Helga Haftendorn: Deutsche Außenpolitik zwischen Selbstbeschränkung und Selbstbehauptung. 1945-2000, München: DVA 2001, 536 S., ISBN 978-3-421-05219-3, EUR 29,80
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Gesamtdarstellungen zur deutschen Außenpolitik nach 1945 sind rar. Im Spektrum der wissenschaftlichen Interessen, denen sich Historikerinnen und Historiker deutscher Hochschulen ausweislich ihrer Publikationen widmen, erscheinen außenpolitische Themen nunmehr marginal. Mochte einst die Vorstellung vom "Primat der Außenpolitik" übertrieben dominant wirken, so scheint heutige Generationen eher eine Allergie gegenüber Außenpolitik zu bestimmen. So bleibt das Feld den zeithistorisch versierten Politologen, die auch in den einschlägigen Institutionen wie der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik dominieren. Helga Haftendorn zählt zu diesem Kreis. Sie hat über die Jahrzehnte zahlreiche Beiträge zur bundesdeutschen Außenpolitik sowie Deutschlands Position in den internationalen Beziehungen vorgelegt hat. So wirkt es nur folgerichtig, diese Kenntnisse in einer Zusammenschau der Jahrzehnte zwischen Weltkriegsende und Jahrtausendwende auf 450 Druckseiten gebündelt vorzulegen. Der Zwang zur Kürze und zur Verdichtung muss nicht von Nachteil sein, denn er bietet die Chance, pointiert zu beleuchten und eigene Akzente zu formulieren. Haftendorn nutzt diese Option in unterschiedlicher Stärke. Ihre Darstellung offeriert insgesamt eine Mischung aus ereignisgeschichtlich orientierten, detailpräzisen Skizzen und größeren, aus den langwährenden Forschungsinteressen der Autorin abgeleiteten Interpretationslinien.
Haftendorns demonstratives Eingangstatement "Im Anfang waren die Alliierten - und nicht Adenauer, wie die deutsche Zeitgeschichtsschreibung bis heute behauptet" (17) klingt, ohne dass dies expliziert wird, als Grundakkord bis 1990 durch. Denn die Alliierten, namentlich die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion, waren bekanntlich nicht nur am Anfang, sie waren auch am Ende und in der Zwischenzeit eine stets dominierend wirkende Resonanz- und Referenzfläche.
Haftendorn gliedert ihre Darstellung in zehn Kapitel, von denen die ersten drei in trockener Prosa die Entwicklung bis zum Ende der sechziger Jahre zusammenfassen. Die prägende Formel "Souveränität durch Souveränitätsverzicht" für die unmittelbaren Nachkriegsdekaden ist geläufig. Haftendorn skizziert in diesem Sinn, wie der so lange dominierende erste Bundeskanzler das Wechselverhältnis zwischen (west-)deutscher Retablierung und (west-)europäischer Einigung betrieb. Die Entwicklungsstufen des europäischen Einigungsprozesses werden ebenso wie die Reperkussionen des Kalten Krieges in Handbuchmanier protokolliert. Eher schemenhaft bleiben demgegenüber die innenpolitischen Kontroversen um die Westbindungspolitik mit ihren für viele Deutsche provozierend wirkenden nationalen und historisch-mentalen Implikationen.
Ein Kapitel widmet die Autorin der "DDR als zweiter deutscher Staat". Trotz aller vermeintlichen Eigenständigkeit, die ihren Höhepunkt in Honeckers Bonn-Visite von 1987 fand, ist nicht erst rückblickend deutlich, dass die DDR stets ein abgeleiteter Staat des sowjetischen Hegemonialverbundes war, keine genuine Entität aus innerer Legitimität. Wie sehr die Existenz der DDR von der Sowjetunion abhing, hatte Leonid Breschnew dem Genossen Erich Honecker schon 1970 klargemacht: "Wir haben Truppen bei Euch, Erich. Ich sage Dir ganz offen, vergiss es nie: Die DDR kann ohne uns, die SU, ihre Macht und Stärke, nicht existieren. Ohne uns gibt es keine DDR." (159)
In weiteren Großabschnitten charakterisiert Haftendorn die Ost- und Entspannungspolitik, den Nato-Doppelbeschluss, die deutsche Ausdehnung in der Weltwirtschaft sowie die Entwicklung zur Europäischen Union bis zur Osterweiterung. Haftendorn betont wiederholt, wie sich die deutsche Außenpolitik durch Frankreich und die Vereinigten Staaten, jenseits aller Notwendigkeiten zur übergreifenden Verteidigungsgemeinsamkeit gegenüber dem Sowjetreich, regelmäßig zur unentscheidbaren Option für die eine Macht auf Kosten der anderen gedrängt sah.
