Sita Steckel: Kulturen des Lehrens im Früh- und Hochmittelalter. Autorität, Wissenskonzepte und Netzwerke von Gelehrten (= Norm und Struktur. Studien zum sozialen Wandel in Mittelalter und Früher Neuzeit; Bd. 39), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2011, 1295 S., ISBN 978-3-412-20567-6, EUR 149,90
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Die vorliegende voluminöse und breit angelegte Studie ist eine im Jahr 2006 in München vorgelegte historische Dissertation. Ihr Ziel ist, in Abgrenzung gegen ältere, nach Steckels Meinung zu sehr in Institutionen- und Wissenschaftsgeschichte verhaftete Forschungen, eine dezidiert kulturwissenschaftlich ausgerichtete Rekonstruktion der Rolle von Gelehrten im Karolingerreich sowie in Nordfrankreich und Deutschland zwischen dem 9. und dem 12. Jahrhundert. Diese ausgesprochen konventionelle Wahl der Untersuchungsräume steht zum innovativen Anspruch des Werks in einem ähnlichen Widerspruch wie die Konzentration auf die großen Namen der Handbücher und tradierte wissenschaftsgeschichtliche Wendepunkte. Die wesentlich von Arbeiten des US-amerikanischen Germanisten Stephen C. Jaeger angeregte Untersuchung versteht sich nicht als "Gesamtdarstellung", sondern reiht fünf Einzelstudien aneinander (43), die sich der Wissensvermittlung im Gefolge der karolingischen Reformen (Kap. II), gelehrter Vernetzung im Karolingerreich (Kap. III), Autorität und kirchlicher Kontrolle karolingischer Lehrer (Kap. IV) sowie hochmittelalterlichen Idealen von Lehre und Bildung (Kap. V) und der Autorität hochmittelalterlicher Gelehrter (Kap. VI) widmen.
Der Ertrag der monumentalen Arbeit, deren Grundlage in ihren quellenfundierten Teilen vorwiegend Widmungsprologe, Briefe, Viten und Streitschriften bilden, widersetzt sich schon wegen zahlreicher Digressionen und immer wieder neu formulierter und emphatisch vorgetragener Teil-, Unter-, und Nebenfragen einer knappen Zusammenfassung. Steckel verhandelt unter anderem das Verständnis, das Gelehrte vom durch sie selbst vermittelten Wissen besaßen, deren Selbstverständnis als Lehrer und deren Bindungen zu ihren Schülern, Netzwerke gelehrten Wissensaustauschs und "Kommunikationshandeln" Gelehrter (379), ihre "Handlungsspielräume" und die Grenzen erlaubten Wissens, die Rolle einer "Öffentlichkeit" beim gelehrten Disput, die wissenschaftliche Produktivität von Häresieverfahren, die Ablösung von doctrina durch scientia, die Geburt der Theologie als "Wissenschaft", den Gegensatz von "Monastik" und "Scholastik" oder die "Funktionsweise" der früh- und hochmittelalterlichen Briefkultur (39). Eine wesentliche Kernaussage der Dissertation dürfte freilich darin bestehen, dass nach Ansicht Steckels frühmittelalterliche Gelehrte ihre meist durch Leitungsfunktionen zusätzlich abgesicherte Autorität aus der Vermittlung anerkannter und traditionsgebundener kirchlicher Lehre (doctrina) bezogen. Dieser Typus des Lehrers werde im Hochmittelalter durch die neue Figur des Scholasters verdrängt, dem kirchliche Leitungsfunktionen fehlten, der aber in Anlehnung an Jaeger über Charisma im weberschen Sinne verfügt habe. Während sich jedoch französische Gelehrte mit aristotelischer Logik befasst und die wissenschaftliche Theologie hervorgebracht hätten, hätten es sich die Scholaster im Reich, wie Jaeger habe zeigen können, zur Aufgabe gemacht, Adelssöhnen die Althoffschen "Spielregeln der Politik" nahezubringen und weiterhin die althergebrachte doctrina vertreten.
