Urs Zürcher: Monster oder Laune der Natur. Medizin und die Lehre von den Missbildungen 1780-1914 (= Campus Historische Studien; Bd. 38), Frankfurt/M.: Campus 2004, 318 S., ISBN 978-3-593-37631-8, EUR 34,90
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Ein Bereich, der nach wie vor medizinisch fachkundige Menschen, aber auch die Bevölkerung allgemein im Negativen wie im Positiven fasziniert sind sicherlich "Monster" oder medizinische "Abweichungen". In diesem Zusammenhang erhält nicht zuletzt die Frage nach der historischen Dimension des Themas eine große Relevanz. Genau damit befasst sich Urs Zürcher in seiner Studie: Es geht ihm um eine Geschichte der medizinischen Lehre von den Missbildungen in der Zeit zwischen dem ausgehenden 18. und dem beginnenden 20. Jahrhundert. Zürcher untersucht das Thema in körper- und wissenschaftshistorischer Hinsicht und unternimmt dies auf drei verschiedenen Ebenen, die nacheinander immer wieder beleuchtet und in der Studie im Rahmen einer chronologischen Abhandlung miteinander verzahnt werden: Die Entstehung wissenschaftlicher Systeme und Theorien ("Wissen und Beobachten": 34-65, 83-112, 153-176, 195-213, 235-259); der Umgang mit dem körperlichen Substrat, Präparaten, Versuchstieren oder lebenden Menschen beziehungsweise Patienten ("Körper und Dinge": 66-82, 135-152, 260-282) sowie schließlich der Einfluss und die Bedeutung von Affekten und Emotionen ("Affekte und Distanzen": 113-134, 177-194, 214-234).
Die Geschichte, die Zürcher erzählt, kann hier nur sehr kursorisch wiedergegeben werden: Gegen Ende des 18. Jahrhunderts führten die Debatten von Gelehrten verschiedener Provenienz über die Entstehung und die Entwicklung menschlicher Körper zu einem gesteigerten Interesse an Missbildungen, seinerzeit noch als "Monster" etikettiert. Dabei wandelte sich das "Monster" in den Dekaden um die Wende zum 19. Jahrhundert vom bestaunten (außer- oder widernatürlichen) Wunder zum Objekt wissenschaftlicher Neugierde. Die Grundlage hierfür war ein Verlassen der so genannten "Präformationstheorie" (der Mensch existiert schon vorgeformt in einem Keim) zu Gunsten der "Epigenesistheorie" (der Mensch entwickelt sich aus einer Anlage heraus). Dieser Schritt ist kaum zu überschätzen, denn der Entwicklungsgedanke ließ die Missbildung als Ergebnis der spezifischen, umschriebenen Störung eines natürlichen organischen Entstehungsprozesses erscheinen. Damit wurde die Missbildung zu einem Teil der Natur. Die angefertigten Präparate von Missbildungen wanderten aus Wunderkammern von vermögenden Individuen in die anatomischen und pathologischen Sammlungen. Hier wurden sie in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts (circa bis 1830) von Anatomen und Pathologen katalogisiert und vor allem organisiert und gereiht, um Entwicklungsstadien festzumachen. Problematisch blieb allerdings, dass man der Frage der Ätiologie von "Abweichungen", wie sie nun zunehmend genannt wurden, nicht näher kam. Versuche, die "Teratologie" als Lehre von den Missbildungen zu institutionalisieren, scheiterten wahrscheinlich nicht zuletzt deshalb. So blieb das Fach eine "Paradisziplin", die seit 1858 durch die Zellularpathologie des Pathologen Rudolf Virchow (1821-1902) neuen Auftrieb erhielt. Krankheit und Gesundheit wurden in die Zelle als den Grundbaustein des menschlichen Körpers gelegt. Die "Abweichung" wanderte damit nach innen. Das äußere Signum der Missbildung war nicht mehr so entscheidend wie die verborgene Ursache. Doch Letztere konnte man auch mit Virchows Prinzip nicht aufdecken. Neue Hoffnung nährte dann im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts die Idee, funktionelle Aspekte experimentell zu erforschen. In der Teratologie lenkte man den Blick auf Forschungen am Tier, aber auch auf den lebenden Menschen mit Abweichungen. Dieser Prozess korrelierte mit einer Konjunktur in der öffentlichen Zurschaustellung der Missbildung. Vor allem zwischen 1880 und 1900 hatte die Vorführung zum Beispiel von Riesen oder Zwergen in Schaubuden Hochkonjunktur. Aber die Teratologie blieb allzu sehr dem morphologischen Ansatz verhaftet, der in der Medizin generell seit dem Ende des 19. Jahrhunderts an Bedeutung abnahm. Abseits der medizinischen Leitfragen der Zeit überlebte die Teratologie vornehmlich durch ihre pathologischen Präparate, die in den Museen gehortet und nun nicht mehr gebraucht wurden. Und für die Bevölkerung verlor die Missbildung oder Abweichung seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts den Charakter des Kuriosen und Unterhaltsamen - erst recht, nachdem zwischen 1914 und 1918 verstümmelte Menschen zum täglichen Anblick wurden.