Zwei abschließende Kapitel behandeln schließlich die deutsche Vereinigung von 1989/90 als "Glücksfall der Geschichte" sowie die neuen "Herausforderungen nach dem Ende des Ost-West-Konflikts". Der Abschnitt zu den elf Monaten zwischen Mauerfall und Vereinigung ist bezeichnenderweise umfangreicher als das Kapitel über die DDR als zweiter deutscher Staat. Der Vereinigungslauf der beiden deutschen Staaten wirkt rückblickend wie ein Augenzwinkern der Weltgeschichte, eine kurze, dynamische Trance. Heute scheint leichthin vergessen, dass die Sowjetunion seinerzeit das Potential besaß, auch alternative machtpolitische Wege zu gehen, auf die sie - für eine Hegemonialmacht historisch bemerkenswert - verzichtete. Hätte die sowjetische Führung, statt Gorbatschows Weg der Freilassung seiner Vorfeldstaaten zu folgen, die militärische Option fortgesetzter Hegemonialherrschaft gewählt, wäre das vom Westen nur um den Preis eines Krieges mit drohender Selbstvernichtung aufzuhalten gewesen. Weil aber den heißen Krieg niemand wollte, hätte man den kalten fortsetzen müssen. Der Westen sähe sich heute womöglich einem eurasischen Nordkorea oder einem rohstoffgemästeten russischen Hegemon gegenüber. Beide Gedankenspiele verdeutlichen die Besonderheit der sowjetischen Selbstaufgabe und ihre Bedeutung für Option der deutschen Vereinigung. Mit Recht betont Haftendorn zudem, dass auch die im Vereinigungsprozess so elementaren Vereinigten Staaten kaum jene Freiräume für die Unterstützung Deutschlands gehabt haben würden, wäre die Kuwait-Krise ein halbes Jahr früher aufgetreten. Die Vorbehalte des französischen Präsidenten Mitterrand und die Vorurteile Margaret Thatchers sind hinlänglich bekannt. Noch 2002 schrieb Thatcher, dass sie Deutschland nicht als "just another country" betrachten könne, dessen Zukunft allein die Deutschen entscheiden sollten.
Vorbehalte dieser Art beeinflussten die deutsche Außenpolitik auch nach dem Ende des Ost-West-Konflikts. "Die Wahrnehmung des vereinten Deutschland als eine einflussreiche und ambitionierte, möglicherweise aber unberechenbare Macht mochte nicht den Tatsachen entsprechen, wurde aber durch diese Vorstellungen zu einer Realität, auf welche die deutsche Politik reagieren musste. Die Bundesregierung tat dies mit der Beschwörung politischer Kontinuität." (388)
Mit den Jahren der Gewöhnung an das vereinigte Deutschland verwandelten sich die Befürchtungen in Erwartungen, in deren Verlauf internationale Einsätze der Bundeswehr zu aktiven Instrumenten der deutschen Außenpolitik mutierten.
In der Konsequenz des Wandels sieht Haftendorn Deutschland resümierend als "Mitführungsmacht", das mit seinen wichtigsten Verbündeten die Initiative ergreifen müsse, "um das 'Projekt Europa' voranzubringen und schließlich zu vollenden" (445). So sympathisch, vernünftig und im Kern überzeugend diese Formulierung erscheinen mag, so schwer ist doch zu erkennen, was die "Vollendung" des "Projekts Europa" konkret bedeutet. Zielt sie auf eine integrierte Form von mehr als zwanzig vereinigten Staaten? Die Erfahrungen der vergangenen Jahre zeigten ernüchternd die praktischen Hindernisse eines Projekts mit derart zahlreichen divergierenden Nationalinteressen. Oder ist das Projekt ein Europa der zwei Geschwindigkeiten? Welche Staaten sollten sich in einer derart gespaltenen Union organisieren, wer sollte führen? Oder ist das Projekt nur eine riesige Freihandelszone, wie sie die Briten wünschen? Und wer sind die "wichtigsten Verbündeten"? Diese Fragen der Gegenwart mögen andeuten, dass sich die Optionen des europäischen Projekts seit der Jahrtausendwende weitaus diffiziler und hindernisreicher ausnehmen als dies in der Dekade unmittelbar nach dem Ende des Kalten Krieges erscheinen mochte. Dass es im deutschen Interesse liegt, das "Projekt Europa" voranzubringen, ist unbestritten. Welche Form es in zehn Jahren haben wird, ist derzeit offen.
Eher beiläufig verweist Haftendorn auf die Bedeutung von Alltagspraxis und Symbolik außenpolitischen Handelns: "Zum Instrumentarium der Außenpolitik gehört eine Vielfalt an symbolischen Akten, die von 'Männerfreundschaften' über private Einladungen bis zu Gesten der Versöhnung reichen. Nur die Akteure ändern sich. Jede Politikergeneration muss das Instrumentarium neu erlernen" (389). Haftendorns Bemerkungen sind das Desiderat einschlägiger Untersuchungen. Für eine umfassende Geschichte der deutschen Außenpolitik nach 1945 wäre es auch notwendig, die ideologischen, gesellschaftlichen und strukturellen Perspektiven des "langen Weges nach Westen" ausführlicher zu porträtieren als dies im knappen Rahmen von Haftendorns Überblick möglich erscheint. Haftendorns Buch bietet mit seinen gründlichen Skizzen somit insgesamt eine wichtige Zusammenschau zu einem Forschungsfeld, dem deutlich mehr übergreifende geschichtswissenschaftliche Beachtung dringend zu wünschen wäre.
Magnus Brechtken