Herman J. Selderhuis / Frank Günter (Hgg.): Melanchthon und der Calvinismus (= Melanchthon-Schriften der Stadt Bretten; 9), Stuttgart / Bad Cannstadt: Frommann-Holzboog 2005, 375 S., 9 Abb., ISBN 978-3-7728-2236-0, EUR 48,00
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Es ist das Glück des Rezensenten, ein Buch auf den Schreibtisch zu bekommen, von dem er denkt: Das hat gefehlt - das hätte schon lange gemacht werden müssen. Diesen ersten Eindruck macht der von Günter Frank und Herman J. Selderhuis herausgegebene Band zu Melanchthon und dem Calvinismus. Die Melanchthonforschung der letzten Jahrzehnte hat, in der hingebungsvollen Grundlagenforschung Heinz Scheibles sowie der interdisziplinären und internationalen Untersuchung einer Vielzahl theologischer und anderer Probleme, immer deutlicher herausgearbeitet, welches Gewicht gerade dem "armen dürren Männlein" (so Luther) für Strukturen und Inhalte der höheren Bildung im protestantischen Europa der Frühen Neuzeit zukam. Immer klarer tritt hervor, dass - in der Perspektive der europäischen Diffusion und Rezeption reformatorischer Theologie und ihrer wissenschaftlichen Derivate - weniger der geniale, polternde, provozierende Luther als vielmehr der feinsinnige, leise, bis in die jüngste Zeit als "schwach" gedeutete Melanchthon eine Hauptrolle spielte. So verspricht auch die Frage nach der theologischen, aber auch wissenschaftlichen und kulturellen Rezeption des Praeceptor Germaniae in vielerlei Hinsicht, Licht auf bisher unerforschte oder partiell unterreflektierte Bereiche der europäischen Geistesgeschichte des späteren 16. Jahrhunderts zu werfen. Viele Themen bieten sich für den Fokus "Melanchthon und der Calvinismus" an, von denen zum Beispiel der Zusammenhang von Humanismus und Reformation in ihrer spezifisch reformierten Ausprägung, die irenischen Tendenzen des Calvinismus und ihr Konnex zum Wirken Melanchthons oder die Frage nach dem Kryptocalvinismus zu nennen sind. Der Verlag und das Vorwort versprechen aber sogar noch mehr: "Die Beiträge des Bandes gehen der Frage nach Melanchthons Einfluss auf die Kulturgeschichte der frühen Neuzeit im romanischen und englischsprachigen Calvinismus nach" (Klappentext); sie nehmen eine "kultur- und wissenschaftshistorische Perspektive" ein (Vorwort, 7).
Überblickt man aber den Band insgesamt, so zeigt sich, dass die Beiträger - charakteristischerweise in der Mehrzahl Theologen - über weite Strecken sehr detailliert dogmen- und theologiegeschichtliche Fragen behandeln. Diese Fragen sind für den Kirchenhistoriker von eminentem, für den Religion ernst nehmenden Profanhistoriker immerhin von einigem Interesse. Es scheint dem Rezensenten aber bezweifelbar, ob es eine gute Idee ist, Theologiegeschichte als "Kultur- und Wissenschaftsgeschichte" zu etikettieren: Ein paar nichttheologische Historiker hätten nicht geschadet. Genauso ist es problematisch, als Untersuchungsfokus den "romanischen und englischsprachigen Calvinismus" anzukündigen, aber keine Beiträge zu England und nur relativ wenige zu Frankreich bereitzustellen. Wenn daneben in ungefähr der Hälfte der Aufsätze nicht die Beziehung Melanchthons zum Calvinismus untersucht wird, sondern unterschiedliche theologische Fragen im Vergleich Melanchthon / Calvin behandelt werden - was wohl kaum dasselbe ist -, zeigt sich deutlich: Der Band hat seine Meriten, tendiert aber zur Mogelpackung.
