Hartmut Kaelble: Der verkannte Bürger. Eine andere Geschichte der europäischen Integration seit 1950, Frankfurt/M.: Campus 2019, 168 S., ISBN 978-3-593-51034-7, EUR 24,95
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Martin Kirsch / Anne G. Kosfeld / Pierangelo Schiera (Hgg.): Der Verfassungsstaat vor der Herausforderung der Massengesellschaft. Konstitutionalismus um 1900 im europäischen Vergleich, Berlin: Duncker & Humblot 2002
Wolfram Kaiser: Christian Democracy and the Origins of European Union, Cambridge: Cambridge University Press 2007
Patrick Bredebach: Das richtige Europa schaffen. Europa als Konkurrenzthema zwischen Sozial- und Christdemokraten. Deutschland und Italien von 1945 bis 1963 im Vergleich, Göttingen: V&R unipress 2013
Jean-Paul Cahn / Hartmut Kaelble (Hgg.): Religion und Laizität in Frankreich und Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert / Religions et laicité en France et en Allemagne aux 19e et 20e siècles, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2008
Hartmut Kaelble / Martin Kirsch / Alexander Schmidt-Gernig (Hgg.): Transnationale Öffentlichkeiten und Identitäten im 20. Jahrhundert, Frankfurt/M.: Campus 2002
Arnd Bauerkämper / Hartmut Kaelble (Hgg.): Gesellschaft in der europäischen Integration seit den 1950er Jahren. Migration - Konsum - Sozialpolitik - Repräsentationen, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2012
Die Europäische Integration gilt in weiten Teilen der medialen Öffentlichkeit und der Wissenschaft als Elitenprojekt. Es seien, so die gängige These, ökonomische, politische und kulturelle Eliten gewesen, die das Projekt "Europa" aus verschiedenen Interessen vorangetrieben hätten. Die breite Öffentlichkeit sei hingegen lange Zeit nicht involviert worden, sie habe den Prozess zwischen 1950 und den 1990er Jahren in einem "permissive consensus" akzeptiert. Damit war gemeint, dass die Bürger der europäischen Staaten den Prozess nicht aktiv unterstützt, sondern vielmehr hingenommen hätten. Es gab keine Unterstützung für die Europäische Integration, aber auch keine Opposition. In den 1990er Jahren, so die These weiter, sei dieser "permissive consensus" an sein Ende gekommen, seither habe sich schrittweise stärker werdender Widerstand gegen die Europäische Integration formiert. Der Brexit und der Aufstieg europaskeptischer Bewegungen in den verschiedenen Mitgliedstaaten seien die vorläufige Konsequenz dieser Entwicklung.
Das neueste Buch des Berliner Sozialhistorikers Hartmut Kaelble stellt diese These grundsätzlich in Frage. Die europäischen Bürger, so argumentiert er, seien weder passiv gewesen noch hätten sie in den letzten Jahrzehnten eine zunehmende Skepsis zur Europäischen Integration entwickelt. Im Gegenteil, so Kaelble, die europäischen Bürger hätten das europäische Projekt von Beginn an aktiv begleitet, wenn auch in einer ganz anderen Weise als bisher gedacht. In vier Kapiteln untersucht der Autor die Beziehungen zwischen der Europäischen Union und ihren Vorgängerorganisationen zu den europäischen Bürgern.
Das erste Kapitel analysiert die "Versprechen" der europäischen Organisationen an die Bürger. In den 1950er Jahren gab es zwei wesentliche Ziele der Europäischen Integration: Innereuropäischer Frieden und wirtschaftlicher Wohlstand. Beides, so Kaelble, wurde bis in die 1960er Jahre hinein erfüllt. In den 1970er Jahren allerdings weiteten sich die Versprechen der Gemeinschaft aus. Nun ging es auch um eine stärkere demokratische Partizipation der Bürger, um soziale Sicherheit und den Abbau der Arbeitslosigkeit. Diese zusätzlichen Ziele seien erst seit der Mitte der 1990er Jahre zögerlich umgesetzt worden. Mit der Finanzmarkt- und Staatsverschuldungskrise und ihren Folgen aber hätte die EU diese Versprechungen nicht mehr einlösen können.
Das Vertrauen der Bürger in die Europäische Integration ist Thema des zweiten Kapitels. Hier kann der Autor zeigen, dass dieses nicht kontinuierlich sank, wie oft suggeriert wird. Die Meinungsumfragen zeigen vielmehr, dass das Vertrauen der Menschen in die europäischen Organisationen wechselte. Krisen gab es in den 1950er und 1970er Jahren sowie nach der Staatsverschuldungskrise zwischen 2008 und 2012. Dazwischen stieg das Vertrauen der Bürger jeweils wieder an. Typisch ist also ein Auf und Ab des Vertrauens in die europäischen Organisationen.
Welche Erwartungen hatten die europäischen Bürger an die Europäischen Organisationen? Dies ist die Leitfrage des dritten Kapitels. Hier kann der Autor zeigen, dass die These vom "permissive consensus" unzutreffend ist. Die europäischen Bürger hatten zu verschiedenen Zeiten unterschiedliche Erwartungen an die Gemeinschaft. "Europa", so wird hier deutlich, war oft eine Projektionsfläche für nicht erfüllte politische Wünsche, insbesondere in den Bereichen der Außen-, Wirtschafts- und Sozialpolitik, aber seit den 1980er Jahren auch im Sektor der Umweltpolitik. Allzu oft konnten diese Erwartungen nicht erfüllt werden, weil wichtige Teile dieser Politikfelder nicht in die Kompetenzen der Europäischen Gemeinschaft fallen.
Schließlich fragt Kaelble nach dem Engagement der Bürger für Europa. Eine eher passive Zustimmung gab es allenfalls in den 1950er Jahren. Spätestens seit den 1970er Jahren, so zeigt er, beteiligten sich große Teile der europäischen Bürgerschaft einerseits durch Wahlen zum Europäischen Parlament, andererseits durch zahlreiche Referenden, Interessenverbände und Anfragen an der Europäischen Gemeinschaft/Union.
Als Hauptquelle der Argumentation dienen die durch Eurobarometer erhobenen Meinungsumfragen. Der Autor ist sich völlig darüber im Klaren, dass diese Quelle nicht unproblematisch ist, weil sie von den Europäischen Organisationen selbst erhoben und publiziert wird. Dennoch lassen die Umfragen Aussagen zu, und es ist das Verdienst von Kaelble diese Quelle, die bislang von der Geschichtswissenschaft kaum genutzt wurde, erschlossen zu haben. Etwas schwach bleibt die Kontextualisierung der Umfrage-Ergebnisse. Der Verfasser verweist immer auf die allgemeine wirtschaftliche und politische Situation Europas zum Zeitpunkt der Umfrage. Hier wäre gewiss eine differenziertere Kontextualisierung und Interpretation möglich gewesen. "Diese Geschichte der europäischen Integration der Bürger ist noch lange nicht geschrieben", resümiert der Autor selbst. Das stimmt, aber ein erster überzeugender Schritt hierzu ist gemacht worden.
Guido Thiemeyer