Holger Böning: Der Musiker und Komponist Johann Mattheson als Hamburger Publizist. Studie zu den Anfängen der Moralischen Wochenschriften und der deutschen Musikpublizistik (= Presse und Geschichte - Neue Beiträge; Bd. 50), Bremen: edition lumière 2011, 523 S., ISBN 978-3-934686-75-5, EUR 44,80
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Johann Mattheson, der zu Lebzeiten berühmte, streitbare und gefürchtete "Musikpapst" des Nordens, gibt trotz zunehmenden Interesses der musikwissenschaftlichen Forschung hinsichtlich seiner vielfältigen Aktivitäten nach wie vor Rätsel auf. Zu Recht gelten seine zahlreichen und vielgestaltigen Schriften als unverzichtbare Quelle für die Kenntnis der Musikanschauung des 18. Jahrhunderts, doch steht eine Gesamtwürdigung des ungeheuer vielseitigen Geistes noch immer aus, und selbst die (eben nicht nur auf Musik bezogene) publizistische Arbeit war bisher nur in Ausschnitten Gegenstand des wissenschaftlichen Nachdenkens - dass Holger Böning sich der komplexen Aufgabe gestellt hat, ist daher sehr zu begrüßen. Und - dies sei vorweggenommen - es ist zudem sehr erfreulich, dass nun endlich der lange Zeit als verschollen beklagte, mittlerweile zum großen Teil in der Hamburger Staats- und Universitätsbibliothek verwahrte Nachlass Matthesons vom Verfasser für sein Buch herangezogen wurde.
Der Inhalt des umfassenden Werks lässt beim ersten Hinsehen keinen Aspekt vermissen: Ausführlich wendet sich Böning der Vita zu, schildert unter Einbeziehung zahlreicher Erkenntnisse auch aus der Tagespresse die Hamburger Presselandschaft im frühen 18. Jahrhundert, wobei insbesondere "Der Vernünfftler" in seinem Einfluss auf Mattheson hervorgehoben wird, und geht anschließend auf dessen eigene periodische Veröffentlichungen wie auch auf ihre komplexen und kulturgeschichtlich überaus interessanten Rahmenbedingungen ein. Mit Hilfe von Quellen aus dem Mattheson-Nachlass gelingt es Böning auch, Fehldeutungen in der Forschungsliteratur zu korrigieren (etwa das angebliche Zensurverbot des "Vernünfftlers" betreffend). Neben der ausgesprochenen Pioniertat "Critica Musica" ist das Augenmerk weiterhin unter vielfältigen Fragestellungen auch auf die weniger beachteten Zeitschriften "Der Musicalische Patriot" und "Plus Ultra" gerichtet sowie, den musikhistorischen Rahmen überschreitend, auf die "Gros-Britannischen Denkwürdigkeiten", die trotz ihres frühen Scheiterns einen Meilenstein in der Pressegeschichte darstellen. Ein "kleines Fazit" (so im Inhaltsverzeichnis - die Kapitelüberschrift verzichtet auf die Verkleinerung) schließt den Text ab und umreißt noch einmal Matthesons Stellung im Geistesleben seiner Zeit sowie die Wirkung der "Schärfe und Unbedingtheit seiner Kritik" (487). Umfangreiche Verzeichnisse der Quellen und der Forschungsliteratur sowie ein Register schließen das Werk ab.