Zürchers Studie ist eine gute Ergänzung zu Publikationen über das Thema, die bisher erschienen sind, so zum Beispiel zu Michael Hagners 1995 herausgegebenem Reader zur Geschichte der Monstrositäten. [1] Weitere Informationen zu den Prozessen, die sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts abspielten, hätten den Wert des Buches sicherlich gesteigert. Zürcher deutet im Zusammenhang mit der zeitgenössischen Vorstellung von einer äußeren Exposition der inneren Abweichung die Bedeutung von Rassenhygiene und Antisemitismus für das Thema nur an. Eine nähere Beleuchtung der medizinischen Etikettierung von ganzen sozialen Gruppen zu Außenseitern der Gesellschaft wäre sicherlich spannend gewesen. Im Gegensatz zur Zeit bis 1870 werden die Jahrzehnte bis zum Ersten Weltkrieg allzu zügig abgehandelt. Fehlende Informationen sind aber letztlich vor allem ein Problem der Einleitung, wo der Forschungsstand praktisch nicht behandelt und die Arbeit damit nicht verortet wird. Auch im Hinblick auf die Quellen und die Methodik wäre eine etwas ausführlichere Erörterung in der Einleitung wünschenswert gewesen.
Vor allem anhand von medizinischen Texten wird ein detaillierter Einblick in die Diskussionen um die "Monster" und Missbildungen im Bearbeitungszeitraum gegeben. Die Texte werden gut analysiert und kontextualisiert. Doch die Lektüre ist etwas mühsam, weil die Arbeit kontinuierlich zwischen historischer Abhandlung und philosophischer Konstruktion oszilliert. Dies erinnert stark an die Ansätze einer strukturanalytischen Philosophie und nicht umsonst zitiert Zürcher dann auch Foucault, Ariès und Barthes. Der Vorteil eines solchen Verfahrens liegt auf der Hand: Die Interpretationen, die Zürcher liefert, sind hochinteressant und sehr luzide, und die Arbeit steht fraglos auf einem hohen analytischen Niveau. Die Gefahr ist allerdings, dass die Begründung und Analyse des Quellenmaterials nicht auf der Basis der Quellen vorgenommen werden. Die Affekte des Anatomen Johann Friedrich Meckel des Jüngeren (1781-1833) im Zusammenhang mit der selbst vorgenommenen Zergliederung seines eigenen Vaters werden beispielsweise nur unzureichend mit Quellen unterlegt. Die Analyse von Affektivität der Medizin zur Zeit Meckels geschieht am Ende des betreffenden Kapitels (113-134) nicht zuletzt mithilfe von Kant, Descartes, Heidegger, Sloterdijk und Nietzsche. Dies ist für den Historiker nicht sehr überzeugend. Kontrapunkt ist die hervorragende Analyse des Anatomen und Physiologen Johannes Müller (1801-1858) und seines Umganges mit der Sektion einer Afrikanerin (177-194). Hier orientiert sich der Autor viel mehr am Text. Müllers kognitive Arbeit mit "Interesse", um Affekte in den Griff zu bekommen, wird sehr plausibel dargestellt.
Ein weiteres Problem mit Zürchers Arbeit besteht in seinem Umgang mit den zwei medizinischen Disziplinen, die seiner Arbeit zu Grunde liegen: Anatomie und Pathologie. Die Passagen zur Geschichte der Fächer werden - von Ausnahmen abgesehen - nicht mit der reichhaltig vorhandenen medizinhistorischen Sekundärliteratur unterfüttert. So fehlen im Falle der Pathologie beispielsweise die Arbeiten von Maulitz, Miciotto, Prüll, Richardson, Sappol. Dabei berücksichtigen die genannten neueren Arbeiten durchaus mentalitätsgeschichtliche Aspekte, die ja für Zürchers Studie so wichtig sind. Der Mangel an relevanter Sekundärliteratur zu Schlüsselthemen der Arbeit entspricht nicht der gängigen Praxis historischen Arbeitens und nimmt dem interessierten Leser die Möglichkeit, sich über entsprechende Seitenpfade der Arbeit weiterzuinformieren. Eine Berücksichtigung der medizinhistorischen Sekundärliteratur zum Thema hätte auch einer besseren (medizin-)historischen Kontextualisierung der Arbeit gedient.
Am Ende erreicht Zürcher allerdings sein Ziel, eines von vielen Bildern seines Themas zu vermitteln. Trotz der genannten Kritikpunkte ist seine Arbeit sehr lehrreich und lesenswert, weil sie sowohl informiert als auch analysiert und damit sehr gut Assoziationen für weitergehende Untersuchungen weckt. Auch trägt sie zu einer Mentalitätsgeschichte der Naturwissenschaften und der Medizin bei. Sie ist damit wichtig für jeden, der sich mit der Geschichte der biologischen Wissenschaften beschäftigt und gehört in jede medizinhistorische Bibliothek.
Anmerkung:
[1] Michael Hagner (Hg.): Der falsche Körper. Beiträge zu einer Geschichte der Monstrositäten, Göttingen 1995.
Cay Rüdiger Prüll