Astrid Blome / Holger Böning (Hgg.): Presse und Geschichte. Leistungen und Perspektiven der historischen Presseforschung (= Presse und Geschichte - Neue Beiträge; Bd. 36), Bremen: edition lumière 2008, 467 S., ISBN 978-3-934686-58-8, EUR 44,80
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Volker Bauer / Holger Böning (Hgg.): Die Entstehung des Zeitungswesens im 17. Jahrhundert. Ein neues Medium und seine Folgen für das Kommunikationssystem der Frühen Neuzeit, Bremen: edition lumière 2011
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Werner Greiling / Holger Böning / Uwe Schirmer (Hgg.): Luther als Vorkämpfer? Reformation, Volksaufklärung und Erinnerungskultur um 1800, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2016
Seit fünfzig Jahren besteht an der Universität Bremen das "Institut für Deutsche Presseforschung". Es hat die Aufgabe, die Frühphase der periodischen Presse im 17. und 18. Jahrhundert zu erforschen und den über ganz Europa verstreuten Quellenbestand hinterlassener Zeitungsexemplare aufzuspüren und soweit möglich in Kopien (Mikrofilm, Fotokopie, seit jüngstem auch Digitalisat) für die Forschung bereitzustellen. Methodisch ist es hier Prinzip, von der Empirie zur Theorie zu schreiten: Die Autopsie der frühmodernen Hinterlassenschaften steht im Vordergrund allen Denkens, mit wohlwollendem Lächeln betrachten die Bremer Kollegen diejenigen unter den heutigen Medien- und Kommunikationswissenschaftlern, die zwar in der Lage sind, hochtheoretische und hübsch anzuschauende semantische Wolkenschlösser zu errichten, aber vor einer handgeschriebenen Zeitung der Barockzeit oder einem Druck in Frakturschrift ins Schwitzen geraten. Das Jubiläum war Grund genug für die gegenwärtig Verantwortlichen, eine Tagung mit dem Ziel einer Bestandsaufnahme und eines perspektivreichen Blickes auf die weitere Arbeit zu veranstalten. Das Kolloquium fand im November 2007 in Bremen statt, der Sammelband vereinigt 24 Beiträge.
Zu Beginn gibt Holger Böning als der gegenwärtige Direktor des Instituts einen Überblick über die Institutsgeschichte. Er betont dabei die Singularität der Einrichtung insbesondere für die Erforschung des frühen Zeitungswesens in der vornapoleonischen Zeit. Martin Welke untersucht, auf welche Weise die frühen Zeitungen in Straßburg und Wolfenbüttel ihre Informationen bezogen, und stellt anhand archivalischer Quellen fest, dass die wichtigsten Nachrichtenzentren für geschriebene Zeitungen Köln und Augsburg waren. Johannes Weber fasst die Zeitungsforschung für das 17. Jahrhundert zusammen und bekräftigt die Rolle der periodischen Medien als Voraussetzung für Aufklärung: Ohne den stetigen Strom an politischen Informationen hätte es kein Räsonnement geben können. Brendan Dooley untersucht das internationale Zusammenspiel bei der Herausbildung des europäischen Medienraumes. Dabei betont er, dass vor den Augen der Leserschaft eine "Gleichzeitigkeit" der Informationsvermittlung hergestellt wurde, die die Kommunikationsdauer vom Ereignis bis zum Leseakt verdichtete. Jörg Jochen Berns rekurriert auf seinen früheren Beitrag zur "Partheylichkeit" in der periodischen Presse und ergänzt dazu, dass der Begriff des 17. Jahrhunderts heute etwas anderes bedeutet, weil die Parteilichkeit des Informanten und die Parteilichkeit der Obrigkeit durch Professionalisierung der Nachrichtenübermittlung sowie durch demokratische Gesellschaften geschwunden sind. Daniel Bellingradt konstatiert zwar, dass es etliche Einzelstudien zur "Flugpublizistik" (Flugblätter und Flugschriften) gibt, nicht aber ein Gesamtkonzept ihrer mediengeschichtlichen Bedeutung. Klaus-Dieter Herbst stellt einen Prozess der Professionalisierung in der Herstellung von Kalendern im Laufe des 17. Jahrhunderts fest, was mit frühaufklärerischen Aussagen einherging - bereits bevor sich die Zeitschriften dieser Diktion annahmen. Esther-Beate Körber charakterisiert die Zeitungsextrakte als eine eigenständige Funktionsgruppe von periodischen Medien, die ihrem Anspruch nach Nachrichten eines bestimmten Zeitabschnitts aufbereiten wollten, ohne durch Räsonnement des Herausgebers die Leserschaft zu beeinflussen. Holger Böning betont die aufklärungsfördernde Rolle der Zeitungen. Nach übereinstimmender Ansicht von Produzenten, Gelehrten und Lesern sollten sie aktuelles Wissen über das Tagesgeschehen verbreiten, und dadurch schufen sie die Voraussetzung für räsonnierende Diskurse. Astrid Blome widerlegt das Vorurteil, Lokalnachrichten seien in frühmodernen Periodika durch die Zensur unterdrückt worden, und stellt stattdessen die reiche Vielfalt der Intelligenzblätter im Alten Reich vor. Reinhart Siegert behandelt die systematische Erschließung früher illiterater Leserschichten im Zuge der Volksaufklärung im späteren 18. Jahrhundert, wobei er sorgfältig zwischen empirischen Befunden und Zuschreibungen durch bildungsbürgerliche Beobachter unterscheidet.