Die im Folgenden vorgebrachten Bedenken gegen diese mit großem Fleiß und besonders für die frühmittelalterlichen Teile bemerkenswert umfassender Quellenlektüre erstellte Untersuchung richten sich weniger gegen einzelne Ergebnisse, sondern betreffen in erster Linie das methodische Vorgehen. Hier ist an erster Stelle der Umgang mit den Quellen zu thematisieren. Bereits Jaeger wurde vorgeworfen, er habe bei seinen weitreichenden Thesen die gattungsspezifischen Merkmale der ausgewerteten Bischofsviten nicht ausreichend berücksichtigt. Auch Steckel wäre gut beraten gewesen, gerade bei den von ihr vorwiegend herangezogenen Gattungen Brief und Widmungsprolog die vereinzelt durchaus angesprochenen Fragen der Entstehung und Überlieferung (etwa 155f., 184, 300, 323, 375, 418, 427, 760, 786, 812) systematisch zu berücksichtigen. Bei Briefen rufen Intertextualität, nahezu vollständiger Verlust der Originalüberlieferung, fehlender Zugriff auf die stets wesentlich beteiligte mündliche Botenkommunikation, Monopolisierung der Überlieferung durch teilweise wesentlich später zusammengestellte und vielfach von Dritten überarbeitete Briefsammlungen, aber auch deren didaktische Verwendung mit der Möglichkeit rein fiktiver Briefe zu größter Vorsicht auf. Steckel hingegen kündigt an, Briefe als "Selbstzeugnisse" zu verwenden (38 Fn. 36) und geht tatsächlich in größter Unbekümmertheit über ihre eigenen Vorbehalte hinweg. Für eine reine Diskursgeschichte wäre dies wohl hinzunehmen. Steckel aber verwendet ihre literarischen Quellen als Protokolle, und so gelten ihr Topoi als bedeutungstragende ritualisierte Handlungen (284), ja als "geschriebene Gestik" (571), Briefquellen führen sie zu Erkenntnissen über "soziale Nähe und Distanz" (403) oder über "ritualisierte Kommunikationshandlungen" (525), können aber auch Konflikte "dokumentieren" (186) und bilden "enge Netzwerke vertrauter nichtöffentlicher Kommunikation" ab (500, vgl. auch 800). Steckel bleibt jedoch nicht bei der problematischen Annahme stehen, von der Welt der Epistolare könne man grundsätzlich zur Welt des Mittelalters gelangen - Briefsammlungen mit ihren ebenso komplexen wie jeweils singulären Genesen zieht sie gar zu Vergleichen einzelner Gelehrter heran: Hrabanus Maurus agierte Steckel zufolge als vielgefragte Berühmtheit, während Lupus von Ferrières stets Bittsteller war (452). Diese Aussage hätte vielleicht ein Zeitgenosse treffen können, der die gesamte brieflich-mündliche Kommunikation beider Autoren überblickte. Wer aber nur über handverlesene, sorgsam überarbeitete Prachtstücke eines kläglichen Rests der Episteln verfügt, von denen wir überdies nicht einmal wissen, ob sie allesamt jemals als Brief versandt wurden, dem fehlen belastbare Grundlagen einer solchen Einschätzung, und Steckel selbst hat an anderer Stelle aus genau diesen Gründen die Möglichkeit ausgeschlossen, "Erkenntnisse quantitativer Art" aus Briefsammlungen zu gewinnen (812). Die grundsätzliche Weigerung Steckels, eine Grenze zwischen Leben und Literatur anzuerkennen, führt gerade in den zahlreichen Fällen, bei denen Steckels Informationen ausschließlich aus Briefsammlungen stammen, immer wieder zu Zirkelschlüssen. Im Epistolar Fulberts von Chartres etwa begegnen wir Hildegar, der mit einem gewissen Everardus einen "vertrautere[n] Kommunikationsstil" pflegte, wie er angeblich charakteristisch für seinen Umgang mit Freunden war. Dass es sich aber hier um einen "Freund" handelte, dies wissen wir: eben aus dem besonderen Kommunikationsstil (755).
Auch im Umgang mit Quellen- und Forschungstermini lässt die ansonsten sprachlich souverän argumentierende Untersuchung Wünsche offen. Obgleich Begriffe eine tragende Bedeutung für Steckels Vorhaben besitzen, erfährt der Leser doch nur selten, wie er sie im Rahmen der Untersuchung zu verstehen hat. Dies gilt für die ubiquitären "Handlungsspielräume", das "sakralisierte Wissen" oder die "Autorität" ebenso wie für "Gelehrte", "Wissenschaft", "Kirche", "Öffentlichkeit", "Zensur" oder "Kommunikation". Schwerer vielleicht wiegt, wie nonchalant Steckel über Quellentermini wie magister, discipulus, scandalum, scientia, novitas oder modernus hinweggeht, die eine umfassende begriffsgeschichtliche Ausleuchtung bis in die Latinität der Spätantike und der Vulgata verdient hätten. Ob wir aber doctor doctorum tatsächlich als "überraschend genau[e] Bezeichnung einer 'Professionalisierung der Gelehrten um 1100'" (1062f.) und nicht vielleicht als schlichten Ehrentitel zu betrachten haben, auch dies hätte wohl nur eine intensivere Berücksichtigung der althergebrachten Regeln der Quellenkritik erhellen können. Eine Bemerkung verdient auch Steckels programmatische Ablehnung institutionengeschichtlicher Zugänge. Sie betrifft auch rechtliche Normen und Gebräuche, und so kann Steckel weder für die Folgen jener Verfügung Interesse aufbringen, mit der Gregor VII. auf der römischen Novembersynode des Jahres 1079 bestimmte, alle Bischofssitze hätten Domschulen einzurichten, noch für die im 12. Jahrhundert zunehmend übliche Praxis, Gelehrtenmobilität und Bildungsaufenthalte durch die Gestattung eines Pfründenverzehrs in absentia zu ermöglichen. Die in der buchstäblich erschlagenden Studie zusammengetragenen neuen kulturwissenschaftlichen Perspektiven auf Altbekanntes vermögen so aufgrund ihrer methodischen Defizite nicht jeden Leser zu überzeugen, der sich auf 1215 Textseiten und in 3334 Fußnoten mit den "Kulturen des Lehrens" auseinandergesetzt hat.
Thomas Wetzstein