Pierre Monnet / Otto Gerhard Oexle: Stadt und Recht im Mittelalter. La ville et le droit au Moyen Âge (= Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte; Bd. 174), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2003, 479 S., ISBN 978-3-525-35170-3, EUR 66,00
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Neben Merkmalen wie Handelskonzentration, handwerkliche Produktion oder Siedlungsgröße unterstreichen nicht wenige Definitionsversuche der mittelalterlichen Stadt den besonderen rechtlichen Status, der die Stadt und ihre Bewohner aus dem umgebenden Land heraushob. Eine 1999 gemeinsam vom Max-Planck-Institut für Geschichte und der Mission Historique en Allemagne veranstaltete Tagung widmete sich mit dem Thema "Stadt und Recht im Mittelalter" daher nicht nur einem spezifischen Charakteristikum der Stadt, sondern vielmehr einer verbreiteten Forschungsmeinung zufolge geradezu ihrer raison d'être. Auch aufgrund der dezidiert komparatistischen Konzeption der Tagung lassen die im vorliegenden Band zusammengefassten Beiträge aufschlussreiche Ergebnisse erwarten: Nicht nur der betrachtete Gegenstand selbst, nämlich die Entwicklung des städtischen Rechtsraumes zwischen 1250 und 1500 unter den gänzlich unterschiedlichen politischen Rahmenbedingungen eines erstarkenden französischen Zentralstaates einerseits und einer geschwundenen Macht des deutschen Königs andererseits, scheint in besonderer Weise zu einer vergleichenden Betrachtung herauszufordern, auch die unterschiedlichen historiografischen Traditionen in Frankreich und Deutschland sollten den einleitenden Überlegungen Pierre Monnets zufolge in einer vergleichenden Betrachtung besonders deutlich zutage treten (10-11). Vier Bereichen hatten sich die Bearbeiter zu widmen: der Bedeutung des Rechts in der Kultur der Stadt, dem städtischen Recht zwischen Norm und Praxis, der Schaffung sozialer Kohäsion durch das Recht der Stadt und schließlich dem Oszillieren des städtischen Rechts zwischen Personalität und Territorialität (17).
Der erste der vier Bereiche war dabei am weitesten gefasst, gab er doch neben einem mittlerweile klassischen Thema der Stadtgeschichtsforschung wie der Rolle gelehrter Juristen in der Gestaltung des städtischen Rechtsalltags auch bislang wenig beachtete Aspekte der Stadtgeschichte zur Untersuchung vor, wie sie etwa Bildquellen, städtische Selbstvergewisserung oder Konzepte des Politischen darstellen. Am konsequentesten hat sich Valentin Gröbner (133-151) dieser Aufgabe gestellt und seiner motivgeschichtlichen Analyse der "Erzählung von der Mordnacht" - dem in südwestdeutschen Stadtgeschichten des 15. und 16. Jahrhunderts überlieferten Bericht eines Komplotts, dessen Opfer den Verschwörern durch Zeichen an den Häuserwänden kenntlich gemacht werden - grundlegende Gedanken zur Funktion nichtschriftlicher Bedeutungsträger im städtischen Raum vorausgeschickt, dessen Bewohner ganz im Gegensatz zum bislang dominierenden Forschungsinteresse städtische Schriftlichkeit in Form normativer Rechtsaufzeichnungen mehrheitlich nur als unzugängliches arcanum aus der Ferne wahrgenommen hätten (137). In dieser Perspektive einer "städtischen Zeichenpraxis als Ordnungspolitik" (144) kommt Wappen, Schandbildern, der Amtskleidung städtischer Bediensteter und den Kleiderordnungen des 15. und 16. Jahrhunderts mit ihren Zeichenverboten eine Bedeutung zu, die eine nach wie vor schriftfixierte Forschung kaum abbildet. Es ist bedauerlich, dass sich mit Ausnahme sporadischer Erwähnungen (etwa 208, 317-328) nicht weitere Autoren des Sammelbandes zu einer systematischen Beschäftigung mit nichtschriftlichen Quellen inspirieren ließen. Überhaupt scheint der erste Fragenkomplex auf wenig Interesse gestoßen zu sein: Weder die zunehmende Bedeutung des gelehrten Rechts, wie sie an der frühen Tätigkeit universitär ausgebildeter Juristen im Midi oder den deutschen Stadtrechtsreformationen des ausgehenden Mittelalters ablesbar ist, noch das der reichen chronikalischen Überlieferung zu entnehmende städtische Selbstverständnis fand eine ausführliche Würdigung durch die Beiträger. Einzig der zu monografischer Breite angeschwollenen Vorstellung einzelner deutscher Ratsspiegel, Ratsgedichte und Ratsordnungen durch Eberhard Isenmann (215-479) ist mit einer gewissen Ausführlichkeit zu entnehmen, welche politischen Konzepte das Selbstbild einer städtischen Elite zu prägen vermochten.
