Hildegard Wiegel (Hg.): Italiensehnsucht. Kunsthistorische Aspekte eines Topos (= Münchner Universitätsschriften des Instituts für Kunstgeschichte; Bd. 3), München / Berlin: Deutscher Kunstverlag 2003, 224 S., 25 Farb-, 47 s/w-Abb., ISBN 978-3-422-06447-8, EUR 39,90
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Während der Feier seiner Goldenen Promotion wurde der Altertumswissenschaftler Philipp August Boeckh unter anderem gefragt, weshalb er denn nie nach Griechenland gereist sei. Er wisse sehr wohl, wie es da ausgesehen habe, war die barsche Antwort des wohl bedeutendsten Kenners der Antike unter den deutschen Gelehrten des 19. Jahrhunderts. So wissenschaftlich distanziert diese Antwort war und erfreulicher Weise auch heute noch im Habitus hochreflektierter Altertumswissenschaftler - etwa von Paul Veyne - fortlebt, so muss man doch einschränkend sagen, dass sich diese weniger mit den sachlichen denn mit den schriftlichen Quellen der Antike auseinander gesetzt haben bzw. noch auseinander setzen. Für die Kolleginnen und Kollegen der alten, der mittleren, neueren und jüngsten Kunstgeschichte und Bildwissenschaft dagegen gilt Johann Joachim Winckelmanns Diktum: Das Nützliche und Schöne sind nicht mit "einem Blicke zu greifen"! Erst durch unmittelbare Anschauung und mehrmaliges Betrachten gelangt man zur Quelle der Wahrheit, deren "Hüterin", wie Michel Foucault bestätigt, in der Moderne das Auge ist.
Dass jedoch dabei nicht allein die Zeit in Form vieler Momente, sondern auch der Raum und somit das konkrete Land mit allen nur denkbaren Umständen zwischen Betrachter und Betrachtetes medial sich drängen, ist eine ebenso moderne Erfahrung. Sie ist wiederholt erörtert und im Falle von Italien gewiss häufiger mit dem Wort Sehnsucht, denn mit dem des Milieus, der Medien, der Erfahrung, der verklärend prägenden oder auch bösen Erinnerung verbunden worden.
Sehr nahe lag es daher, Steffi Röttgen, eine Gelehrte, die sich jahrelang in Italien aufgehalten und dabei vornehmlich in Italien geschaffene Kunstwerke sowie dort tätige Künstler erforscht hat, mit einer Tagung und einem Buch zu ehren, das den Topos Italiensehnsucht im Titel trägt. Dass dabei längst nicht alle Aspekte zur Sprache kommen können, ist selbstverständlich. Weiß man doch zu gut, wie groß die Schmerzen sind, hat man aus welchen Gründen auch immer das gelobte Land verlassen müssen.
Oder, ist dies doch nicht mehr ganz so selbstverständlich? Denn dass bis auf zwei Autoren alle Verfasser - insgesamt sind es vierzehn - allein einen einzigen Aspekt der Italiensehnsucht hervorkehren, kann nicht ganz zufällig sein. Sie klammern sich ans Objekt, handeln schlicht über Kunstwerke, die aus Italien stammen, aber nicht über die verschiedenen, kunsthistorisch relevanten Topoi eines zwischen unbändigem Verlangen und stiller Wehmut gespannten Gefühls, das man Sehnsucht nennt.
An erster Stelle stehen die Romveduten. Jörg Garms breitet deren Genese von der Zeit um 1680 bis zum Übergang ins 19. Jahrhundert geradezu lexikalisch aus. Er charakterisiert die hervorragendsten Beispiele und macht auf oft übersehene Nuancen aufmerksam. Es sind - an zweiter Stelle - zwei Gemälde, die Wilhelmine, Markgräfin von Bayreuth 1755 während ihres Aufenthalts in Rom bei Anton Raphael Mengs und bei Pompeo Batoni in Auftrag gab. Für das Vorzimmer ihres Gemahls, Friedrichs des Vielgeliebten, im Neuen Schloss zu Bayreuth waren sie bestimmt. Sie hingen dort bis zu dessen Tod im Jahr 1763. Dass das eine Gemälde von Mengs dank Steffi Röttgen für Bayreuth wieder erworben werden konnte, beglückt Peter O. Krückmann so sehr, dass er die Frage verdrängt, warum wohl der Thronfolger Friedrich Christian, das Schwarze Schaf der Familie, Mengs' Bild geradezu mutwillig gegen ein Gespann eintauschte. Die Allegorisierungen der bereits 1758 verstorbenen, sich aufopfernden Landesmutter als Semiramis und als Kleopatra passten offenbar nicht in sein politisches Programm. Hatte aber zuvor Sehnsucht, gar Italiensehnsucht das Konzept bestimmt? Darauf antwortet Krückmann implizit: Nein! Es ging in erster Linie um die politische, selbst und selbstbewusst gewählte Funktion Ihrer Königlichen Hoheit, der Markgräfin und über alles geliebten Schwester Friedrichs des Großen.
