Holger Böning / Hanno Schmitt / Reinhart Siegert (Hgg.): Volksaufklärung. Eine praktische Reformbewegung des 18. und 19. Jahrhunderts (= Presse und Geschichte - Neue Beiträge; Bd. 27), Bremen: edition lumière 2007, 463 S., ISBN 978-3-934686-44-1, EUR 34,00
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Der vorliegende Band enthält Ergebnisse einer gleichnamigen Tagung aus dem Jahr 2006, [1] die durch weitere Beiträge ergänzt wurden. Der Ort der Tagung war Schloss Reckahn im heutigen Landkreis Potsdam-Mittelmark, bekannt für die aufklärerisch motivierten, reformpädagogischen Aktivitäten Friedrich Eberhards von Rochow. Mit "Volksaufklärung" wählen die besonders in der Aufklärungsforschung ausgewiesenen Herausgeber eine historische Selbstbezeichnung als Titel. Die Begrifflichkeit wird in der Einleitung knapp aufgegriffen (9); der Beitrag von Thomas S. Kuhn (96) erläutert die erste Nennung des Wortes im 1782 erschienenen Werk "Ueber die Aufklärung des Landvolks" des Dessauer Pfarrers Bernhard Siegfried Walther (1759-1826). Hier wirkt sich möglicherweise das Untersuchungsgebiet auf die Darstellung der Forschungsergebnisse aus. Denn die frühesten Forschungen zur Geschichte der "Volksaufklärung" liegen in der "permanenten Selbstbeobachtung der Volksaufklärer" selbst (7). Die Einleitung kann somit nicht rein gegenstandsbezogen die Dimensionen des Bandes ausloten, sondern muss die forschungsgeschichtliche Dimension des Themas reflektieren. Dennoch handelt es sich bei dem Titelbegriff um eine Vokabel, die im heutigen Sprachgebrauch sehr unterschiedliche Wertungen transportieren kann, wie jede freie Internetrecherche zeigen kann; vor allem aber erlaubt es die Suchmaske der "Retrospektive[n] Digitalisierung wissenschaftlicher Rezensionsorgane und Literaturzeitschriften des 18. und 19. Jahrhunderts aus dem deutschen Sprachraum" [2], die semantischen Kämpfe um den Begriff "Volksaufklärung" im Pressewesen der Aufklärungszeit nachzuvollziehen. Somit stellt sich unweigerlich die Frage, inwieweit das Quellenwort als Titel Quellenimmanenz als Programmatik des Bandes wiedergeben sollte.
Der durch ein Personen- und Sachregister erschlossene Band ordnet die 19 Beiträge in die fünf Abschnitte "Grundsätzliches", "Einzelpersönlichkeiten", "Medizin, Gesundheit und Volksaufklärung", "Regionalstudien" und "Zielgruppen, Medien und Vermittlungswege" ein. Die Beiträge sind unterschiedlich ausgearbeitet, darunter sowohl Berichte aus laufenden Forschungsarbeiten als auch Ergebnisse umfassender Projekte wie der Bericht Hans Adlers über die von ihm herausgegebenen Antworten auf die "Preisfrage der Preußischen Akademie der Wissenschaften für 1780" (51-72). Im Folgenden wird ein Artikel je Sektion vorgestellt, um die Breite des insgesamt behandelten Feldes zu umreißen.
Holger Bönings Beitrag "Entgrenzte Aufklärung - Die Entwicklung der Volksaufklärung von der ökonomischen Reform- zur Emanzipationsbewegung" präsentiert aufklärerische Texte, um den Wandel der mit ihnen verfolgten Ziele mentalitätengeschichtlich zu deuten (49). Böning argumentiert für eine kontinuierliche Popularisierung von Aufklärung von der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts bis um 1848 (16), die eine "Strukturveränderung der Öffentlichkeit" (43) auslöste. Böning stellt quellengesättigt dar, dass auch solche ökonomische Schriften über politisch-emanzipatives Potential verfügten, die sich in den Dienst von scheinbar unpolitischen Kategorien wie 'Nützlichkeit' stellten.
Der Beitrag von Jochen Krenz untersucht die Dimensionen katholischer Aufklärung in publizistischen Stellungnahmen aus den unter Fürstbischof Franz Ludwig Erthal in Personalunion vereinigten Hochstiften Würzburg und Bamberg, die Erthal von 1779 bis zu seinem Tode 1795 regierte. Dabei treten Parallelen zwischen der katholischen und protestantischen Publizistik hervor, was vor dem Hintergrund der älteren, häufig auch konfessionell polarisierenden Forschung überrascht (267). Krenz analysiert Absatzgebiete, behandelte Themen und Reaktionen (Gegendarstellungen, Leserbriefe), so dass Konturen einer intensiven Vernetzung Frankens mit anderen Regionen erkennbar werden. Diese Tendenzen der katholischen Aufklärung blieben jedoch Gegenstand gegenaufklärerischer katholischer Kritik (291).
