Romedio Schmitz-Esser: Arnold von Brescia im Spiegel von acht Jahrhunderten Rezeption. Ein Beispiel für Europas Umgang mit der mittelalterlichen Geschichte vom Humanismus bis heute (= Geschichte; Bd. 74), Münster / Hamburg / Berlin / London: LIT 2007, 705 S., ISBN 978-3-8258-9469-6, EUR 39,90
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In einer Zeit zunehmender Spezialisierungen auf bestimmte Themen und Ausschnitte - auch innerhalb der einzelnen Großabschnitte der Vergangenheit - droht der Blick auf das Ganze verloren zu gehen. Wer noch Zeit und Gelegenheit findet, das Mittelalter insgesamt zu überschauen, der wird immer wieder überrascht sein vom 12. Jahrhundert. [1] Als ein "ungewöhnliches Jahrhundert" [2] hat man es bezeichnet oder auch als die "echte mittelalterliche Welt". [3] Freilich gibt es auch, das Ende des Säkulums betrachtend, die Einschätzung des Jahrhunderts als "einer Zeit, die aus den Fugen war, einer Zeit der geistigen und politischen Krise, der schwersten wohl des Mittelalters, die den Zusammenbruch des Alten spürte, ohne schon die Formen des Kommenden zu begreifen und sich an sie halten zu können." [4]
Von einem Mann, der sicherlich zu den ungewöhnlichsten Erscheinungen in diesem ungewöhnlichen Jahrhundert zählt, handelt die Dissertation Romedio Schmitz-Essers: Von Arnold von Brescia († 1155), der zunächst Prior eines Augustinerchorherrenstifts in seiner oberitalienischen Heimatstadt gewesen war und dann vom Bischof der Stadt wegen seiner Predigten, in denen er gegen die kirchliche Hierarchie wetterte, ausgewiesen wurde. Der nach Frankreich ging, wo er von Abaelard, dem Starphilosophen der entstehenden Universitätslandschaft im Pariser Becken in die Schule genommen wurde, der auch von dort vertrieben wurde und, auf Umwegen nach Italien zurückkehrend, in der Stadt Rom Anschluss fand an die sogenannte Senatsbewegung. Letztere hatte 1143/44 gegen die päpstliche Stadtherrschaft rebelliert und ein eigenes, antipäpstliches Regiment eingesetzt. In dieser Bewegung wuchs Arnold mehr und mehr in eine Art "Führerrolle" [5] hinein, er verknüpfte seine religiös-reformerischen Gedanken mit den Idealen der römischen Kommunalbewegung, die die Erneuerung der antiken Größe des Römischen Reiches auf ihre Fahnen geschrieben hatte. 1148 belegte ihn der Papst mit dem Bann. Im Rahmen des ersten Italienzuges Friedrich Barbarossas 1155 fiel Arnold in die Hände des Staufers, der ihn dem päpstlichen Stadtpräfekten auslieferte. Arnold wurde gehenkt, sein Leichnam (nach Ketzerart) verbrannt und die Asche, um jeglichen Reliquienkult zu unterbinden, in den Tiber gestreut.
Die unausgesetzte Aktualität der Forderungen Arnolds, die Armut der Kirche betreffend, versteht Schmitz-Esser gleich zu Beginn seines Buches deutlich zu machen. "Das ist ja wie bei Bossi!" (XI), entgegnete der römische Taxifahrer, nachdem der Autor ihm sein Forschungsthema mitgeteilt hatte. Und so schlägt Schmitz-Esser die Brücke zwischen dem historischen Arnold, der Person des 12. Jahrhunderts, und dem, was ihn eigentlich als Kernfragen interessiert: Sein Nachleben, die Rezeption der Gestalt. Wie nahm man das Leben und Wirken Arnolds in den Jahrhunderten nach seinem Tod auf? Welchen Bewegungen wurde er zugeordnet und wie und für welche Zwecke bemühte man ihn?
Das Buch ist in 15 umfangreiche Abschnitte unterteilt. Der erste Abschnitt ist mit "Rezeptionsgeschichte und ihre Methodik - Zum Einstieg in die Arbeit" überschrieben (13-28). Der zweite Abschnitt, betitelt mit "Der historische Arnold von Brescia und die Schwierigkeiten seiner Rekonstruktion", ist eine mit den Methoden der Quellenkritik erarbeitete historische Studie über die Hauptfigur, vornehmlich anhand zeitgenössischen Quellenmaterials (29-56).