Insgesamt stellen die theologisch orientierten Beiträge vor allem die Nähe der Theologien Melanchthons und Calvins heraus. Dies gilt zum Beispiel für die Aufsätze Michael Bechts zur Konzilsfrage und Günter Franks zur Gottes- und Trinitätslehre. Dass schon aus diesem Grund die Klassifizierung etwa des Heidelberger Katechismus als entweder "calvinistisch" oder "melanchthonianisch" die weit gehenden Übereinstimmungen zwischen beiden Theologen (und anderen) ausblenden muss, zeigt Lyle D. Bierma. Gerade für die erste Jahrhunderthälfte, aber auch darüber hinaus sind die Termini (genau wie ihre lutherischen Pendants "philippistisch" versus "gnesiolutherisch") seit Längerem umstritten; man wird auch in Zukunft nicht um eine individualisierende Positionsbeschreibung herumkommen, aber dennoch, in theologie- wie sozialgeschichtlicher Perspektive, auch nach Gruppenbildungen und Abgrenzungsbewegungen fragen müssen.
Die Autoren des Bandes sind sich in dieser Vorsicht gegenüber zu klaren konfessionellen Abgrenzungen einig: Die Attraktivität Melanchthons für die europäischen Reformierten bestand ja unter anderem in der hohen Anschlussfähigkeit an seine eben oft nicht konfessionalistisch zugespitzten Positionen. Gerade deshalb fällt es auf, wenn der in den 1550er-Jahren nach Heidelberg übergesiedelte Melanchthonschüler Victorin Strigel (der in einschlägigen Lexika wahlweise als Philippist oder als Gnesiolutheraner firmiert) an einer Stelle als "calvinistisch geworden" (140) und die niederländischen Remonstranten als "anticalvinistisch" (315) bezeichnet werden. Beides mag seine Berechtigung haben, fordert aber dazu heraus, "den" Calvinismus sowohl als theologische Richtung wie auch als widersprüchliche Phänomene integrierende soziokulturelle Größe zu diskutieren. Denn mit ähnlicher Berechtigung könnte man doch zum Beispiel die Remonstranten als Gruppe innerhalb einer binnencalvinistischen Kontroverse bezeichnen (wenn man "Calvinismus" nicht zu eng als rein theologisches und Theologen-Phänomen versteht).
Innerhalb des komplexen Diskurszusammenhanges der Ausbildung des Calvinismus und seiner zwiespältigen, zwischen den Optionen Integration wie Abgrenzung pendelnden Haltung zum Luthertum kommt Melanchthon sicher eine Schlüsselrolle zu. Zumindest für das Reich wäre aber doch auch auf die politische Situation des Calvinismus nach 1555 hinzuweisen: Die Ambivalenzen seiner Beziehung zum Luthertum hängen sicher auch mit der reichsrechtlich prekären Position des Reformiertentums zusammen. Dass der Religionsfrieden in diesem Band so gut wie keine Rolle spielt, verweist ein weiteres Mal auf dessen ungute theologiegeschichtliche Verengung.
Die Beiträge von Herman J. Selderhuis zu den melanchthonischen Einflüssen an der Heidelberger Universität zwischen 1583 und 1622 sowie von Jan Rohls zur protestantischen Wissenschaftstheorie zeigen, dass Melanchthon eine besondere Rolle als Stichwortgeber, als Theologe wie außertheologischer Wissenschaftler zukam; hier wie in den Beiträgen von Willem van't Spijker und Andreas J. Beck erweist sich die Bedeutung Melanchthons vor allem im Hinblick auf die Methodisierung und damit Verwissenschaftlichung theologischer Reflexion. Auch der Beitrag Christoph Strohms zur Melanchthonrezeption in der calvinistischen Ethik verdeutlicht das Gewicht Melanchthons als Systematisierer der Theologie: Wenn auch Melanchthons strikte Unterscheidung von Gesetz und Evangelium kritisiert wurde, rezipierten reformierte Autoren bis hin zu Alsted ihn vor allem als zeitgemäßen Aristotelesausleger - und sahen kein Problem darin, ihn öfter als Calvin zu zitieren. Das auf die Polis bezogene Ethikkonzept Aristoteles' und Melanchthons trat aber gegen Ende des Jahrhunderts gegenüber einer gerade im Calvinismus erstarkenden Stoarezeption zurück.