Sabine Todt stellt Texte aus dem sexualpädagogischen Bereich der Volksaufklärung vor, um daran die "Bedeutung des Anti-Onanie-Diskurses für die Volksaufklärung" aufzuzeigen. Das verbreitete Normkonzept von Sexualität im individuellen Menschenleben war auf Reproduktion ausgerichtet. In davon abweichenden Formen sah man den Fortbestand der Gesellschaft gefährdet. Todt arbeitet an den vorgestellten Texten mehrerer um die Mitte des 18. Jahrhunderts geborener Aufklärer (sowie Hermann Klenckes, Herausgeber des 1865 zuerst erschienenen "Hauslexikon[s] der Gesundheitslehre für Leib und Seele") eine diskursiv vorgeprägte ablehnende Haltung zur Onanie heraus. Aus diesem Befund leitet sie körper-, männlichkeits- und ehegeschichtliche Schlussfolgerungen ab. Die ausführlichen Textauszüge spiegeln eine Gefahrenwahrnehmung, die meist auch - über die von Todt behandelte Onanie hinaus - auf gleichgeschlechtliche sexuelle Aktivitäten der Knaben abzuheben scheint (246).
Der Beitrag von Michael Niedermeier ("Die aufgeklärte Hausmutter in allen ihren Geschäfften". Die ökonomischen Wurzeln der Hausmütterliteratur und Aspekte ihres vormodernen Emanzipationspotentials, 367-390) beschäftigt sich mit der Rolle der "Hausmutter" in der europäischen Ökonomietradition und in Christian Friedrich Germershausens "Hausmutter in allen ihren Geschäfften". Diese Enzyklopädie vermittelte alltagstaugliche Kenntnisse im Rechnungswesen und in naturwissenschaftlichen Fragen, etwa der Gartenfruchtverarbeitung (372). Niedermeier stellt in seinem begriffsgeschichtlich besonders differenzierten Beitrag neben die männliche Perspektive Germershausens auch die weibliche der Christine Dorothea Gürnths (Werkbibliographie 388f.); Schriften wie "Unterhaltungen für denkenden [sic!] Hausmütter über allerley Gegenstände der weiblichen Oekonomie" (380) zeigen das emanzipatorische Potenzial der ökonomischen Reflexion an.
Für eine exemplarische Einführung in aktuelle Ansätze der Forschung zur Volksaufklärung eignet sich dieser Band sehr gut, denn alle Beiträge argumentieren angenehm anschaulich und quellennah. Insofern profitiert der Band von den umfassenden Quellenerschließungsprojekten, die durch eine Datenbank mit Standortnachweisen und Inhaltserschließung ergänzt werden sollen (10). Die Erschließung der volksaufklärerischen Publizistik schreitet - ganz aufklärerisch - immer weiter fort.
Wünschenswert wäre daher eine quellenkundliche Übersicht über typische Gattungen gewesen. Auch eine Systematisierung der häufig auftauchenden Problemkreise Öffentlichkeit, Modernisierung, Emanzipation und die sozialen Differenzierungen des Zielpublikums hätten - in einer ausführlicheren Einleitung systematisch abgehandelt - dem Leser eine Hilfe sein können. Der Band lässt eher den einzelnen Autoren explorativen Freiraum, was manche Leser vor die Schwierigkeit stellen wird, den Diskussionsstand der Aufklärungsforschung in Interpretationen von streckenweise recht 'vertraut' wirkenden Quellen zu erfassen. Auch erscheint die Begrifflichkeit "Volksaufklärung" vor dem Hintergrund der Beiträge absolut historisierungsbedürftig, weil damit das Selbstverständnis einer "Bürgerbewegung", die sich "für eine allgemeine Volksbildung" einsetzte, vielleicht zu stark vereinheitlicht wird. Jedoch schließt der Band an andere Ansätze zur Aufklärungsforschung gut an, [3] so dass hier der Schwerpunkt eher auf interessanten Einzelaspekten im überraschend vielschichtigen Themengebiet liegt.
Anmerkungen:
[1] Siehe auch den Tagungsbericht von Holger Böning: Volksaufklärung - eine praktische Reformbewegung des 18. und 19. Jahrhunderts, 06.10.2006-07.10.2006, Schloss Reckahn, in: H-Soz-u-Kult, 19.10.2006, http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=1337 (1.3.2009).
[2] Siehe http://www.ub.uni-bielefeld.de/diglib/aufklaerung/index.htm (1.3.2009).
[3] Vgl. dazu die Arbeit eines Herausgebers Holger Böning: Periodische Presse, Kommunikation und Aufklärung. Hamburg und Altona als Beispiel, Bremen 2002.
Christian Kuhn