Ralf Thies: Ethnograph des dunklen Berlin. Hans Ostwald und die "Großstadt-Dokumente" (1904-1908), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2006, 344 S., ISBN 978-3-412-30605-2, EUR 39,90
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Elizabeth Heineman: Before Porn was Legal. The Erotica Empire of Beate Uhse, Chicago: University of Chicago Press 2011
Philip Yale Nicholson: Geschichte der Arbeiterbewegung in den USA. Mit einem Vorwort von Michael Sommer, aus dem Amerikanischen von Michael Haupt, Berlin: vorwärts buch 2006
Michael Andre Förster: Kulturpolitik im Dienst der Legitimation. Oper, Theater und Volkslied als Mittel der Politik Kaiser Wilhelms II., Frankfurt a.M. [u.a.]: Peter Lang 2009
Die von dem Schriftsteller und Journalisten Hans Ostwald (1873-1940) zwischen 1904 und 1908 herausgegebene Reihe der "Großstadt-Dokumente" ist eines der ambitioniertesten und zugleich gelungensten Unternehmen, die moderne Großstadt zu beschreiben. Angestoßen durch die Industrialisierung und den Aufstieg von einer preußischen Provinz- zur deutschen Reichshauptstadt erlebte Berlin seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts ein explosives demografisches, wirtschaftliches und räumliches Wachstum. Dieser Umwälzungsprozess beeinflusste sowohl die materielle Lebensweise, als auch die Mentalität der Stadtbewohner, die sich an die veränderten Bedingungen anpassen mussten und dabei neue, urbane Lebensstile entwarfen. Dies spiegelt kaum eine historische Quelle so komplex und lebendig wider wie die "Großstadt-Dokumente", deren Autoren sich auf eine geradezu ethnografische Entdeckungsreise in das dunkle Herz des Asphaltdschungels begaben.
Trotzdem wurden sie nach ihrem Erscheinen rasch vergessen. Auch von Hans Ostwald ist heute kaum mehr als seine "Berliner Kultur- und Sittengeschichte" bekannt. Seine Wiederentdeckung ist weitgehend Peter Fritzsche zu verdanken, der im Rahmen seiner Recherchen für "Reading Berlin 1900" auf die Großstadt-Dokumente stieß. [1] Nun hat Ralf Thies mit der überarbeiteten Version seiner an der Humboldt Universität und dem Wissenschaftszentrum Berlin entstandenen Dissertation "Ethnograph des dunklen Berlin" die Biografie Ostwalds nachgezeichnet und gleichzeitig den historischen Hintergrund und den Entstehungszusammenhang der Großstadt-Dokumente erschlossen. Da diese ohne die Persönlichkeit und das Engagement des Herausgebers Ostwald weder zustande gekommen wären, noch zu verstehen sind, ist Thies Entscheidung für das biografische Genre sehr gut nachvollziehbar. Das Buch ist in drei Teile gegliedert, deren erster - "Der Reporter" - der Kindheit und Jugend Ostwalds und seiner frühen journalistischen Tätigkeit nachgeht, während im zweiten Teil die Großstadt-Dokumente im Mittelpunkt stehen und im dritten - "Der Urberliner" - Ostwalds Leben von der Zeit vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs bis zu seinem Tod.
Hans Ostwald wurde 1873 in ärmlichen Verhältnissen im proletarischen Norden Berlins geboren. Nach einer Lehre zum Goldschmied lernte er auf der Walz das Leben der Vagabunden und Landstreicher kennen. Von ihrer Lebensweise fasziniert, entschied er sich, diese über ein Jahr lang zu teilen. Die Erfahrung, plötzlich auf der niedrigsten Stufe der wilhelminischen Klassengesellschaft zu stehen, war Thies zufolge ein "Schlüsselerlebnis" (11), das Ostwalds weiteren Lebensweg prägte. Aus seinen Erlebnissen auf der Straße entstanden Schilderungen, die er, nach Berlin zurückgekehrt, an verschiedene Zeitungen sandte. Sie öffneten ihm zunächst die Türen der "Welt am Morgen", dann auch des "Vorwärts" und verschiedener anderer deutscher Zeitungen. Für diese schrieb Ostwald eine Reihe von Sozialreportagen, in denen er die Leser mit dem Elend der städtischen und ländlichen Unterschichten konfrontierte. Hatte er sich zuvor den Vagabunden angepasst, so bediente er sich nun der Kleidung und Sprache der Obdachlosen, Zuhälter und Landarbeiter, um als teilnehmender Beobachter über ihr Leben zu berichten. Thies zufolge war Ostwald durch seine "proletarische Herkunft und seinen unkonventionellen Werdegang" (108) darauf besser vorbereitet, als bürgerliche Journalisten und Schriftsteller.
