Peter Moraw / Rudolf Schieffer (Hgg.): Die deutschsprachige Mediävistik im 20. Jahrhundert (= Vorträge und Forschungen; Bd. LXII), Ostfildern: Thorbecke 2005, 404 S., ISBN 978-3-7995-6862-3, EUR 49,00
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Der Konstanzer Arbeitskreis für Mittelalterliche Geschichte - seit langem das wichtigste institutionalisierte Diskussionsforum der deutschen Mittelalter-Geschichtsforschung - konnte im Jahr 2001 sein fünfzigjähriges Bestehen feiern. Aus diesem Anlaß entschloss man sich, zum ersten Mal das eigene Fach zum Gegenstand einer Tagung zu machen. Es ging dabei um nicht weniger, als die Forschungsgeschichte eines ganzen Jahrhunderts in den Blick zu nehmen, "ja in gewisser Weise über diese Rechenschaft abzulegen", so die Herausgeber im Vorwort (7). Der Gewinn dieses Unternehmens liegt im Reflexionsniveau wie auch in der tiefgründigen Kenntnis der Autoren, allesamt führende Fachvertreter, doch ist er auch das Resultat der gelungenen Kombination einer Geschichte der Disziplin als solcher mit einer Geschichte ihrer Außen- und Wechselbeziehungen.
Die Geschichte des Faches wird in vier Zeitabschnitten geboten: Hier beschäftigt sich Rudolf Schieffer unter dem Titel "Weltgeltung und nationale Verführung" mit der Epoche vom Ende des 19. Jahrhunderts bis zum Ende des Ersten Weltkriegs. Schieffer zeigt damals wichtige institutionelle Gegebenheiten auf wie etwa das Verhältnis von Protestanten und Katholiken auf Lehrstühlen Nord- und Süddeutschlands, verweist auf den heute kaum mehr vorstellbaren Vorrang der mittelalterlichen Epoche innerhalb der Geschichtswissenschaft, erinnert an die Fixierung auf den Nationalstaat als scheinbar überzeitliche geschichtliche Norm, aber auch an den damaligen Ruhm der deutschsprachigen Mediävistik und insbesondere der Monumenta, ein Ruhm, der auf der in Deutschland mit besonderer Methodenstrenge betriebenen Quellenerschließung beruhte.
Ganz ideengeschichtlich ausgerichtet sind Otto Gerhard Oexles Beobachtungen zum Wirken von Mittelalterhistorikern zwischen 1918 und 1945. Wichtige, auch über den Zeitraum hinaus bedeutende Forscher und ihre damals entstandenen Werke gruppiert Oexle unter den drei Leitbegriffen Staat, Kultur und Volk und bilanziert seine Beobachtungen abschließend in vier Punkten. Sie betreffen eine nach Oexle nicht zu leugnende Fruchtbarkeit neuer, insbesondere kulturwissenschaftlicher "Aufbrüche" vor 1945, weiterhin die durchschlagende Option für Nietzsche und gegen Kant in jener Zeit, bezeichnende Verhaltensweisen der Forscher bei der Fortsetzung ihrer Arbeit nach 1945 und schließlich den Hinweis auf die allgemeine Rückkehr zu Rankes Objektivitätsideal als Reaktion auf die NS-Zeit, was für Oexle zu einer lange nachwirkenden "Lähmung des Faches" (101) führte.
Peter Moraws unter den Titel "Kontinuität und später Wandel" gestellten Ausführungen zum Abschnitt zwischen 1945 und 1970/75 gliedern sich in zwei Hauptteile: in eine sehr aufschlussreiche, statistisch untermauerte Sozial- und Institutionengeschichte des Faches einerseits, in Beobachtungen zu den im Fach gepflegten Themen und Methoden andererseits. Bei diesen trat der apostrophierte "späte Wandel", das heißt insbesondere die "Entdeckung" des Spätmittelalters und eine neue Problemorientierung der Forschung, erst um 1970 ein - ein Wandel, an dem der Autor selbst bedeutenden Anteil hatte.
