Martin H. Jung: Philipp Melanchthon und seine Zeit, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2010, 168 S., ISBN 978-3-525-55006-9, EUR 17,90
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2010 jährte sich Philipp Melanchthons Tod zum 450. Mal. Zahlreiche Tagungen und Erinnerungsfeiern gedachten dieses Jubiläums. Martin Jung hat eine knapp und konzis gehaltene Biographie beigesteuert. Die letzte Beschreibung von Melanchthons Leben und Werk ist dreizehn Jahre alt und wurde von dem ausgewiesenen Kenner und langjährigen Leiter der Heidelberger Melanchthon-Forschungsstelle, Heinz Scheible, verfasst. [1] Jung will sich nicht mit dieser Arbeit messen. Sein Buch ist für ein interessiertes Laienpublikum und den studentischen Anfänger geschrieben, der sich schnell und konzentriert über die wichtigsten Lebensstationen des Reformators und sein Werk samt historischem Kontext informieren will.
Das Buch ist in 40 Kurzkapitel gegliedert, die meist nicht mehr als drei oder vier Seiten umfassen. Die Darstellung ist sehr übersichtlich, eine Zeittafel am Ende ordnet das Geschehen grob ein, die umfassende Bibliographie verweist auf die Fachliteratur.
Der Autor arbeitet klar die wichtigsten Wegscheiden des Lebens, die Probleme der Zeit und das Besondere an Melanchthons Theologie und Werk heraus. Er berichtet von den theologischen Streitigkeiten, die das Werk des Reformators begleiteten und seinem Gelehrtengemüt arg zusetzten, und stellt deren Genese, den Austausch der Argumente und den Verlauf sowie Lösungsversuche vor. Dabei entsteht trotz der Taktung des Erzählstoffes in kurze Kapitel eine fließende und plastische Darstellung eines Lebens, die Melanchthon als einen Mann seiner Zeit beschreibt, aber auch die über seine Zeit herausragenden Leistungen markiert.
Als besonders gelungen sind die bündigen und verständlichen Erklärungen der Theologie und Wissenschaftsmethode Melanchthons anzusehen, wie die Anwendung der Loci communes auf die biblische Textanalyse (23-26) und der forensische und imputative Charakter seiner Rechtfertigungslehre (25f.). Jung folgt neueren Forschungskonzepten, wenn er das von Melanchthon betriebene Heiligengedenken von der altgläubigen Heiligenverehrung trennt und in den Zusammenhang eines protestantischen Geschichtsverständnisses stellt, das in Geschichtskalendern populären Ausdruck fand (87-92). Die Formen dieser Geschichtsschreibung rücken erst allmählich in den Fokus der Forschung. [2] Interessant für den heutigen Leser dürfte der Beitrag Melanchthons an der Ausbildung der evangelischen Konfession und der Entstehung einer lutherischen Episkopalkirche wie die damalige enge Verbindung von Politik und Religion sein. Reformation umfasste selbstverständlich nicht allein die Kirchenangelegenheiten, sondern auch die Aufsichtspflichten des Staates über Schulen, Universitäten, Ehefragen und Pfarrwesen. Diese Kapitel vermitteln einen guten Eindruck, wie einschneidend die vielen Reformen für die Menschen des 16. Jahrhunderts waren. Den großen Anteil des Gräzisten Melanchthon an der Luther'schen Bibelübersetzung betont Jung, indem er sie als "Luther-Melanchthon-Bibel" bezeichnet (21).
Schließlich gibt der Autor Ausblicke auf die Melanchthonrezeption der folgenden Jahrhunderte, um bei der Erforschung im 19. bis 21. Jahrhundert, den Melanchthoneditionen und den Institutionen seines Gedenkens in Wittenberg und Bretten zu enden. Die Konjunkturen der Beschäftigung mit dem Reformator werden in die jeweiligen historischen Zeitumstände eingeordnet.