Ostwalds Artikel über das moderne Berlin gipfelten schließlich 1904 in dem von ihm initiierten und konzipierten Projekt der Großstadt-Dokumente. Zunächst auf 20 Bände ausgelegt, erreichte die Reihe schließlich 51. Jeder Band besteht aus etwa 80 bis 120 Seiten, sodass die Dokumente insgesamt annähernd 5.000 Seiten zählen. Thies rekonstruiert sorgfältig den Entstehungskontext der Großstadt-Dokumente und analysiert das intellektuelle Netzwerk, welches das Herz des Unternehmens bildete. Beteiligt waren 40 Autoren (39 Männer und eine Frau), die entweder Schriftsteller und Journalisten oder Ärzte, Rechtsanwälte, Politiker, Verwaltungsexperten und Sozialarbeiter waren und die laut Thies sowohl ihre soziale Herkunft als auch ihre Stellung außerhalb des Establishments miteinander verband. Die Bandbreite der von ihnen bearbeiteten Themen lässt zunächst kaum auf einen gemeinsamen Nenner schließen: Der Theaterkritiker Julius Bab schrieb über die "Berliner Boheme", der Sexualwissenschaftler Magnus Hirschfeld über "Berlins Drittes Geschlecht", Albert Südekum - Sozialdemokrat und späterer Finanzminister - über "Großstädtisches Wohnungselend", und Ostwald selbst über "Dunkle Winkel", "Zuhältertum" und "Berliner Kaffeehäuser". Andere Themen waren Alkoholismus, Varieté, Banken, Sport und Strafrecht. Stand Berlin auch eindeutig im Vordergrund, so wurden Wien und Hamburg mit wenigen Bänden doch zumindest gestreift. Die Vielfalt und Unverbundenheit der Themen war beabsichtigt wie Thies zeigt. Ostwald, für den die moderne Großstadt nichts in sich Geschlossenes war, misstraute Großtheorien und geschlossenen Erzählungen, die den gegenteiligen Eindruck erweckten.
Gerade in ihrem fragmentarischen Charakter, der durch die Montage von Interviews und faksimilierten Dokumenten (Annoncen, Werbezetteln, Visitenkarten usw.) in den Text noch betont wurde, sieht Thies (wie zuvor schon Fritzsche) die Modernität der Großstadt-Dokumente. Was deren Autoren vereinte, war die neugierige Aufgeschlossenheit, mit der sie der Moderne und der Großstadt gegenübertraten. Obschon sie deren Schattenseiten beleuchteten, stimmten sie nicht in die so verbreiteten Jeremiaden von "Agrarromantik und Großstadtfeindschaft" (Klaus Bergmann) ein. Der Rezeption der Großstadt-Dokumente geht Thies in einem abschließenden Kapitel nach. War ihnen zunächst eine positive Resonanz bei einzelnen Wissenschaftlern und auch bei einer breiteren Öffentlichkeit beschieden, so fanden sie doch lange keine Aufnahme in die europäische Stadtsoziologie und Stadtethnologie, obschon sie sich als eine Art empirisches Gegenstück zu Georg Simmels berühmten Aufsatz über "Die Großstädte und das Geistesleben" lesen lassen. Rezipiert und als vorbildlich weiterempfohlen wurden sie aber - wie Thies zu zeigen vermag - jenseits des Atlantiks durch die Chicago School of Sociology (211 ff.).
Der dritte Teil des Buches behandelt Ostwalds Leben und journalistische Tätigkeit (aber auch das weitere Schicksal der anderen Autoren der Dokumente) nach dem Abschluss des Projekts im Jahr 1908. Ostwald wandte sich bald von dem eingeschlagenen Pfad ab und suchte neue Betätigungsfelder als Kulturhistoriker und im "Verein für soziale Kolonisation Deutschlands". Während des Ersten Weltkriegs war er in der Propagandaabteilung des Kriegsamtes tätig. 1919 trat er in die SPD ein, mit der er schon im Kaiserreich sympathisiert hatte. Die Hoffnung auf ein politisches Amt zerschlug sich jedoch bald, sodass Ostwald wieder ein Auskommen als freier Schriftsteller suchen musste. Als "lebender Anachronismus" (272) verlor er jedoch zunehmend den Kontakt zur Gegenwart. Seine "Sittengeschichte der Inflation", seine Bücher über den Berliner Humor und seinen Freund Heinrich Zille waren zwar beim Publikum erfolgreich und trugen ihm den Titel des "Urberliners" ein, stellen aber laut Thies kaum mehr als "Blaupausen für Klischees" (264) dar. Von den Großstadt-Dokumenten hingegen distanzierte sich Ostwald zunehmend. Noch 1932 gegen Hitler polemisierend, suchte er bald darauf die Nähe zum Nationalsozialismus, dem er sich durch das Landleben verherrlichende Erzählungen andienen wollte, was ihm letztlich jedoch nicht gelang. Ostwald starb 1940 - bankrott und weitgehend vergessen.
"Der Ethnograph des dunklen Berlin" ist uneingeschränkt zu empfehlen, besonders denjenigen Lesern, die sich für die Geschichte Berlins, die Erforschung von Metropolen, die Schattenseiten der Urbanisierung und den "Aufbruch in die Moderne" interessieren. Trotz des Verlusts von Ostwalds Nachlass, dessen Selbststilisierungen und den absichtlichen und versehentlichen Irrtümer derer, die über ihn schrieben, gelingt Thies die Rekonstruktion eines alles andere als geradlinigen Lebens. Dabei stützt er sich auf akribische Recherchen: die Auswertung hunderter, über zahlreiche Zeitungen verstreuter Veröffentlichungen und die über viele Nachlässe verteilten Briefe Ostwalds. Thies umschifft manche Gefahr, die das biografische Genre (zumal bei einer Dissertation) bereit hält und verliert über die Person und das Leben Ostwalds die sozial- und kulturgeschichtlichen Hintergründe nicht aus den Augen. Das Herzstück des Buches ist zweifellos der Teil über die Großstadt-Dokumente, der sich ideal als Einführung in diese überaus originelle Quellengattung lesen lässt, ohne dass dadurch jedoch der Rahmen einer Biografie gesprengt würde. Nicht zuletzt besticht der "Ethnograph des dunklen Berlin" auch durch seine anschauliche Sprache.
Anmerkung:
[1] Vgl. Peter Fritzsche: Reading Berlin 1900, Cambridge (Mass.) / London 1996; ders., Vagabond in the Fugitive City: Hans Ostwald, Imperial Berlin and the Grossstadt-Dokumente, in: Journal for Contemporary History 29 (1994), 385-402.
Tobias Becker