Peter Johaneks Beitrag zu den letzten 25 Jahren des 20. Jahrhunderts durchmisst ein weites Feld, findet dabei viel Interessantes und viel Verschiedenes - und bringt doch gleichwohl Ordnung und Durchblick in die immer stärker differenzierte Forschungslandschaft - von der Beobachtung einer völlig neuartigen öffentlichen Mittelalter-Eventkultur und dem gleichzeitig mit Sorge zu sehenden Rückgang des Mittelalters in schulischen Lehrplänen und universitären Stellenplänen über den gewandelten Habitus der Gelehrten bis hin zu den Trends, den Kontinuitätsabbrüchen, aber auch den Evergreens mediävistischer Forschungsthemen der letzten Jahre. Ob der Begriff Konflikt als Leitwort auf längere Sicht dem Konsens, ob der Blick auf die nationale demjenigen auf die europäische Geschichte vollkommen weichen wird - und ob sich Wissenschaft künftig tatsächlich, wie Johanek meint, vornehmlich in Tagungsdiskussionen und -gesprächen anstatt in schriftlichen Äußerungen ausdrücken wird, das sind offene Fragen.
Zwei Beiträge zur Geschichte des Konstanzer Arbeitskreises sowie zur Entwicklung der für die deutsche Mediävistik besonders wichtigen Landesgeschichte flankieren und ergänzen die vier chronologisch angelegten Aufsätze: So hebt Stefan Weinfurter in seinem Beitrag über den Konstanzer Arbeitskreis im Spiegel seiner Tagungen die "methodische Wende" hervor, die sich Mitte der 1980er Jahre auf der Reichenau vollzogen habe: Ganz wesentlich sei es der "Außenseiter" František Graus gewesen, der das Gebäude einer quasi-objektiven mittelalterlichen Verfassungsgeschichte der Gründerväter (Theodor Mayer, Walter Schlesinger u.a.) mit ihren scheinbar unumstößlichen Kernbegriffen wie germanische Gefolgschaft und Treuebindung, Geblütsheiligkeit oder Sakralkönigtum Stein um Stein dekonstruiert und den Weg geöffnet habe für mentalitäts- und sozialgeschichtliche, später auch für kulturgeschichtliche Fragen, für eine Pluralisierung des Arbeitskreises und vor allem seiner Themen.
Auch in der Studie von Matthias Werner zu Wegen und Stationen landesgeschichtlicher Forschung spielen die Gründer-Figuren des Konstanzer Arbeitskreises und die von ihnen initiierte Ausformung einer nach dem Zusammenbruch der NS-Diktatur nunmehr "krisenfesten" (251: Theodor Mayer) Geschichtsschreibung vom Mittelalter eine zentrale Rolle. Der Bogen spannt sich hier von der Entstehung der Kulturraumforschung nach dem ersten Weltkrieg über deren Verstrickungen in der NS-Zeit, die lange Zeit erfolgreiche Fortschreibung der älteren Ansätze nach 1945 bis hin zur Pluralisierung der Landesgeschichte seit 1970. Den von dieser Pluralisierung möglicherweise ausgehenden Gefahren setzt Werner die thematische Offenheit und vor allem den vergleichenden Ansatz als die großen Stärken einer modernen Landesgeschichte entgegen.
Sieht man von den knappen, jedenfalls aber notwendigen und nützlichen Bemerkungen zur DDR-Geschichtsforschung ab, so gewinnt der Band seine spezifische Perspektivität durch vier weitere Beiträge, die die deutschsprachige Mediävistik im Austausch und im Widerspiel mit der gleichzeitigen Forschung in Frankreich, in Italien und den USA beleuchten.
So verweist Arnold Esch auf die lange Tradition des Interesses der deutschen Mediävisten an Italien. Dabei hätten frühere Gefühle des Überwältigtseins auf italienischer Seite in letzter Zeit nachgelassen, ja in Teilen seien sie der Verwunderung gewichen darüber, dass man sich nun in Italien etwa für Friedrich II. stärker interessiere als im Norden. Eine deutliche Asymmetrie zwischen italienischer und deutschsprachiger Mediävistik beim Interesse an der Geschichte des jeweils anderen dürfte unvermeidlich sein. Doch hält Esch dem eine verstärkte Praxis vergleichender Geschichtsforschung entgegen, wie sie etwa das Trienter Institut in Gang gesetzt hat.
