Gertrud Koch / Christiane Voss (Hgg.): "Es ist als ob". Fiktionalität in Philosophie, Film- und Medienwissenschaft, München: Wilhelm Fink 2009, 187 S., ISBN 978-3-7705-4511-7, EUR 29,90
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In der Filmtheorie der 1960er- bis 1980er-Jahre herrschte großes Misstrauen gegen jegliche Form von Illusionsbildung vor - anknüpfend an Bertolt Brecht und andere explizit politische Positionen waren die Kampfbegriffe bei Laura Mulvey, Stephen Heath, Colin MacCabe und anderen Vertretern der sogenannten Screen Theory Distanzierung, Verfremdung und die Zerstörung des Vergnügens als politische Waffe. In den letzten zwanzig Jahren hat sich diese grundlegend negative Bewertung nach und nach in eine Wertschätzung verwandelt, die sich auch im gesteigerten Interesse an Begriffen wie Illusion, Immersion oder Fiktionalität manifestiert. Die offen kritisch-distanzierend auftretenden Positionen wurden abgelöst durch die Theorien von Gilles Deleuze, Stanley Cavell oder Vivian Sobchack, die nicht länger von einem ganz grundsätzlichen Abstand zwischen Zuschauer und Film ausgehen, der normativ gesetzt wird oder den es zu erreichen gilt, sondern die dem Film auf je eigene Weise nahekommen, sich ihn einverleiben oder selbst wiederum von ihm einverleibt werden. Der vorliegende Band nun, dessen Beiträge auf eine Tagung am Sonderforschungsbereich 626 (Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste, Teilprojekt "Zur Bedeutung der Illusion und Fiktion in der Ästhetik und Filmästhetik", FU Berlin) zurückgehen, schlägt in eben diese Kerbe und nähert sich vor allem aus philosophischer Perspektive diesem Feld an, auch wenn die Filmtheorie der implizite Fokus der Anthologie bleibt.
Die Beiträge umkreisen allesamt die Frage nach der ästhetischen Rolle und spezifischen Funktion der Illusion in Kunst und Medien, wie die Herausgeberinnen umreißen: "Was genau erfahren wir, wenn wir etwas Fiktives ästhetisch erfahren? Inwiefern ist Fiktionalität selbst erfahrungsabhängig? Welche Typen von 'Fiktion' sind zu unterscheiden? Und ist mit jeder Fiktionsbildung der Entwurf einer Welt verbunden? Wie ist der Unterschied zwischen einem medienspezifischen ästhetischen Erfahrungsmodus und einem nichtästhetischen Erfahrungsmodus 'des Fiktiven' zu begreifen?" (7). Es geht also zentral um Fragen der ästhetischen Erfahrung, aber auch um philosophische Begriffs- und Kategorienbildung wie auch um die Unterscheidungskriterien und die Weltbezüge, die Fiktionalität benötigen, erzeugen und vertiefen. Ebenso wie die Ontologie spielt die Epistemologie und Pragmatik der Schwelle zwischen Realität und Fiktion eine Rolle.
"Es ist ebenso schwer, den Begriff von Fiktion formal zu definieren, wie es leicht ist, ihn intuitiv zu verstehen." (69) Mit diesem Satz beginnt Marie Laure Ryan ihren erhellenden Essay, den man auch als Motto dem Buch insgesamt hätte voranstellen können. In der Tat umkreisen die unterschiedlichen Beiträge immer wieder eine Reihe von Positionen, die wiederholt auftauchen, etwa Wolfgang Isers Begriff von Fiktion, der zwischen dem Realen und dem Imaginären vermittelt, Kendall Waltons Vorstellung von der Mimesis als make-believe oder John Searles und Gregory Curries Überlegungen im weiteren Kontext der Sprechakttheorie. Daraus entsteht ein enger Diskussionszusammenhang, der allerdings eher philosophisch als medienwissenschaftlich oder filmtheoretisch geprägt ist, eher von prinzipiellen Überlegungen ausgeht als an spezifischen medialen Artefakten interessiert ist.
Doch nicht nur bestimmte philosophische Positionen kommen zur Sprache, auch bestimmte mediale Phänomene tauchen wiederholt auf, wie etwa die unscharfe Trennlinie zwischen Dokumentar- und Spielfilm, die bei Gertrud Koch zu der grundsätzlichen Frage nach der Natur der Fiktionalität Anlass gibt: "Müssen Objekte als ganze fiktiv sein oder können sie dies nur in bestimmten Hinsichten sein [...]?" (140). Bei Vinzenz Hediger wird die ontologische Verunsicherung, die diese unscharfe Grenze erzeugt, filmhistorisch ausgebaut in Hinblick auf die Herausbildung des Genresystems in den 1920er-Jahren, als der Dokumentarfilm als eigenständige Gattung noch nicht existierte, sondern quasi amphibisch in allerlei Filmformen vorkam.
Tatsächlich ist die unscharfe Trennlinie zwischen Fiktion und Wirklichkeit - anders gesagt: die Übergangszone zwischen zwei Welten oder das Verhältnis von Innen und Außen bezogen auf Zuschauer und Film - auch Thema zahlreicher Filme. Dass solche Filme hier nicht eingehend diskutiert werden, ist sicher beabsichtigt, aber dennoch scheint mir, dass Filme von Luis Buñuel, Fritz Lang oder Otto Preminger bis hin zu Christopher Nolan, David Lynch, David Cronenberg oder M. Night Shyamalan auch dieser Thematik geholfen hätten. Gerade da diese Filme mit solchen Etiketten wie "unzuverlässiges Erzählen" allzu oft auf narratologische Fragestellungen reduziert werden, hätte eine solche Wendung neue Erkenntnisse ans Licht fördern können.
Insgesamt bietet der Band, dem ein Register gut getan hätte, einen guten Überblick der aktuellen Positionen und Debatten in der Philosophie und in der Filmwissenschaft, auch wenn man sich gelegentlich einen stärkeren Bezug auf einzelne Filme gewünscht hätte. Als Einstieg in dieses Themenfeld und als Eröffnung eines Horizontes für ein Teilgebiet der Kunst- und Medienästhetik eignet er sich allemal.
Malte Hagener