Wenn beim zweiten der vier Untersuchungsbereiche, dem städtischen Recht zwischen Norm und Praxis, einmal mehr die normative Ebene von den Autoren weit ausführlicher berücksichtigt wurde als die Rechtspraxis, so entspricht dies nicht nur, wie Gerhard Dilcher in seiner historiografischen Einordnung der deutschen Stadtforschung (73-95) verdeutlicht, einem besonders von der deutschsprachigen Forschung präferierten Gegenstand, sondern auch dem Zustand von Quellenüberlieferung und Quellenerschließung, die vielfach vergessen lassen, welche Kluft beide Kategorien nicht selten trennt. Darauf weist besonders Claude Gauvard in ihrem umfangreichen Überblick über die französische Forschung (25-71) mit Nachdruck hin, nicht ohne die zahlreichen Forschungsdesiderate im Bereich städtischer Rechtsprechung in erster Linie auf die von den Quellen hinterlassenen Lücken zurückführen (45). Peter Schuster unternimmt allerdings auf der Grundlage von Gerichtsquellen in seinem Beitrag (167-180) den Versuch, die ausgesprochen hart erscheinenden Strafen für Eigentumsdelikte mit einer realen "Sorge um Besitz und Eigentum" zu erklären (177), und auch Alain Saint-Denis greift in nennenswertem Umfang auf unpubliziertes Material zurück, indem er die intensive Beurkundungstätigkeit der nordfranzösischen Kommunen im 12. und 13. Jahrhundert anhand der erhaltenen Originale darstellt (181-195) - ein einstmals blühender und in Konkurrenz zu anderen Institutionen stehender Zweig freiwilliger Gerichtsbarkeit, dessen Ende mit der Einführung königlicher prud'hommes im Jahre 1281 die Bedeutung königlicher Herrschaft im Gebiet der Krondomäne eindrucksvoll exemplifiziert. Besonders im Falle der Strafgerichtsbarkeit ausgewählter französischer Städte zwischen dem 12. und dem 15. Jahrhundert, deren Darstellung Nicole Gonthier auf wenigen Seiten (153-165) unter Verweis auf normative Quellen unternimmt, wäre auch die Berücksichtigung der nicht zuletzt durch die Autorin selbst intensiv erforschten strafrechtlichen Praxis allerdings zu wünschen gewesen. Die Gerichtsorganisation, am Schnittpunkt zwischen Norm und Praxis angesiedelt, wird bedauerlicherweise in keiner der Einzelstudien ausführlicher dargestellt. Dabei hätte gerade die Vielfalt der in einer mittelalterlichen Stadt praktizierten Rechtsprechung mit ihren zahlreichen häufig konkurrierenden Gerichten von Markt- und Handelsgerichten über Ratsgerichte, stadtherrliche Gerichte bis hin zu geistlichen Gerichten eine wichtige Ergänzung zur an vierter Stelle behandelten Situierung des mittelalterlichen städtischen Rechts zwischen Territorialität und Personalität dargestellt.
Recht ausführlich widmen sich hingegen die Autoren der Frage nach der Rolle des Rechts bei der Herausbildung und Bewahrung der Stadt als eigenem Rechtsraum. Schwurverband, Friedensgedanke und Rechtsprechung bilden hier einen Dreiklang, der in der Mehrzahl der Beiträge deutlich vernehmbar ist. So hebt auch Catherine Vincent die strukturelle Analogie zwischen Bruderschaft und städtischer Einung hervor (97-115): In beiden Fällen sei durch einen Eid eine neue Rechtsperson konstituiert worden, wobei die bruderschaftliche Einung städtischen Schwurgemeinschaften als Modell gedient habe und später zur Vorschule gemeinschaftlicher Verwaltung mit auffälligen personellen Überschneidungen im Führungspersonal geworden sei. Andrea Zorzi betont in seinem Überblick über die italienische Forschung (197-214) die Schaffung faktischer Autonomie durch die Usurpation von Satzungsrecht und Gerichtsbefugnissen durch die oberitalienischen Städte, die allerdings bald zu insbesondere im Strafverfahren erkennbaren sozialen Gegensätzen und einer antimagnatischen "Hyperpenalisierung" geführt hätte (201-204) - was allerdings am auch in anderen Kontexten üblichen Verhör von Zeugen zur fama publica (202) nicht ablesbar ist.
Der Stellenwert des vierten und letzten Untersuchungsfeldes schließlich lässt sich nicht nur nach der Lektüre des Beitrags zur schimärenhaften lex mercatoria erahnen, deren Existenz Albrecht Cordes allenfalls in einem besonderen Verfahrensrecht der Kaufleute, keinesfalls aber in materiellen Bestimmungen vermutet (117-132). Auch gelegentliche Hinweise anderer Autoren auf die buchstäbliche Perforierung eines einheitlichen städtischen Rechtsraumes durch zahlreiche Gerichtsstandsprivilegien und Ausnahmetatbestände zeigen, wie lohnend eine Gegenüberstellung von normativen Deklarationen der Städte und Quellen zur Rechtsprechungspraxis hätte sein können.
Waren die Beiträger augenscheinlich bereits schwer zu bewegen, sich dem von den Organisatoren entwickelten Konzept zu unterwerfen, so muss der begrüßenswerte Versuch, an einer europäischen Universalie wie dem Phänomen des Rechtsraumes der Stadt Perspektiven einer komparatistischen Mediävistik zu entwickeln, als gescheitert gelten. Das im Band selbst so prägnant dargestellte Paradigma der Stadt als embryonalem Bürgerstaat scheint fortzuwirken - und sei es nur, um der Stadtgeschichtsschreibung noch zu Beginn des 21. Jahrhunderts ihren Platz in der Nationalgeschichte zuzuweisen.
Thomas Wetzstein