Zu diesen Kunstwerken zählt - drittens - Hermann Mildenberger eine Reihe von Veduten des Weimarer Zeichenlehrers Georg Melchior Kraus, auf denen die Borromeischen Inseln im Lago Maggiore und deren Umgebung zu sehen sind. Von diesen pingeligen Zeichnungen sollen sich Goethe und Jean Paul zu ihren reichen Schilderungen der Berg- und Seenlandschaft haben anregen lassen, die sie selbst nie mit eigenen Augen gesehen und doch mit Mignon bzw. Albano und deren Freunden mehr als belebt haben. Und dazu zählen - viertens - die Gipsabgüsse antiker Statuen, die Goethe in Rom gekauft und in Weimar aufgestellt hatte. Er wünschte "des Morgens" von "dem Vortrefflichsten gerührt" alles "Denken und Sinnen" von "solchen Gestalten" angestoßen zu wissen. "Unmöglich" sollte es ihm sein, "in Barbarei zurückzufallen" (46). Jörg Träger, der das Leben in und mit dieser Sammlung beschreibt, unterscheidet dann verschiedene Haltungen, zu denen die Abgüsse Goethes Zeitgenossen animiert haben mögen. Der auf den Beschauer übertragene Pygmalion-Effekt und die Aufforderung "Fac simile!" werden davon gewiss in bester Erinnerung bleiben. Zu diesen Kunstwerken gesellt schließlich Herwarth Röttgen eine Portraitskizze der Marchesa Marianna Florenzi, die Francesco Podesti erstellte und die bis dato unpubliziert war. Die "ein wenig von oben herab, überlegen, nicht ohne Verführung, mit etwas müden Lidern" (60) dreinblickende Frau ist Röttgen Anlass, über die lebenslange Anziehungskraft zwischen der zweimal verheirateten Marchesa und dem liebeshungrigen König Ludwig I. von Bayern zu berichten und diese Ölskizze in die Zeit um 1830 zu datieren. Die beiden Rätsel, weshalb der Maler den Namen Florenzi in Guiccioli änderte und warum das Portrait in keinem der fast 5000 Briefe erwähnt ist, die die Liebenden einander schrieben , muss Röttgen jedoch vorerst ungelöst lassen.
Über unterschiedliche Modi nicht der Italiensehnsucht, sondern der Malerei handelt der zweite Teil dieses Tagungsbands. Hubertus Kohle zeigt in klassisch vergleichender Manier am Beispiel des monumentalen Gemäldes eines fürbittenden Heiligen Rochus von Jacques-Louis David auf, dass dieser bereits in einem Frühwerk und zudem bei einem religiösen Motiv den Handlungszusammenhang stört. Hier schon sind die Figuren isoliert und autonomisiert. Die organische Einheit des Bildkörpers ist aufgegeben. Es folgt ein wahrlich gesehener, ja ersehener und erlesener Aufsatz von Sybille Ebert-Schifferer über drei eng verwandte Selbstporträts von drei ansonsten einander sehr fremden Malern. Jean Baptiste Simeon Chardin, Anton Graff und Anton Raphael Mengs griffen eigenartiger Weise in ihren letzten Selbstbildnissen zu ganz verschiedenen Zeitpunkten auf ein und denselben Modus aus dem frühen 18. Jahrhundert zurück: das Pastell-Brustbild. Sie reduzierten dabei die Aussage auf ihren einzigen "Stolz und Trotz": "das Sehen bzw. Sehenkönnen" (90). Frank Büttner legt im folgenden Beitrag die These plausibel vor, dass der so typische "Umrisslinienstil" John Flaxmans nicht, wie bislang angenommen, angesichts antiker Vorbilder, sondern aus der Begeisterung und dem Studium der Fresken von Fra Angelico und Masaccio sowie der Reliefs von Lorenzo Ghiberti entwickelt wurde. Dass Flaxman mit dieser Stilwende zur Wiederentdeckung Dantes wesentlich beitrug, ist dann nicht mehr ganz so erstaunlich.