Mit umgekehrtem Vorzeichen gälte die asymmetrische Konstellation natürlich auch für den Fall der USA - jedenfalls dann, wenn man sich dort für die "schwierige" Geschichte Mitteleuropas stärker interessieren würde. Patrick Geary zeichnet hier allerdings ein über weite Strecken ernüchterndes Bild. Dass die Präsenz deutschsprachiger Mediävistik in Form ihrer Publikationen, sei es in der Originalsprache oder in Übersetzung, bis heute in den USA minimal geblieben ist, erklärt Geary vor allem damit, dass man sich in Deutschland lange Zeit auf die "Sonderentwicklung des mittelalterlichen Deutschland konzentrierte" - "Fragen, die [...] den eigenen Interessen nicht entsprachen" (385). Vielmehr waren es die Nationalgeschichten Frankreichs und Englands, von denen man in den USA die eigene Nationalgeschichte ableitete, während potentiell gemeinsam interessierende Fragestellungen der Sozial- und Kulturgeschichte erst wesentlich später in den Blickpunkt der deutschen Forschung getreten seien.
Während die Beiträge von Esch und Geary ein eher zwiespältiges Bild entwerfen, scheint die Verklammerung der deutschen und französischen Mediävistik am weitesten gediehen zu sein, wie der instruktiv disponierte und mit vielen aufschlussreichen Zeugnissen belegte Beitrag von Werner Paravicini deutlich macht. Die Beziehungsgeschichte zwischen französischer und deutscher Mediävistik seit 1945 ist in den Worten Paravicinis über weite Strecken von gegenseitiger Bewunderung und Verachtung zugleich geprägt gewesen. Gründe für die lang anhaltende Ignoranz auf deutscher Seite etwa für die Anliegen der Annales-Schule lagen einmal in den unterschiedlichen Wissenschaftstraditionen, dazu aber vor allem in tiefer liegenden gegensätzlichen Zuschreibungen wissenschaftlicher Leitbilder: Gelehrtheit wurde gegen Rhetorik, Objektivität gegen Phantasie, Staat und Macht gegen Mensch und Gesellschaft gestellt - bis es in jüngster Zeit auf dem Weg über einzelne vermittelnde Personen und Institutionen und auch durch die parallele Rückkehr zu klassischen Themen zu einem Ausgleich und gar schon zum glücklichen Zustand einer gegenseitigen Bereicherung zu kommen scheint.
Als ein Beleg für diese These darf der brückenbauende Beitrag von Michel Parisse im selben Band gelesen werden. Dieser dokumentiert zum einen die durchaus begrenzte und keineswegs stabile Präsenz von Sprachkenntnissen, deutschsprachigen mediävistischen Publikationen und Themen deutscher Geschichte in Frankreich, zeigt andererseits aber auch laufende Forschungsaktivitäten zur deutschen Geschichte des Mittelalters in Frankreich und lädt deutsche Mediävisten nachdrücklich dazu ein, ihrerseits auch ihre Themen auf dem französischen Terrain zu suchen.
Abschließend sei nochmals der bleibende Gewinn hervorgehoben, den die Mittelalter-Forschung aus diesem Band der redlichen Selbstvergewisserung, des Resümees und streckenweise wohl auch der Selbstaufklärung führender Fachvertreter der Jahrhundertwende auf lange ziehen wird. Lücken, weitere Namen, andere Themen aufzuzählen wäre müßig, auch da solche Lücken unvermeidlich sind. Wenn für den Rezensenten eine wichtige Frage unbesprochen geblieben ist, dann ist es für ihn diejenige nach dem realen Grad der Integration der deutschsprachigen Mediävistik über die heute deutschsprachigen Staaten hinweg - und die nach der Verklammerung der deutschsprachigen Mediävistik mit derjenigen in den übrigen kleineren mitteleuropäischen Nachbarländern, die im Mittelalter zum größeren Reich gehörten. Eine großflächige Europäisierung der Forschung wird die gemeinsamen historischen Wurzeln dieses Raumes, aber auch die Folgen des später aufgebrochenen, lange nachwirkenden Trennungsdenkens nicht ignorieren können, wenn sie wirklich vorankommen will.
Joachim Schneider