Mit dem dritten Abschnitt beginnt das eigentliche Thema des Buches, die Geschichte der Rezeption Arnolds, deren erstes Kapitel "Eine Vorlage für die Reformation - Arnoldrezeption im Italien der Renaissance" lautet (57-64). Diesem Schema folgt das gesamte Buch. Hauptsächlich entlang eines chronologischen Fadens, der sich (wie gerade gesehen) von der Renaissance bis in die Gegenwart zieht, wird Epoche für Epoche im Einzelnen durchgemustert und nach ihren Meinungen zu Arnold befragt, die, neben den Einschätzungen, Erläuterungen und Kommentierungen von Schmitz-Esser, nicht selten in ausführlichen wörtlichen Zitaten wiedergegeben werden. Ein Fazit des Buches ist die Feststellung einer "Erfindung" Arnolds durch die Katholiken; der originelle Gedanke wird plausibel begründet. Mit der Konstatierung des "Paradoxons Scherenbewegung" (626) - den verbesserten Informationsmöglichkeiten der Gegenwart stehe die Persistenz längst überholter Rezeptionsmuster entgegen - und dem aus der modernen wissenschaftlichen Dekonstruktion erwachsenen Hinweis auf die Sonderrolle Arnolds in der Häresiegeschichte (religiöses und gleichermaßen politisches Wirken) endet die Darstellung, die durch ein Quellen- und Literaturverzeichnis, einen Quellen- und Bildanhang sowie einen Personenindex vervollständigt wird.
Schmitz-Esser hat eine gewaltige, schon in ihrem schieren Umfang kaum übersehbare Stoffmasse zusammengetragen, sie planvoll organisiert und der interessierten Leserschaft wie dem wissenschaftlichen Rezipientenkreis verständlich präsentiert. Sein Ausgangsgedanke, dass die Geschichte der Rezeption eines historischen Gegenstandes oder einer historischen Figur für denjenigen, der sich um historisches Verständnis bemüht, mindestens ebenso aufschlussreich und erhellend ist wie dieser Gegenstand selbst, teilt sich dem Leser und der Leserin auf überzeugende Weise mit. Die Hauptschwierigkeit einer jeden Rezeptionsgeschichte, die Tatsache, dass sich ihr Erforscher ebenso sehr mit dem historischen Subjekt als solchem wie mit den Objekten der Rezeption, das heißt im vorliegenden Fall ebenso sehr mit dem Mittelalter wie mit der Neuzeit und der Gegenwart auskennen muss, hat Schmitz-Esser auf eine bemerkenswerte Weise in den Griff bekommen.
Das Buch lebt von seiner Genauigkeit, von der Detailversessenheit des Verfassers, der auch das Einsammeln des Abseitigen, ja zuweilen auch Banalen - wie die "Marmelade Arnold von Brescia" (613) - nicht scheut; es ist somit eine Fundgrube für jeden, der sich mit der Figur und den vielfältigen Facetten seiner Rezeption beschäftigt. Natürlich wird man die Frage stellen können, inwiefern für den Beweisgang die Totalität der Erfassung wirklich notwendig war und ob nicht eine stärker typisierende Darstellungsweise - so wie sie im Kapitel über die Orte des Gedenkens im geeinten Italien eindrucksvoll gelingt - noch erhellender hätte sein können. Auch wird es immer schwierig sein, die wirkliche Qualität eines "Beispiels" zu ermessen, wenn man die anderen, ähnlich oder vergleichbar liegenden Fälle nicht kennt - oder zumindest nicht so genau kennt. Und insofern bleibt hier - auch was die grundsätzliche Frage der Rezeption historischer Stoffe durch Historiker und Historikerinnen, ihre Gegenstände, hermeneutischen Grundlagen, Methoden und Parameter allgemein anbelangt - noch viel für die Wissenschaft zu tun. [6] Hier anhand einer faszinierenden Gestalt des Hochmittelalters eine erste, wichtige Schneise geschlagen zu haben, darin liegt der Wert des Buches von Schmitz-Esser.
Anmerkungen:
[1] Der Begriff sei hier nicht in einem einfachen Sinne als Zentenarium verstanden, sondern als eine aufgrund inhaltlicher Kriterien einzugrenzende Epoche, die vom Ersten Kreuzzug 1096-1099 auf der einen, vom IV. Laterankonzil 1215 auf der anderen Seite umrahmt ist.
[2] Arnold Esch: Die Anfänge der Universität im Mittelalter, in: Ders.: Zeitalter und Menschenalter. Der Historiker und die Erfahrung vergangener Gegenwart, München 1994, 93-114, hier 99.
[3] Hermann Heimpel: Über die Epochen der mittelalterlichen Geschichte, in: Ders.: Der Mensch in seiner Gegenwart. Acht historische Essais, zweite, erweiterte Auflage, Göttingen 1957, 42-66, hier 64.
[4] Peter Wapnewski: Rüdigers Schild. Zur 37. Aventiure des Nibelungenliedes, in: Peter Wapnewski: Zuschreibungen. Gesammelte Schriften (= Spolia Berolinensia; 4), hg. von Fritz Wagner / Wolfgang Maaz, Hildesheim / Zürich 1994, 41-71, hier 71.
[5] Horst Fuhrmann: Deutsche Geschichte im hohen Mittelalter, 4. Auflage, Göttingen 2003, 145.
[6] Vgl. Hubert Zapf: Art. Rezeptionsgeschichte, in: üMetzler Lexikon. Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze - Personen - Grundbegriffe, hg. von Ansgar Nünning, vierte, aktualisierte Auflage, Stuttgart / Weimar 2008, 623-625.
Jörg Schwarz