Italien als Museum ist der dritte Teil des Bandes überschrieben. In ihm stellt Hildegard Wiegel das etruskische Kabinett im Schloss Racconigi bei Turin vor. Sie zeigt, dass Pelagio Paligi bei der Ausstattung der Räume nicht auf seine eigene, stattliche Vasensammlung, sondern auf die zeitgenössischen, weit verbreiteten Reproduktionsstichwerke von Johann Heinrich Tischbein, Sir William Hamilton und Aubin-Louis Millin zurückgriff. Sie vergleicht Paligis Variante der Etruskermode mit anderen Beispielen etwa in Osterley Park, in Dessau-Waldersee, Erbach und Potsdam und legt Tischbeins Engagement in weiteren Fällen zwar materialbesessen, aber doch recht unanschaulich dar. Es folgt ein leider verunglückter Beitrag von Christina Giannini über die Reisen des Kunstschriftstellers und Restaurators Giovanni Graf Secco Suardo aus Bergamo. Ein Freund Giovanni Morellis war er und hat in den 1840er-Jahren mehrmals Dresden besucht. Dass John Ruskin Venedig und Jacob Burckhardt ganz Italien als ein Museum betrachtet, studiert und doch sehr unterschiedliche Führer durch diese beiden Supersammlungen verfasst haben, bringt Gabriele Köster am Beispiel der Beurteilung der Gemälde Tintorettos und Veroneses schließlich auf den einfachen Nenner: Burckhardt habe jüngere Kunstwerke an den älteren gemessen, während Ruskin die älteren an den jüngeren Werken maß. Dieser ansonsten jedoch sehr viel reicheren Analyse schließt sich Susanne Müller-Bechtels Einführung in die Lektüre der Zeichnungen an, die Giovanni Battista Cavalcaselle in der Münchner Alten Pinakothek nach italienischen Gemälden fertigte. Es sind keine Abbilder, auch keine modernen skripturalen Notate, sondern Merkzettel aus Wörtern, Kompositionsgerüsten und fragmentierten Umrissen, die der besseren Kommunikation mit Joseph Archer Crowe, jedoch nicht dem Stillen einer Sehnsucht dienten. Mit Crowe hat Cavalcaselle zwischen 1864 und 1872 bekanntlich eine "History of Painting in Italy" in sechs Bänden publiziert.
An diesen dritten Teil schließen die farbigen Abbildungen zu den vorangegangenen Beiträgen an und erst dann das letzte Kapitel, das "In Italiam" heißt. Dieses enthält nun endlich die beiden einzigen Artikel, die nicht über bestimmte Werke, sondern über ein Verhältnis handeln, das bestimmte Literaten und bildende Künstler zu Italien entwickelt und gepflegt haben. Der erste Beitrag stammt von Elisabeth Schroeter und stellt die nicht erst seit Johann Gottfried Seume geübte Italienkritik zuerst an einer Reihe sarkastischer schriftlicher Zeugnisse und dann am Beispiel der bieder satirischen Zeichnungen und Kupferstiche von Franz und Johannes Riepenhausen dar. Der zweite Beitrag stammt von Werner Busch und sagt schon im Titel: Es gibt auch Italienverweigerer! Aus der langen Reihe allein der Maler und Zeichner, die diese Attitüde nicht nur behauptet, sondern gelebt haben und so gelebt haben, dass ihr Über-Ich, ihr Hass- und Lachobjekt, ein Italiener oder Klassizist stets präsent war, wählt Busch Rembrandt, William Hogarth und Caspar David Friedrich. Im Zuge einiger weniger, symptomatischer Perzeptionen stellt er mehr als "einen ganzen Rattenschwanz an topischen Versatzstücken" (205) vor. Dies gelingt ihm hervorragend, weil er die Antipoden stets mitdenkt, das jeweils Andere anspricht und dabei die feinsten Unterschiede nicht übergeht, die allein die Korrektive der deutschen Sprache ihm bieten.
So schließt man den Band doch noch mit der Befriedigung, dass immerhin zwei Autoren das Thema, wie's sich gehört, beim Wort genommen haben. Die anderen haben wieder einmal auf ein Dauerproblem aufmerksam gemacht, das anderswo Betriebsblindheit heißt: Man ist noch nicht objektiv, wenn man über ein Objekt redet und schreibt. Genauso wenig handelt man über Italien, geschweige denn über die Sehnsucht danach, indem man, wenn auch noch so interessant, über italienische Künstler und Kunstwerke und deren Funktion schreibt!
Doch ist es ja auch so, dass Tagungs-, Sammelbände und Festschriften - diese schnell welkenden, wissenschaftlichen Blumengebinde - einen wohl klingenden Namen haben müssen. Einen verkaufsfördernden außerdem! Doch da schlägt einem dann doch die verdammte Reklame gern ein Schnippchen: Unversehens machen die so schönen Titel auf Phänomene aufmerksam, die längst verhandelt zu sein scheinen, es aber doch nicht sind. So auch die Sucht, nach Italien sich zu sehnen. Wilhelm Waetzoldts Buch über "Das Klassische Land" und die "Wandlungen der Italiensehnsucht" von 1927, das auch hier gern zitiert wird, ist inzwischen viel zu positivistisch und pathetisch. Doch ist es voller plastischer, auch drastischer Beispiele. Deshalb könnte und sollte über die jüngsten Ausstellungen und Tagungen zur biederen Italienerfahrung, zum lieblichen Italienbild und zum straffen Italienbezug hinaus diese Sehn-Sucht tatsächlich einmal wissenschaftlich so distanziert präpariert und analysiert werden, wie es Geschichtsforscher von der Schärfe eines Boeckh und Veyne sich gewünscht haben. Man braucht nicht in Italien gewesen zu sein, um sich danach zu sehnen!
Heinrich Dilly