Kein Buch ist ohne Mängel. Trotz des knapp bemessenen Raumes hätte Jung einige Probleme differenzierter darstellen können. Die Reformation erscheint Arm in Arm mit dem Humanismus als eine Bewegung, die mit den Spitzfindigkeiten der Scholastik und der mangelhaften Bildung in den Klöstern aufräumte (10f., 41). Das vernachlässigt die Kirchenreformen und den Klosterhumanismus des 15. Jahrhunderts [3], auf deren Grundlagen sich die Reformation, wenn auch in einer sich absetzenden Bewegung, entwickelte. Ob Melanchthons Gespräche mit altgläubigen Theologen tatsächlich als ein Anfang der Ökumene im Zeitalter der Glaubensspaltung aufzufassen sind (43), wäre zu diskutieren. Die wesentlichen Glaubensinhalte der Augsburger Konfession, die Sakramenten- und Rechtfertigungslehre, waren für ihn nicht verhandelbar, allein über den Gottesbegriff und die Trinität waren Brücken denkbar.
Die theologische Auseinandersetzung, die Melanchthon am schwersten zusetzte, war der im Gefolge des Interims entstandene Adiaphorastreit mit einer von Melanchthon ironisch als "Gnesiolutheranern" bezeichneten Gruppe von Theologen. Deren Hauptfigur Matthias Flacius Illyricus (dessen Todesjahr mit 1570 falsch angegeben ist), charakterisiert Jung kaum anders, als es sein Protagonist Melanchthon polemisch selbst getan hätte: Flacius' Radikalität sei einfach gewesen, "da er geflohen war und keine Verantwortung für die Kirchenpolitik eines Territoriums hatte. Seine Professur hatte er aufgegeben, die Studenten im Stich gelassen und war in das geächtete Magdeburg gezogen" (112f.). Das ist sachlich nicht falsch, übernimmt aber den alten, vereinfachenden Ton der Anklage. Vielleicht hätte Jung an dieser Stelle thematisieren können, in welchem Verhältnis Melanchthons Lehre vom freien Willen zu seiner politisch grundierten Ethik stand, denn ohne die Existenz eines freien Willens zu vertreten, ist es schwer, eine Gesellschaft mit ethischen Grundsätzen zu begründen.
Die Aussage, dass Flacius "ein von Natur aus streitsüchtiger Mensch" (112) gewesen sei, mag der Wahrheit entsprechen, doch wäre dem historisch interessierten Leser besser gedient, die Motivation für den Streit um die landesherrliche Kirchengewalt im Herzogtum Sachsen, in dessen Folge die Gnesiolutheraner um Flacius aus dem Land ausgewiesen wurden, weniger psychologisch als mit der gesellschaftlichen Radikalität der Ideen dieser Theologengruppe zu begründen, die in jeder obrigkeitlichen Einmischung in Kirchenfragen eine Erhebung eines caesaropapistischen Antichrist zu entdecken meinte.
Dass Flacius "aus ganz und gar apologetischen Gründen, die berühmten Magdeburger Zenturien [...], die erste umfassende Kirchengeschichtsdarstellung seit der Spätantike", (113) verfasst habe, ist nicht richtig, da er nur die Sammlung der Materialien und die Koordination des europaweiten, umfangreichen Gelehrtennetzwerkes organisierte; das Werk selbst wurde in Teamarbeit kompiliert, verfasst und korrigiert.
Trotz der intensiven Bemühungen der letzten 50 Jahre, das Bild eines wankelmütigen Melanchthon zu revidieren, das eine nationalprotestantische Geschichtsschreibung im 19. Jahrhundert geprägt hatte, und dem Reformator dem ihm gebührenden Platz zu verschaffen, ist das Wissen um Melanchthon außerhalb der Schranken der Fachwelt - gerade im Verhältnis zu Luther - leider weiterhin begrenzt. Sein Name ist bekannt, doch wissen die wenigsten, was seine historischen Verdienste sind. Es ist kaum zu erwarten, dass Martin Jungs Buch dies ändern wird, aber vielleicht stößt es einigen Interessierten die Tür auf, um sich mit Melanchthon intensiver zu beschäftigen.
Anmerkungen:
[1] Heinz Scheible: Melanchthon. Eine Biographie, München 1997.
[2] Vgl. Matthias Pohlig: Zwischen Gelehrsamkeit und konfessioneller Identitätsstiftung. Lutherische Kirchen- und Universalgeschichtsschreibung 1546-161, Tübingen 2007, 418-461.
[3] Zum Klosterhumanismus jüngst Harald Müller: Habit und Habitus. Mönche und Humanisten im Dialog, Tübingen 2006.
Harald Bollbuck