Dies führt zu dem Thema Melanchthon, Calvin und der Humanismus: In einem Vergleich der Hochschulgründungen beziehungsweise -reformen Calvins und Melanchthons deutet Karin Maag die größere thematische Breite Wittenbergs und die vielleicht bei Melanchthon höhere Aufmerksamkeit für genuines Bildungswissen (das nicht konfessionell zugespitzt wird) an; auch Riemer Faber macht deutlich, dass Melanchthon in einem weiten Sinne als Weltanschauungs-Humanist gelten kann (und sich damit die bekannten Probleme einhandelte, wie dies mit der reformatorischen Lehre zu vermitteln sei), während Calvin den Humanismus deutlicher auf propädeutische und technische Funktionen reduzierte. Von dieser Warte aus erschiene es interessant, die zuweilen angenommene intrinsische Affinität "des" Calvinismus zum Späthumanismus noch einmal zu diskutieren; Fabers und Maags Beiträge legen jedenfalls nahe, dass die Konstruktion des Calvinismus als natürlichem Zwilling des Späthumanismus, wie sie sich wirkungsmächtig zum Beispiel in den Arbeiten des Osnabrücker Germanisten Klaus Garber ausdrückt, überdacht werden muss.
Zwei Aufsätze belegen, dass die Rezipierbarkeit Melanchthons für mehr oder minder calvinistische Diskurse gerade in der oft nicht zugespitzten, vermittelnden Haltung Melanchthons begründet war: Theodor Mahlmann profiliert ihn so als Vorläufer des Wittenberger Kryptocalvinismus, Wim Janse beleuchtet die instrumentalisierten Melanchthon-Berufungen des reformierten Nonkonformisten Wilhelm Klebitz. Gerade zu diesem Strang, der begründeten oder unbegründeten, meist antilutherischen Vereinnahmung Melanchthons durch calvinistische Autoren, stehen systematische Untersuchungen aus - dies hätte der Band leisten können und sollen.
Wie andere Humanisten hing auch Melanchthon dem Sternenglauben an; bereits in der frühen Reformation benutzten Anhänger wie Gegner Nativitätshoroskope in apologetischer wie polemischer Absicht. Max Engamarre zeigt am Beispiel Florimond de Raemond, wie auch im militanten französischen Katholizismus der zweiten Jahrhunderthälfte astrologische Spekulation gegen Calvin wie gegen Melanchthon und Luther gewendet wurde. Dieser Beitrag steht als einziger, der sich mit katholischer "Rezeption" beschäftigt, etwas abseits. Die katholische Rezeption Melanchthons wäre generell ein lohnendes Thema; näher liegend noch wäre aber eine umfassende Aufarbeitung unterschiedlicher Aspekte der Melanchthonrezeption gerade im Luthertum. Dass Melanchthon hier einen "kaum zu überschätzenden Einfluss ausübte" (7), ist genauso bekannt wie seine theologische Marginalisierung durch die Orthodoxie; wie diese Konstellation allerdings vermittelt und kommuniziert wurde, ist bisher nicht recht untersucht.
Aber auch zum Thema "Melanchthon und der Calvinismus", dem der Band gewidmet ist, stehen noch Forschungen aus, die gegenüber den hier vorgelegten Beiträgen sowohl thematisch (etwa im Hinblick auf Melanchthons Naturphilosophie und Psychologie, seine Historiografie und Rhetorik) als auch geografisch ausgeweitet werden müssten: Die Melanchthonrezeption im englischen Puritanismus etwa, die Klappentext und Vorwort versprechen, wäre sicher eine Studie wert. Aber auch darüber hinaus sollte der Calvinismus als europäisches Phänomen ernster genommen werden, als es in diesem sehr theologiegeschichtlichen und auf Deutschland und die Niederlande konzentrierten Sammelband geschieht.
Matthias Pohlig