Einen regionalgeschichtlichen Zugriff nimmt Werner Greiling vor, indem er das Weimar des Sturm und Drang als Medienlandschaft untersucht. Offen bleibt allerdings beim starken Bezug auf das ernestinische Sachsen, ob nicht erst die Nähe zum kurfürstlichen Sachsen, insbesondere zu Leipzig, diese (gemeinsame) Druckmedienblüte herbeigeführt hat. Hans Wolf Jäger untersucht den Literaten und Journalisten Gustav Freytag hinsichtlich seines Selbstverständnisses als Liberaler, der nicht nur das Zeitgeschehen kommentierte, sondern auch als Historiker des Journalismus in Erscheinung trat. Michael Nagel schlägt den Bogen der historischen jüdischen Presse von den aufklärerischen Anfängen bis zum "Jüdischen Nachrichtenblatt", das die Nationalsozialisten verordnet hatten. Susanne Marten-Finnis knüpft daran an, indem sie jiddisch-sprachige Periodika von den 1890er Jahren bis zum Zweiten Weltkrieg analysiert, vom Jiddischen der osteuropäischen Juden ausgehend. Sie betont die erzwungene Mobilität sowohl der Produzenten als auch der Rezipienten in der feindseligen Umwelt Mittel- und Osteuropas. Kurt Nemitz umreißt das Verhältnis von Regierung und Presse im demokratischen Verfassungsstaat. Er konstatiert die Gleichzeitigkeit von offizieller Beteuerung der Pressefreiheit und massiver Beeinflussung von Verlegern und Redakteuren, die seit dem 18. Jahrhundert das Bild bestimmt, sieht man von Pressediktaturen bonapartistischer, sozialistischer oder nationalsozialistischer Prägung mit ihren noch schlimmeren Praktiken ab. Arnulf Kutsch geht der Frage nach, auf welche Weise sich der Berufsstand der Journalisten professionalisierte. Wichtige Schritte in dieser Hinsicht fanden um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert statt, zentrale Ziele wie ein Zeugnisverweigerungsrecht vor Gericht konnten jedoch nicht erlangt werden, insbesondere wegen parteipolitischer Zerwürfnisse innerhalb der Journalistenschaft. Bernd Sösemann stellt für das Zeitungswesen während der NS-Zeit fest, dass ein stark vorhandener vorauseilender Gehorsam von Verlegern und Journalistenorganisationen die Gleichschaltung in beträchtlichem Maße erleichterte, während Goebbels' Medienpolitik zu Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft Kohärenzprobleme aufwies und später in eine Medienpolykratie einmündete. Hélène Roussel erörtert Möglichkeiten, die deutsche Exilpresse zur Zeit des "Dritten Reichs" zu untersuchen, was seit den späten 1960er Jahren durch Neudrucke gefördert, aber wohl erst mit Hilfe größerer Digitalisierungsprojekte im forschungsrelevanten Umfang durchführbar wird.
Josef Seethaler und Gabriele Melischek geben einen Überblick über die Presseentwicklung in Österreich und konstatieren, dass die Reichweite der dortigen Zeitungen schon vor 1918 eher protestantisch geprägten Ländern wie England, den Niederlanden oder den skandinavischen Monarchien ähnelte als den katholischen Staaten Frankreich, Spanien oder Italien. Völlig andere Rahmenbedingungen galten für die Tagespresse der DDR, für die Michael Meyen feststellt, dass trotz der offensichtlichen Lenkung durch die SED vieles erklärungsbedürftig geblieben sei, so z.B. die hohe Zeitungsdichte von 600 Exemplaren pro 1.000 Einwohner in den 1980er Jahren, die doppelt so hoch gelegen habe wie in der Bundesrepublik. Rudolf Stöber reflektiert den Tagungsgegenstand in einem Erfahrungsbericht über Entstehung und Rezeption seines Buches "Mediengeschichte" (2003) ebenso wie Jürgen Wilke über seine "Medien- und Kommunikationsgeschichte" (2000). Den Schlusspunkt setzen die vier Betreiber einer digitalen Erfassung der deutschsprachigen Presse in Ungarn, Ágoston Zénó Bernád, Katalin Blaskó, Andrea Seidler und Wolfram Seidler. Sie werten 6.000 Frakturseiten aus, wobei sie die Frühphase des ungarischen Pressewesens erfassen, das sich seit den 1760er Jahren der deutschen Sprache bediente. Durch ein Transskriptionsprogramm soll nicht nur der Volltext digital aufbereitet werden, sondern auch ein Personen-, Werk-, Orts- und Sachverzeichnis entstehen.
Die Bilanz von 50 Jahren neuer Presseforschung kann sich sehen lassen: Die Last der älteren Zeitungsgeschichte, die oft der Gefahr der politischen Indienstnahme nicht entging, ist abgeschüttelt, die europäische Zusammenarbeit hat die Vorreiterrolle der Medienproduzenten im frühmodernen Alten Reich vielfach bestätigt, aber auch den europaweiten - und unter kolonialer Perspektive weltweiten - Fokus der Berichterstattung erhärtet. Durch die Einordnung in die neuere Kulturgeschichtsschreibung hat die Erforschung des Zeitungswesens eine Doppelstruktur angenommen, die nicht nur in den Inhalten der Blätter besteht, sondern immer neue Details über die Produzenten einerseits und die Rezipienten andererseits zutage fördert. Die Perspektiven für die kommenden 50 Jahre sind günstig: Zwar werden die Intelligenzblätter, nicht zuletzt durch die Arbeiten der Herausgeberin, demnächst monographisch behandelt, doch das ausdifferenzierte Feld der Zeitschriften im späten 17. und im 18. Jahrhundert weist immer noch große weiße Flecken auf, die der Inspektion harren.
Johannes Arndt