Jens Niederhut: Die Reisekader. Auswahl und Disziplinierung einer privilegierten Minderheit in der DDR (= Schriftenreihe des Sächsischen Landesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen; Bd. 4), Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2005, 151 S., ISBN 978-3-374-02339-4, EUR 9,80
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Jens Niederhut hat mit seiner kurz gefassten Schrift "Die Reisekader. Auswahl und Disziplinierung einer privilegierten Minderheit der DDR" eine - auf den ersten Blick - ganz grundlegende Studie vorgelegt, geht es doch um die Erforschung der Außenpolitik der DDR auf einem zeitgemäßen, den Desideraten der Geschichtsschreibung verpflichteten Niveau.
Denn Niederhut skizziert gerade diejenigen Akteure, die so namhafte Historiker wie Akira Iriye und Charles S. Maier im Zentrum künftiger außenpolitischer Analysen sehen wollen, diejenigen "human fellows" nämlich, anhand derer Berichte und (bisweilen informeller) Netzwerke gezeigt werden kann, dass außenpolitische Beziehungen - seien sie nun auf kultureller, wissenschaftlicher, wirtschaftlicher, militärischer oder politischer Ebene - transnationale Geflechte voller Dynamiken und Widersprüche waren; dass außenpolitische Beziehungen fragile, immer wieder aufs Neue geknüpfte Gebilde waren und sind, die von Menschen gemacht, befestigt oder verändert wurden und auch heute werden. [1]
Unter dem - durchaus strittigen Motto - "Nichts prägte die DDR mehr als ihre Grenzen" (10) entwickelt Niederhut eine stringente Darstellung des "Reisekadersystems" der DDR, jener Gruppe von Funktionären, Wissenschaftlern oder auch Arbeitern, die seit den 1960er-Jahren bis zum Ende der DDR nach einem strikten Auswahlverfahren das Recht hatten, Anträge auf Dienstreisen in das "nichtsozialistische Wirtschaftsgebiet" zu stellen und letztendlich auszureisen.
Anhand von einschlägigen Akten und anhand der Beispiele TU Dresden und VEB Carl-Zeiss-Jena findet Niederhut zunächst eine Definition des "Reisekadersystems" im Kontext der Reisepolitik des SED-Staates, erforscht sodann Auswahl der Kader, die Reisen im Westen (auch in ihrer Überwachung), die Stellung von Reisekadern als Mitarbeiter der Staatssicherheit und die diskursiven Konturen von - durch die SED grundsätzlich verlangten - Reiseberichten.
Das "Reisekadersystem" - so die Essenz von Niederhuts Studie auf den Punkt gebracht - hatte vor allem eine zweifache Dimension: Die Reisekader seien eine privilegierte Minderheit gewesen, die sich durch eine besondere politische Loyalität zum SED-Staat auszeichnete. Reisekader habe man exklusiv ausgewählt, was wiederum - so die zweite Dimension nach Niederhut - besondere "Kontroll- und Disziplinierungsmechanismen" mit sich brachte: "Die Hoffnung auf den Reisekaderstatus förderte Anpassung und Stillhalten", so Niederhut (135). Und weiter: "Eine ganze Generation talentierter Wissenschaftler, Ökonomen und Ingenieure richtete ihr Verhalten, ihr politisches Auftreten und ihre Karriereplanung danach aus, eines der begehrten Tickets in den Westen zu ergattern. Die disziplinierende Wirkung war enorm" (135).
Aus diesen Zitaten werden auf den zweiten Blick exemplarisch einige ganz zentrale Probleme von Niederhuts Studie deutlich: Zum einen wird der Gegenstand der "Reisekader" unter vollständiger Ausblendung der kaum übersehbaren Debatte um "Eigensinn", "Grenzen der Diktatur" und "Durchherrschung" behandelt, die Historikerinnen und Historiker bei der Analyse der DDR nun schon seit längerer Zeit beschäftigt. [2] So geht Niederhut mehr oder weniger explizit von vornherein davon aus, die "Durchherrschung" der SED sei zumindest bei der privilegierten Gruppe der West-Reisenden weitgehend gelungen. Hier wäre allerdings eine intensivere Erforschung der Praktiken im Ausland - möglicherweise auch anhand der Erinnerungen einzelner Akteure - unbedingt notwendig gewesen. Indem Niederhut diese Perspektive auf den einzelnen Akteur und seine Selbstdeutungen unterlässt, werden zum Zweiten die Konturen von Herrschaftsbeziehungen als "soziale Praxis" eingeebnet - von Herrschaftsbeziehungen die, wie Alf Lüdtke und Thomas Lindenberger so eindringlich verdeutlicht haben, gerade aus der Vielschichtigkeit des Mitmachens, Aushandelns und auch Verweigerns gestiftet und immer wieder verändert werden. [3] Bei Niederhut gibt es den "durchherrschten" Reisekader auf der einen Seite, der - so seine Worte - "aus Angst vor Fehlverhalten" und aus "Furcht vor nicht genehmigten privaten Kontakten und Gesprächen" eigenständige Aktivitäten im westlichen Ausland weitgehend vermieden hätte (136), oder eben die Flucht aus der DDR.
Dass die betreffenden Akteure keine homogene Gruppe gewesen seien, räumt Niederhut zwar ebenso ein, wie dass der "Grad ihres Arrangements mit dem Herrschaftssystem und ihrer Verstrickung in die Diktatur" jeweils unterschiedlich gewesen sei (136 f.). Dies wird allerdings ebenso wenig näher ausgeführt wie erörtert, ob Reisen ins Ausland - ob nun ins sozialistische oder nicht-sozialistische - die Haltung zur eigenen Gesellschaft veränderten.
Es bleibt zu wünschen, dass Niederhut oder andere die von ihm bislang nur skizzierten Bemerkungen zur Vielschichtigkeit und zu den Unterschieden der Reisekader wieder aufgreifen und dass an einer Stelle, die mehr Raum als eine Kurzmonografie bietet, konturierter als in der hier vorliegenden Studie gezeigt werden kann, welchen Stellenwert die Reisekader als "human fellows" der Außenpolitik der DDR hatten, wie und unter welchen Bedingungen sich ihr Verhältnis zur SED veränderte, wie sie sich selbst sahen und wie ihre Wahrnehmungen und "Erfahrungen" im Ausland ihre Haltungen und Gefühle veränderten. Solche Perspektiven könnten nicht zuletzt grundlegend dazu beitragen, die nach wie vor nur wenig erforschte Außenpolitik der DDR in ihrer Komplexität zu erfassen.
Anmerkungen:
[1] Akira Iriye: Culture and International History, in: Michael J. Hogan / Thomas G. Paterson (Hg.): Explaining the History of American Foreign Relations, Cambridge 1991, 214-225, hier 219. Charles S. Maier: Introduction, in: ders. (Hg.): Changing Boundaries of the Political. Essays in the Evolving Balance between the State and Society, Public and Private in Europe, New York / Cambridge 1987, 1-24.
[2] Vgl. Thomas Lindenberger: Die Diktatur der Grenzen. Zur Einleitung, in: ders. (Hg.): Herrschaft und Eigen-Sinn in der Diktatur. Studien zur Gesellschaftsgeschichte der DDR, Köln / Weimar / Wien 1999, 13-44.
[3] Alf Lüdtke: Einleitung: Herrschaft als soziale Praxis, in: ders. (Hg.): Herrschaft als soziale Praxis. Historische und sozial-anthropologische Studien (=Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte; Bd. 91), Göttingen 1991, 9-66; Lindenberger: Diktatur der Grenzen (wie Anm. 2).
Hubertus Büschel