Holger Böning / Hans Wolf Jäger / Andrzej Katny (Hgg.): Danzig und der Ostseeraum. Sprache, Literatur, Publizistik (= Presse und Geschichte - Neue Beiträge; Bd. 16), Bremen: edition lumière 2005, 351 S., ISBN 978-3-934686-27-4, EUR 34,00
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Der Titel überzeugt. Danzig, über Jahrhunderte ein Zentrum von Kultur, Wirtschaft und Kommunikation im Ostseeraum, später im zwanzigsten Jahrhundert Brennpunkt nationaler Konflikte, als thematischen Schwerpunkt eines Sammelbandes zu wählen, ist sicherlich eine gute Entscheidung.
Der Band vereinigt zahlreiche Aufsätze in sich, die sich, von historischer und germanistischer Perspektive aus, der Rolle Danzigs und in erweitertem Blick auch der des Ostseeraumes im Zusammenlaufen deutscher, polnischer aber auch jüdischer und estnischer Kultur widmen. Da er das Ergebnis eines Symposiums ist, das anlässlich der partnerschaftlichen Verbindung der germanistischen Institute in Danzig/Gdańsk und Bremen gehalten wurde, liegt der Schwerpunkt auf sprachlicher Kultur. Die Texte sind von unterschiedlicher Thematik. Die ältesten Stadtbeschreibungen Danzigs (Monika Unzeitig) finden ebenso Berücksichtigung wie die ältesten in Danzig herausgegebenen deutsch-polnischen phraseologischen Wörterbücher (Andrzej Kąty), die Darstellung des Völkerbundes in der Danziger Presse der 1920er Jahre (Jan Sikora) oder die Rolle und Schiffsuntergängen - vor allen Dingen die der Wilhelm Gustloff in der deutschen und polnischen Literatur (Marek Jaroszewski, Wolfgang Emmerich).
Der thematischen Vielfalt entsprechend ist auch die Qualität der Beiträge ausgesprochen unterschiedlich. Überzeugen kann zum Beispiel der Aufsatz von Armin Hetzer über die estnischen Predigten von Georg Müller (1575-1608). Es gelingt dem Autor, die Mittlerrolle der evangelischen Pastoren im Baltikum zwischen "deutschsprachigen Freien und den undeutschen Leibeigenen" (67) herauszuarbeiten. Er kann durch sprachliche und grammatikalische Analysen nachweisen, dass der Revaler/Tallinner Pastor sich in seinen Predigten ganz bewusst eines Halbestnischen bediente, um das Ohr der städtischen Arbeiter und Dienstleute zu erreichen, die in ihrer Sozialstellung zwischen deutschen Bürgern und Adligen sowie den estnischen Bauern eine mittlere Position einnahmen.
Den Wandel von einer Aufklärung, die sich auf einen Kreis einiger weniger Gelehrter beschränkte, hin zu einer Volksaufklärung darzustellen, schafft Holger Böning, indem er die beiden Danziger Aufklärer Michael Christoph Hanow und dessen Neffen Johann Daniel Tietz in ihrer Biographie als Vertreter zweier verschiedener Generationen von Aufklärern und ihren publizistischen Leistungen miteinander vergleicht. Beide begründen zahlreiche Zeitschriften. Der Autor erwähnt richtig die "Nützlichen Danziger Erfahrungen" Hanows, doch ist dieses Blatt keine naturkundliche Zeitschrift, sondern von Anfang an ein Intelligenzblatt, in welchem zweifelsohne zunächst der gelehrte Teil überwiegt. Bereits seit den 1750er Jahren beginnt jedoch der Anzeigenteil deutlich zu überwiegen. Der naturkundliche Teil wird kürzer, verflacht thematisch, bis er schließlich seit den 1770er Jahren mit dem Wechsel des Herausgebers überwiegend unterhaltenden, teils volksaufklärerischen Charakter annimmt. Zu fragen wäre, ob nicht dem Intelligenzblatt von Johann Daniel Tietz in Wittenberg letztlich das gleiche Schicksal ereilte, die "Gewinnsucht" also doch zu einer Neukonzeption zwang. Eine Vergrößerung der Auflage und damit eine Ausweitung des Leserkreises führte in Danzig jedenfalls zum Absinken des wissenschaftlichen Niveaus - vielleicht ein Automatismus?