Gewiss - Bönings Buch ist willkommen, und sei es nur in Anbetracht der bisher überschaubaren Mattheson-Literatur. Es ist umso mehr willkommen, als der Autor eine Fülle bisher nicht beachteten Quellenmaterials (neben dem genannten Nachlass beispielsweise auch die Hamburger Domprotokolle) zutage fördert. Nur drängt sich die Frage auf, für wen es eigentlich geschrieben wurde und wie man (sei es als Literatur- oder Musikwissenschaftler oder aber als Liebhaber historischer Stoffe) es benutzen soll: Als Nachschlagewerk scheidet es aus - das Register ist unvollständig und fehlerhaft, das Inhaltsverzeichnis erschließt nur unzureichend, was sich hinter den Kapitelüberschriften im Einzelnen verbirgt, ein auch nur grober Überblick über den Inhalt der ausführlich behandelten Zeitschriften fehlt, und die vielen, an sich spannenden Funde und Beobachtungen gehen in einem breiten, mitunter ausufernden Erzählton schlicht und einfach unter. Als "Lesebuch" mag es hinreichen, wenn man in bestimmten Punkten keine oder nur geringe Ansprüche stellt - es erfolgte offenbar keine Endkorrektur, die, abgesehen von nicht wenigen Tippfehlern im Text, vor allem die beträchtliche Menge an Inkonsequenzen im Anmerkungsapparat und auch im Quellenverzeichnis hätte beseitigen müssen, die Abbildungen sind (abgesehen davon, dass ihre Beziehung zum Text nicht immer klar ist) von sehr unterschiedlicher, teils kaum zumutbarer Qualität, die Legenden lassen sich in ihrem Sinn bisweilen nur schwer entschlüsseln. Hinzu kommen methodische und inhaltliche Mängel: Im Zusammenhang mit der Erwähnung von Matthesons musikalischen Zeitgenossen (etwa Hanff, Kusser, Buttstedt, Rosenmüller) nicht auf die neue Auflage der einfach unumgänglichen Enzyklopädie Die Musik in Geschichte und Gegenwart zu verweisen, sondern das Deutsche Biographische Archiv oder die Allgemeine Deutsche Biographie (mit Forschungsstand 1876!) als Referenz zu benennen (und damit wissenschaftliche Defizite stillschweigend in Kauf zu nehmen) ist durch nichts zu begründen und unter keinen Umständen zu akzeptieren. Ähnliches gilt für die Heranziehung von CD-Booklets (!) für den Nachweis eines auf Johann Sebastian Bach bezogenen Zitats aus einer Schrift (ausgerechnet) Matthesons (72, Anmerkung 141; 96, Anmerkung 216), das bei der an sich selbstverständlichen Konsultierung einschlägiger Quellenwerke auch ihren alles andere als unwichtigen Zusammenhang offenbart hätte (der Text findet sich übrigens in Matthesons "Philologisches Tresespiel", 1752). Mag man hierbei noch von handwerklichen Unzulänglichkeiten sprechen, so ist die Subsumierung von Telemanns "Harmonischer Gottesdienst" und "Der getreue Musikmeister" unter die von Matthesons "Critica Musica" ausgehenden Zeitschriften sachlich so nicht haltbar - es handelt sich um periodisch erschienene Notenausgaben (freilich mit erläuternden Texten), und die hierbei zu berücksichtigende Geschichte bedürfte einer sehr viel umfassenderen Herleitung. Dass die genannten Punkte das Vertrauen in das vorliegende Werk nicht gerade befördern, kann leider nicht verschwiegen werden.
Gerade weil die in jeder Hinsicht verständliche Faszination für den Gegenstand, von der der Verfasser im Vorwort spricht, sehr umfangreiche und in ihrer Art bisher nicht annähernd unternommene Quellenstudien im Nachlass Matthesons und innerhalb der Hamburger Presse herbeiführte, auf deren Ergebnisse man allenthalben stößt, wäre dem Buch neben einer besseren Benutzbarkeit auch eine plausiblere Gewichtung der einzelnen Betrachtungsgegenstände zu wünschen gewesen: Warum im Blick auf die "Critica Musica" nur der "Fall Murschhauser" einer eingehenden Besprechung gewürdigt wird, während alles andere unter "Was sonst noch in der Critica Musica zu lesen war" (... warum eigentlich "war"?) zusammengedrängt ist, entzieht sich ebenso der Nachvollziehbarkeit wie die Tatsache, dass der Konflikt mit Gottsched sich am Ende des Textes in einem Kapitel über "weitere publizistische Tätigkeit" findet.
Trotz allem - wer sich mit Mattheson, der Geschichte der musikalischen Publizistik und dem Musikleben Hamburgs im 18. Jahrhundert befasst, wird zu Holger Bönings Buch greifen müssen. Zwar bedarf die Lektüre nicht unerheblicher Geduld in mancher Hinsicht sehr verständnisvoller Leser, doch verspricht sie beträchtlichen Gewinn, überraschende Erkenntnisse, und sie lädt vor allem auch zu weiterer Befassung mit ihrem Gegenstand und mit verwandten Fragestellungen ein.
Axel Beer