nicht sein! Deren Wirkung wird übrigens in den Kommentaren zu den "Schriften" ebenso heruntergespielt wie die Wirkung der Reproduktionen in seinen Büchern. Mit Louis Réau und Pierre Francastel aber verstanden viele, insbesondere französisch sprechende Leser Worringers Texte und Bilder als nationalistische, ja chauvinistische Propaganda mittels der Kunstgeschichte.
Gewiss, Worringer betrieb persönlich alles andere als das. Trotz des immer wieder beschworenen "Nordens" und eines "gotischen Menschen" war "Abstraktion und Einfühlung" auch in den späten Zwanzigerjahren noch ein einziger Einspruch gegen Hitlers und aller anderen, selbst ernannten Kunstkenner und -kritiker Ausfälle gegen die moderne bildende Kunst. Große Kunstwerke resultierten aus handwerklicher Meisterschaft kunstfertiger Naturnachahmung, darauf bestanden diese bekanntlich und verurteilten mit Adolf Hitler alle modernen Werke als die "krankhaften Auswüchse irrsinniger und verkommener Menschen" (Adolf Hitler). Worringer jedoch hatte schon 1907 gleich auf der ersten Seite seines wissenschaftlichen Bestsellers "Abstraktion und Einfühlung" geschrieben: "Unsere Untersuchungen gehen von der Voraussetzung aus, daß das Kunstwerk als selbständiger Organismus neben der Natur und in seinem tiefsten innersten Wesen ohne Zusammenhang mit ihr steht, sofern man unter Natur die sichtbare Oberfläche der Dinge versteht." Die Erörterung dieser "Voraussetzung" war das Thema dieses Buches, das zwischen 1908 und 1921 zu so etwas wie einem Kultbuch der Moderne geworden ist, dann bis in die Fünfzigerjahre ein Geheimtipp blieb und dessen erstes Kapitel auch heute noch als Grundlektüre empfohlen werden kann! Die dann folgenden "Formprobleme der Gotik" (1911), die "Anfänge der Tafelmalerei" (1924), die "Ägyptische Kunst" (1927) sowie die kürzeren Aufsätze variieren mithilfe zahlreicher plakativ gebrauchter Begriffe und genialisch hingeworfener, zeitlicher Parallelen diese Botschaft für die folgenden Epochen bis hin zum Expressionismus. Dieser bringt dann laut Worringer zwangsläufig die Vergeistigung der Kunst, deren Selbstaufhebung und damit deren Ende. Gewiss! Das ist mit "sprachlicher Prägekraft, verführerischer Antithetik, assoziativer Gefühlstiefe" und so weiter vorgetragen. Doch von "überdisziplinärer Zusammenschau" kann keine Rede sein!
Doch soll es hier auch noch um die Edition gehen. Dadurch dass sich die Herausgeber für eine Ausgabe der Publikationen letzter Hand entschieden haben, wird durch die zahlreichen Vorworte und die unveränderten Texte auf eindringliche Weise deutlich, dass Worringer seine Bücher selbst nicht als wissenschaftliche Diskussionsbeiträge, sondern als Kunstwerke oder als Dokumente eines ganz bestimmten, geistigen Zeitpunkts einschätzte. Die Bemerkungen der Editoren über die Ordnung des Nürnberger Archivguts und über die von Worringer in den Vorlesungen variierten Anschlüsse sind oft schwer verständlich, wie auch mancher Transkriptionsfehler aufstößt. Darüber, ob man auch alle Kommentare - besagte Seminarreferate - in diese Ausgabe der "Schriften" hätte aufnehmen sollen, zumal einige nur wenige Teilaspekte des jeweiligen Buches beziehungsweise Textes behandeln, mag man streiten. Immerhin sind sie Zeitzeugnisse eines glücklich abgeschlossenen Teamworks, zu dem man der Gruppe der Herausgeber und Mitarbeiter gratulieren darf. Doch die "Schriften" bleiben insgesamt äußerst beredte Zeugnisse einer Kunstgeschichte, die allein mit "verführerischer Antithetik, assoziativer Gefühlstiefe, metaphernsattem Imaginieren, suggestiver Atmosphärenverdichtung und mitreißender Stimmungsmalerei" allenfalls begeistern, nicht überzeugen und so dazu beitragen konnte, dass endlich auch Kunsthistoriker nach den Ursachen für solche Begeisterung fragten.
Heinrich Dilly