Eine Gesamtdarstellung der Danziger Presse im 18. Jahrhundert bleibt ein Desiderat. Małgorzata Wittenberg gelingt es lediglich, den bisherigen Forschungsstand zur Danziger Pressegeschichte zusammenzufassen, wobei ihr jedoch einige Ungenauigkeiten unterlaufen. Dass der Stadtrat in Danzig mit der Entwicklung der Danziger Presse um 1618 "von Anfang an das Zensurrecht behielt", ist sicherlich keine Besonderheit Danzigs; dies war in Hamburg nicht anders. Dies ist auch der Grund, weshalb in den Danziger Zeitungen kaum Meldungen aus Danzig selbst enthalten waren. Wollte ein Danziger etwas über die Ereignisse in seiner Stadt wissen, musste er entweder auf handgeschriebene Zeitungen zurückgreifen (Rubachs Dantziger monathliche Sammlung - 1772-1792 und andere zum Teil nicht mehr erhaltene frühere Blätter), oder er musste auswärtige Zeitungen wie den "Hamburger Unpartheischen Correspondenten" lesen, der von Zeit zu Zeit aus Danzig berichtete. Regelmäßig inserierten Lesewillige im Danziger Intelligenzblatt, um einen Lesezirkel für eine der großen auswärtigen Zeitungen zu gründen. Das Danziger Intelligenzblatt unterlag übrigens keinem Bezugszwang und gerade hierin scheint der Erfolg und der Grund für die wachsende Auflage zu liegen. Der Abonnementzwang wurde erst 1793 eingeführt, als die Stadt unter preußische Herrschaft kam.
Jan Sikora gelingt es in seinem Beitrag zur Darstellung des Völkerbundes in der Danziger Presse von germanistischer Weise, die sprachlichen Mittel herauszuarbeiten, mit denen versucht wurde, Wesen und Wirken des Völkerbundes zu diskreditieren. Seine historischen Verweise und Kommentare bleiben jedoch unpräzise. Dass der Völkerbund, "der zum Schutz der Stadt berufen wurde", in Danziger Zeitungen kritisch betrachtet wurde, muss nicht zwangsläufig ein Paradoxon sein. Der Völkerbund war ohne die Mitgliedschaft der USA, der Sowjetunion und bis 1926 Deutschlands ein Instrument französischer Hegemoniebestrebungen und das Konstrukt der "Freien Stadt Danzig" eine englische Kompromisslösung, die letztlich weder die deutsche noch die polnische Seite zufrieden stellte.
Während der Aufsatz von Marek Jaroszewski zum Untergang der Wilhelm Gustloff bei Günther Grass und Tanja Dückers im Wesentlichen bei einer vergleichenden Beschreibung stehen bleibt, weitet Wolfgang Emmerich den Blick auf die sich in der deutschen und polnischen Literatur widerspiegelnde Erinnerungskultur. Der Autor kann erstens nachweisen, dass die Thematisierung der deutschen Opfer infolge des Zweiten Weltkriegs eine lange Zeit und weit verbreitetes Tabu der deutschen Intellektuellen war. Zweitens gelingt es ihm mit Rückgriff auf Uwe Johnson und Walter Kempowski die weit verbreitete Fehleinschätzung zu zerstreuen, Günther Grass habe sich als erster deutscher Schriftsteller dieses Themas angenommen. Dabei scheint Stefan Chwins Roman "Tod in Danzig" gleichsam einen Schritt weiterzugehen als Grass' "Im Krebsgang". Stefan Chwin weist in eine europäische Zukunft, indem er nach der Vertreibung der Deutschen im nicht mehr deutschen Danzig, sondern im polnischen Gdańsk eine neue europäische Gemeinschaft heranwachsen lässt; aus Polen, Ukrainern, Sinti, Juden und Deutschen - als Hausgemeinschaft im Wohnhaus des Protagonisten Hannemann.
Nicht alle Beiträge konnten in dieser Rezension berücksichtigt werden, doch lässt sich abschließend folgendes sagen: Auch wenn einzelne Texte einen stark deskriptiven Charakter haben und einer übergreifenden Fragestellung entbehren, enthält der Band doch zahlreiche Aufsätze, die die Rolle Danzigs in der sprachlichen Kultur des Ostseeraums über das bisher Bekannte hinaus beleuchten. Der Titel überzeugt. Inhaltlich lässt sich sicherlich noch einiges hinzufügen und methodisch fruchtbringender bearbeiten.
Ansgar Haller